Schweitzer Fachinformationen
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Peter Stadelmann war kerngesund, als er starb.
Der Handelsreisende sprach einen Dialekt aus der Ostschweiz. Das hellbraune Haar hatte er sich zum Bürstenschnitt stutzen lassen, der das vorstehende Kinn betonte und das Zurückweichen des Haaransatzes tarnte. Da Radio Beromünster für den Abend Regen angesagt hatte, schnürte er sich die Halbschuhe mit den Gummisohlen. Für die Fahrt nach Baden hatte er sich eine Krawatte mit feinen waagerechten Streifen umgebunden. Sie passte zum blaugrün diagonal gemusterten Zweireiher, den er stets samstags anzog. Für ihn war der Samstag so heilig wie für andere der Sonntag. Der Tag, an dem er in der Kirche zu Gott betete und bis zum Sonnenuntergang nicht arbeitete. Über dem gepressten weissen Hemd trug er, kaum sichtbar, eine gestrickte ärmellose Weste. Anhand dieses gelben Gilets sollte sein Vermieter den Leichnam Stadelmanns identifizieren.
Die Nacht war in Aarau bereits angebrochen, als Stadelmann gemeinsam mit Fräulein Kaminski* um 18.26 Uhr den Schnellzug nach Zürich bestieg. Sie setzten sich in die 2. Klasse, Nichtraucher, teilten sich ein Viererabteil, ausgestattet mit harten Bänken. Vor gut einem Jahr, im Juni 1956, hatten die Bundesbahnen die 3. Klasse aufgehoben, die Holzklasse, wie sie alle nannten. Noch aber waren 88 Prozent der Sitze hölzern und somit hart.
Beide gehörten derselben Freikirche an wie Stadelmanns Vermieter. Am Nachmittag hatten sie zu dritt einen Tomatensalat gegessen und waren danach von Rohr über Buchs zum Bahnhofplatz nach Aarau spaziert, vorbei an Ahornbäumen, deren Blätter verschrumpelt am Boden lagen. Jene, die noch an den Ästen hingen, waren gelblich gefärbt. Glocken läuteten das Wochenende ein. Es war kühl, der Duft des Sommers verflogen. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf, bald würde es regnen.
Fräulein Kaminski reiste nach Zürich, wo sie in Oerlikon in den Räumen des Adventsverlags das Konzert einer Jugendgruppe der Siebenten-Tags-Adventisten besuchen wollte. Warum Stadelmann nach Baden fuhr, erzählte er ihr nicht. Das wusste allein sein Vermieter.
Stadelmann trug 4100 Franken in bar in einem Portemonnaie bei sich, das in der linken Kitteltasche steckte, zusammen mit dem Generalabonnement der SBB und dem Führerschein. Am Schalter der Bankgesellschaft hatte er am Vortag druckfrische Geldscheine erhalten, welche die Nationalbank erst vor wenigen Monaten in Umlauf gebracht hatte: drei Tausendernoten, einen Fünfhunderter sowie sechs Hunderter, wovon drei der neuen Serie entstammten.
Im Zug sprach Stadelmann wenig. Die deutsche Schwesternhilfe erzählte ihm vom Alltag in der Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden. Von neuartigen Pillen, mit denen Psychiater in Windisch ihre Patienten ruhigstellen würden, von Spaziergängen in der Parkanlage, wo römische Legionäre einst ihr Lager aufgeschlagen hatten, von den mächtigen Bäumen, die ihr an heissen Sommertagen Schatten spenden würden. Neben ihm auf der Sitzbank lag eine braune Reissverschlussmappe aus Kunstleder. Darin versorgt hatte Stadelmann das Kursbuch und die neuste Ausgabe des . An Mappe und Zeitung würde ihn die unbekannte Frau erkennen, die er am Bahnhof in Baden treffen und zu einem fast fabrikneuen Opel Rekord begleiten sollte. Mit dem Geld im Kittel würde er das Auto kaufen und damit zurück nach Aarau fahren.
Gelesen hatte er das Blatt am Morgen in der Wohnung, die er seit drei Jahren mietete. In Rohr, dem Dorf bei Aarau, durch das vor knapp 2000 Jahren die alte Römerstrasse verlaufen war, und wo nun zweistöckige Einfamilienhäuser die alten Riegelhäuser verdrängten. «Unbeirrbar zieht Sputnik seine Bahnen um die Erde», begann der Leitartikel auf Seite eins der Zeitung vom 19. Oktober 1957. «Er ist längst keine Sensation mehr. Wie bei einem Sechstagerennen stellt man täglich bloss noch die Zahl der zurückgelegten Runden fest.» Vor 15 Tagen, am 4. Oktober, hatten sowjetische Ingenieure den ersten Erdsatelliten ins All geschossen. Sputnik, der Trabant der Erde, der Weggefährte. Eine mit vier Antennen bestückte Alu-Kugel, 58 Zentimeter Durchmesser und 83 Kilogramm Gewicht. Damit setzte die Menschheit zum Sprung zu den Sternen an.
Viel mehr als Pieps machen konnte der Satellit nicht. Aber für Amerika und Westeuropa war die Entsendung Sputniks ein Schock, eine Schmach. Sputnik nagte am Selbstbewusstsein. Der kommunistische Osten hatte den freien Westen im Wettlauf um den Eintritt ins All geschlagen und in Angst versetzt. Was, wenn die Roten ihre Raketen mit Atomsprengköpfen versähen? Würden sie London erreichen? New York? Paris? Dem Westen den nuklearen Winter bescheren?
Noch war der Krieg kalt. Aber zwischen Ost und West konnte er sich jederzeit entzünden, las Stadelmann in der Zeitung. «Bonn bricht mit Belgrad», titelte das in derselben Ausgabe. Die Regierung der BRD hatte sich am Vorabend entschieden, die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien abzubrechen, da Marschall Tito drei Tage zuvor die Obrigkeit in Ostberlin anerkannt hatte.
An der Schweiz zog der Kalte Krieg vorbei, wie schon das Grauen des grossen Krieges, der vor zwölf Jahren mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geendet hatte. Während Westeuropa sich erst allmählich aufrappelte, brummte die Schweizer Wirtschaft. In den ersten drei Quartalen von 1957 wurden in Basel 4 410 364 Tonnen Güter umgeschlagen, so viel wie nie zuvor. Die Uhrenbranche vermeldete Umsatzrekorde. Stelleninserate füllten die Zeitungen. Gesucht wurden: Monteure, Elektriker, Verkäuferinnen, Hauswarte. Man gönnte sich was. Wernli bot im für zwölf Franken einen Ausflug im Car an die Olma nach St. Gallen an. Die in Seon lud zur Metzgete, Samstag- und Sonntagabend, mit «prima Blut-?, Leber- u. Bratwürsten», dazu «Sauser im Stadium».
Stadelmann hatte die Gedanken woanders, als der Zug entlang der Aare fuhr, in Brugg hielt, die Reuss überquerte, zuletzt der Limmat folgte und in Baden ankam. Eine Fahrt durch das Schweizer Wasserschloss, wo drei Flüsse zusammenfliessen, bevor sie in den Rhein münden. In dieser verworrenen Delta-Landschaft finden sich Ortskundige zurecht, viele Fremde aber verirren sich.
Schon bald würde der Vertreter günstig ein gutes Auto kaufen und es zu einem besseren Preis wieder verkaufen. Am 16. Oktober hatte er das Inserat in der Zeitung gesehen, die er täglich las. Ein Druckfehler fiel ihm auf. Der Schriftsetzer hatte ein kleines «k» falsch platziert:
Infolge Auswanderung
sofort zu verkaufen
Opel-Rkeord
neuwertig. Preis Fran-
ken 4000.-. Nur gegen bar.
Eilofferten an Chiffre
A 41 810 T an Orell-
Füssli-Annoncen, Aarau
Stadelmann sah das Inserat, weil er selber eines aufgegeben hatte und im prüfen wollte, ob es erschienen war. Seine Anzeige fand sich unmittelbar neben dem Opel-Inserat:
Günstig zu verkaufen
Mercedes 190
Jahrg. 1956, wenig ge-
fahren.
Anfragen abends, ab 19
Uhr an Tel. (064) 2 47 51
Der Opel Rekord war ein beliebtes Auto, galt als robust und wenig anfällig für Defekte. Das Modell 1957 war mit einem um ein Drittel grösseren Kofferraum ausgestattet als das Auto des Vorjahrs, hatte breitere Sitze und ein neues Instrumentenbrett. Der Opel-Vertreter in Niedergösgen bot es für 8150 Franken an. Stadelmann erkannte im Inserat eine Gelegenheit. Zum halben Preis würde er den Opel Rekord erwerben und ihn bestimmt mit Gewinn abstossen können.
Schaute Stadelmann während der Fahrt aus dem Fenster des Waggons, sah er nebst der Spiegelung des Innenraums in der Dämmerung die Umrisse der hügeligen Ausläufer des Jura, der Wälder und der drei Flüsse, die nach dem trockenen Sommer wenig Wasser führten. An allen Haltestellen zeigten die gleichen Bahnhofsuhren die Zeit an. Vier Jahre zuvor, 1953, hatte ihr Gestalter Hans Hilfiker zu den schwarzen Stunden- und Minutenzeigern den roten Sekundenzeiger hinzugefügt. Er bringe Ruhe in die letzte Minute vor der Abfahrt, erklärte Hilfiker die Neuerung. Die Züge würden deswegen pünktlicher abfahren.
Der Zug nach Baden war verspätet.
Stadelmann stammte aus dem luzernischen Escholzmatt. Er lebte in der Ostschweiz, wo er den dortigen Dialekt annahm, später im Aargau. Nicht weil ihm das Rüebliland besonders gefallen hätte. Es war für seinen Beruf zweckmässig. Rasch erreichte er von Aarau aus die Bauern der Ost- und Westschweiz sowie des Bernbiets. Dort bestellten die meisten Schweizer Bauern Felder, züchteten Schweine und molken Kühe. Eines seiner beiden Autos stand in St. Gallen, das andere in der Romandie. Mit der Bahn reiste er an den betreffenden Bahnhof und fuhr im Wagen zu den Höfen.
Eine gute Zeit war für ihn angebrochen. Die Landwirtschaft erlebte einen technischen Fortschritt. Vierradtraktoren verdrängten Zugpferde, Mähdrescher revolutionierten die Getreideernte. Stadelmann verkaufte das Zubehör und die Maschinen, die Schweizer Bauern wollten.
Der Autokauf in Baden würde bar über die Bühne gehen, was ihm recht war. Er brauchte Bargeld. Damit finanzierte Stadelmann ein Hobby, über das er mit wenigen sprach, schon gar nicht mit...
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