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Kapitel 1
Das Kastagnettengeklapper der Pferdehufe. Das Flirren des Lichts neben den Radspeichen. Der heiße Atem der Stadt, staubiges Kopfsteinpflaster, Essensdünste, Parfumschwaden, gemischt mit kühleren, modrigen Noten aus geöffneten Kellerluken. All das nahm Roman Kaminski überdeutlich wahr. Er ließ die Pferde im Schritt gehen, locker lagen die Leinen in seinen Händen. Von der Herderkirche schlug es sieben Mal. Kaminski hatte keine Eile an diesem Sonntagabend. Es war Vorfreude, die ihn erfüllte, auch Dankbarkeit. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit Laura seinem Leben eine völlig neue Wendung gegeben hatte - ihm, dem scheuen Kutscher und Touristenführer, der so gar kein Talent für Frauen besaß. Noch immer konnte er kaum fassen, dass ihm ein derart unverhofftes Glück widerfahren war.
Laura. In sein wettergegerbtes, vom langen Sommer gezeichnetes Gesicht stahl sich ein Lächeln. Vor seinem inneren Auge sah er sie schon, die Prinzipalin der Wilhelm Meister-Schänke, wie sie mit kluger Besonnenheit die gastronomischen Abläufe lenkte und mit unnachahmlicher Beiläufigkeit an den Geschicken ihrer Gäste teilnahm.
Träge wichen ein paar Touristen der Kutsche aus, ermattet von der Hitze des Tages.
Laura, seine Frau. Darüber konnte er immer noch staunen, so wie über die Tatsache, dass sie gleich nach der Hochzeit zu ihm gezogen war, auf sein halb verfallenes Pferdegestüt. Seitdem hatten sie es halbwegs restauriert oder doch zumindest bewohnbar gemacht. Vor allem das Innere des Gutsgebäudes trug nun eine weibliche Handschrift. Laura hatte die Räume entrümpelt, Wände und Fensterrahmen gestrichen, Bilder ausgesucht. Zum Schluss hatten sie gemeinsam ein neues Bett gekauft.
Das Bett. Kaminski schluckte. Nie würde er ihrer überdrüssig werden, seiner schönen, rätselhaften Frau, nie würde sich die Vibration im Sonnengeflecht legen, wenn sein Blick über ihr spitzbübisches Gesicht wanderte, die kristallblauen Augen, den anmutigen Körper, wenn ihr Blick ihn traf wie ein südlicher Windhauch, der seine Wangen rötete.
Herrje, du bist immer noch so verliebt wie damals, dachte er halb schamhaft, halb belustigt. Falls du je einen Liebesroman schreibst, musst du unbedingt sparsamer mit den schmückenden Adjektiven umgehen und den hohen Ton zurückdrehen. Ist ja kaum auszuhalten, diese Schwärmerei.
Ein abendlicher Sonnenstrahl streifte die Häuserfassaden und warf einen goldenen Widerschein auf die Bogenfenster des WMS, wie die Stammgäste die Schänke nannten. 1890 errichtet, hatte der schmale einstöckige Bau an der Geleitstraße einst als Wintergarten des Hotels Chemnitius gedient. Noch immer ging etwas Heiteres, Spielerisches von ihm aus. Eine Ahnung von Zeiten des gepflegten Müßiggangs, als man nach Weimar pilgerte, um in aller Ruhe durch deutsche Geistesgeschichte zu flanieren. Auch Kafka hatte mit seinem Freund Max Brod in diesem Wintergarten am Tee genippt, zwischen Palmwedeln und livrierten Kellnern.
»Hey, du Penner!« Eine kehlige Mädchenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Denk bloß nicht, ich sag jetzt Papa zu dir!«
Kaminski hielt die Kutsche an.
»Hallo Chantal.«
Da stand sie, seine Adoptivtochter. Mit einer Zigarette zwischen den Fingern und abgerissen wie immer, in einem durchlöcherten ultrakurzen Jeansrock und einem schwarzen Netzhemd, unter dem sich ein winziger pinkfarbener BH abzeichnete. Trotz ihrer sechzehn Jahre hätte man sie für zwölf halten können, so schmächtig war sie. Schmutzig grüne Socken hingen über den ausgetretenen Springerstiefeln. Ihr stoppelkurzes Haar trug sie neuerdings weiß gebleicht.
»Hättste nicht gedacht, dass so ein halb verhungertes Aas wie ich mal deine Tochter wird, was?«
»Vorsicht, Süße, sonst überlege ich es mir anders.«
Sie zeigte Kaminski den Stinkefinger.
»Kannst ruhig weiter Frettchen zu mir sagen, du Wichser.«
Nein, von außen betrachtet konnte man dieses Mädchen wahrlich nicht als Wunschtochter bezeichnen, schräg und aufsässig wie sie war. Genau das mochte Kaminski an ihr. Chantal nahm kein Blatt vor den Mund, doch sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Heute würden sie ihre offizielle Aufnahme in die Familie feiern. Für Kaminski war es eine Herzensangelegenheit gewesen, und Laura hatte ohne Zögern zugestimmt. Auch dafür liebte er seine Frau.
Mit einem Satz sprang er vom Kutschbock. Während er die Pferde zu dem kleinen Brunnen neben der Schänke führte, trat Frettchen ihre Zigarette aus. Nein, nicht Frettchen - sie heißt Chantal, ermahnte er sich. Noch am Abend zuvor hatte ihm Laura eindringlich die Macht der Sprache erklärt: dass Begriffe die Wahrnehmung steuern und Worte die Wirklichkeit erschaffen. Deshalb nahm er sich vor, ab heute nur noch Chantal zu sagen statt Frettchen, auch wenn ihm dieser eigenwillige Spitzname in Fleisch und Blut übergegangen war.
»Wenn du glaubst, dass ich später deinen Rollstuhl schiebe und dir deinen bescheuerten Arsch abwische, dann kannste dir das gleich von der Backe putzen. Kapiert?«, riss Frettchen - nein, Chantal! - ihn aus seinen Überlegungen.
»Wie schön, dass die neuen Familienverhältnisse dich so euphorisieren«, brummte Kaminski. »Sonst noch was?«
»Ja, drinnen ist die Hölle los. Alles voll. Lauter blöde Wichser .«
»Chantal!« Sein Ton wurde scharf. »Arbeite an deiner Ausdrucksweise!«
Sie streckte ihm die Zunge heraus. Dann band sie Wanda und Bismarck an, die freudig schnaubten, und tätschelte ihnen den Hals.
»Okay, ich halt die Klappe. Sweet Laura wartet schon auf dich. Küsschen, Küsschen!«
Geschickt duckte sie sich unter der Peitsche hindurch, mit der Kaminski scherzhaft nach ihr schlug, und verschwand in der Wilhelm Meister-Schänke. Es versprach, ein interessanter Sonntagabend zu werden. An der Klapptafel auf dem Bürgersteig stand »Wegen Familienfeier durchaus geöffnet«. Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern drangen nach draußen, zusammen mit abgerissenen Musikfetzen einer italienischen Melodie: That's amore.
Kaminski summte leise mit. Manchmal schalt er sich einen verliebten Esel, aber das war Selbstironie. Die alte Angewohnheit eines Mannes, der Glück in der Liebe für verlogenen Kitsch gehalten hatte. Bis Laura in sein Leben getreten war.
Sie empfing ihn an der Türschwelle, in einem Etuikleid aus hellblauer Seide, das er besonders mochte, weil es einen aparten Kontrast zu ihrem blonden, straff nach hinten gebundenen Haar bildete. Dazu trug sie pfirsichfarbene Pumps. Sie war fast ungeschminkt und hatte keinen Schmuck angelegt, bis auf den goldenen Ehering. Wie elegant sie wirkte. Wie souverän.
»Mein kleiner Philosoph. Hast dich ja richtig fein gemacht. Weißes Oberhemd, dunkelblaue Hose, sogar anständige Schuhe - alles für Chantal?«
Er berührte ihre Wangen mit den Lippen, sog ihren Duft ein, widerstand der Versuchung, sie an sich zu pressen.
»Alles für dich«, murmelte er, und beide wussten, dass er nicht nur seine Kleidung meinte.
»Dann lass uns reingehen. Die Gäste sind schon da, mit gezückten Handys, versteht sich. Wenn wir die Neuigkeit verkünden, wird sie sofort die Runde machen, via Twitter, Snapchat, Facebook .«
Kaminski stöhnte.
»Snap- was?«
Nacheinander betraten sie den lang gestreckten Schankraum. An den honigfarben gebeizten Paneelen hingen Efeugirlanden, überall standen Vasen mit Sonnenblumen, als hätte Laura den ausklingenden Sommer hereingeholt. Einige der abgeschabten Holztische waren weiß eingedeckt und zu einer festlichen Tafel zusammengeschoben worden.
Während Kaminski auf den Tresen zuging, schwoll das Stimmengewirr an. Er wusste, dass man eine Rede von ihm erwartete oder doch zumindest einige Worte über den Anlass dieses Abends. Unschlüssig rieb er seinen rasierten Kopf. Die vielen Jahre als Kutscher hatten ihn verändert. Obwohl er früher Schauspieler gewesen war, lagen ihm öffentliche Auftritte nicht mehr. Zumal dann, wenn es um Gefühle ging. Und diese Patchworkfamilie war hoch emotionales Terrain.
Er begrüßte gerade Freunde und Stammgäste an der Tafel und überlegte, wann der angemessene Zeitpunkt für ein paar Sätze sein mochte, als Chantal unaufgefordert mit einem silbernen Esslöffel auf den Metalltresen schlug.
»Tädäää! Der olle Kaminski will was ablassen! Spoileralarm, Leute - hat was mit Kindern zu tun!«
Zu früh, viel zu früh. Es wurde still. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Laura nickte ihm zu.
»Tja, sieht so aus, als hätte ich den Hauptgewinn abgeräumt«, seufzte Kaminski. »Erst die tollste Frau der nördlichen Hemisphäre, und nun auch noch .«
»... ein perfekt geschorenes Frettchen. Hab mich sogar zur Feier des Tages extra zwischen den Beinen rasiert.«
Kaminski klappte die Kinnlade runter. Er brauchte einen Moment, bevor er sich wieder an seine Zuhörer wenden konnte.
»Wie immer verhaltensoriginell, unsere Chantal.«
»Für dich immer noch Frettchen«, krähte das kleine Biest dazwischen.
»Egal, sie hat sich hervorragend gemacht, seit sie vor mehr als einem Jahr hier im WMS angefangen hat. Sogar ihren Schulabschluss hat Chantal«, er blickte streng zu ihr hinüber, »nebenbei hingebogen, und den Mopedführerschein hat sie auch bestanden. Deshalb hat das Jugendamt zugestimmt, dass wir sie - adoptieren.«
Nun war es totenstill. Alle starrten Kaminski und Laura mit offenem Mund an, manche lächelten ungläubig, und im selben Augenblick wurde ihm...
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