Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wieder erklingt das helle Glöckchen über unserer Ladentür, als sie aufgeht und einen neuen Kunden ankündigt, aber ich habe nicht einmal Zeit, von meiner Arbeit aufzusehen. In dem kleinen Blumengeschäft, das ich seit ungefähr drei Jahren mit meiner besten Freundin Tina in einem Vorort von Innsbruck führe, tummeln sich Kunden. Kein Wunder, denn morgen ist Muttertag, und jeder möchte noch auf den letzten Drücker - es ist zehn Minuten vor Ladenschluss - eine kleine Aufmerksamkeit für die liebe Mama oder Oma ergattern. Meine Hände machen sich an einem Strauß mit hellblauen Hortensien und weißen Lisianthus zu schaffen, während ich mich angeregt mit einer etwa zwölfjährigen Kundin unterhalte.
»Jule, hast du einen Moment?«, unterbricht mich eine Stimme, und ich blicke perplex auf. Mein Vater Rainer war - glaube ich - bei der Eröffnung das letzte Mal in unserem Blumenladen.
»Paps«, begrüße ich ihn überrascht, ohne in meiner Tätigkeit innezuhalten. »Hast du eine neue Flamme, die du mit Blumen vom Hocker reißen möchtest?« Vergnügt zwinkere ich ihm zu, doch da fällt mir sein düsterer Gesichtsausdruck auf.
»Ich muss kurz mit dir reden.«
»Ist das so in Ordnung?«, will ich von dem jungen Mädchen wissen und zupfe den Strauß noch etwas zurecht. Sie nickt, obwohl mir auch ihr breites Lächeln Bestätigung genug wäre. »Vielleicht noch eine Manschette drum herum?« Wieder bejaht sie, und ich lege das Arrangement beiseite, um ein farblich harmonierendes Krepppapier zuzuschneiden.
»Falls es um die Balkonblumen geht«, wende ich mich an meinen Vater und werde vom Bimmeln der Ladenglocke unterbrochen, ». ich werde mich am Montag darum kümmern. Versprochen. Du siehst ja, was hier los ist.«
»Darum geht es nicht!« Irgendwie scheint es, als wisse Paps nicht, wohin mit seinen Händen. Erst fährt er sich über seine Glatze und verwuschelt sein noch verbliebenes graues Haar, bevor er die Hände in die Gesäßtaschen steckt, um sie Sekunden später in die Hüften zu stemmen. Dieses Schauspiel wiederholt sich mehrmals innerhalb weniger Augenblicke. »Jule, es ist verdammt wichtig! Wirklich . kannst du nicht . nur kurz?«
»Wir schließen gleich, Paps«, erkläre ich ruhig und tippe auf die Tasten der Registrierkasse, »ein bisschen wirst du dich also noch gedulden müssen.«
Seine Miene gefällt mir nicht und löst ein seltsames Unwohlsein in meiner Magengrube aus. Doch Geschäft ist Geschäft, und was immer meinem Vater so an die Nieren geht, muss warten.
Obwohl Tina und ich auf Hochtouren arbeiten, dauert es noch etwa eine halbe Stunde, bis wir alle anwesenden Kunden zufriedengestellt haben. Die Blumenvasen, in denen noch bis vor ein, zwei Stunden die Schnittblumen Kopf an Kopf standen, sind jetzt wie leer gefegt. Tina hat also mit der Blumenbestellung wieder einmal ihren absolut richtigen Riecher bewiesen. Lediglich eine Handvoll gebundener Sträuße und wenige Blumentöpfe mit Zimmerpflanzen und Kräutertöpfchen sind im vorderen Bereich des Verkaufsraumes übrig geblieben.
»Also, Paps, schieß los!«, ermuntere ich ihn, als der letzte Kunde den Laden verlassen hat und Tina und ich mit dem Aufräumen beginnen.
»Deine Tante Emmi liegt im Sterben.«
Die Blatt- und Stielabfälle fallen mir aus den mit unzähligen winzigen Schnitten übersäten Händen. Schweigen erfüllt den Raum. Tina tritt an meine Seite und sieht mich an, wartet auf eine Reaktion. Die Uhr an der Wand tickt plötzlich unendlich laut. Meine Glieder fühlen sich mit einem Mal starr und unbeweglich an.
»Das kann nicht sein«, flüstere ich irgendwann, als ich die Stille nicht mehr ertrage und die Worte sich in meinem Gehirn sammeln. »Sie war doch grade erst da .« Wann war das denn bloß? Welchen Monat haben wir denn? Es kann doch noch nicht so lange her sein? Wieso will mir das nicht einfallen?
Mein Vater räuspert sich. »Das Krankenhaus hat mich benachrichtigt.«
»Aber was hat sie denn? Hatte sie einen Unfall? Sie strotzt doch immer so vor Gesundheit!«
»Einen Hirntumor.« Er streicht sich mit der rechten Hand über den Nacken und weicht meinem Blick aus. »Wir sollen kommen, wenn wir uns noch verabschieden wollen.« Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. Doch als seine Worte bei mir ankommen, erwacht mein kraftloser Körper plötzlich zum Leben.
»Dann sollten wir sofort losfahren. Tina, würdest du .«
»Na klar!«, beantwortet sie meine unausgesprochene Bitte. »Ich hab hier alles im Griff.«
Kurz umarme ich meine Geschäftspartnerin und Freundin. »Es tut mir so leid«, flüstert sie mitfühlend. »Bleibt, so lange es nötig ist, ich komme hier schon zurecht. Und wenn ich irgendwas tun kann, dann melde dich, ja?«
»Danke, Tina! Das ist lieb.«
»Wir treffen uns zu Hause, Paps«, rufe ich im Hinauslaufen und schenke dem Umstand, dass er sich noch immer nicht vom Fleck bewegt hat, keine Beachtung.
In der gemütlichen Mansardenwohnung, die ich gemeinsam mit meinem Vater bewohne, werfe ich wahllos ein paar Klamotten und Waschsachen in meinen kleinen Trolley. Ich versuche, jegliche Gedanken an den Tod auszublenden, doch es will mir nicht gelingen. Ein Tumor? Unmöglich. Das hätte Tante Emmi uns doch gesagt! Ende März haben wir uns das letzte Mal gesehen. Oder war es Februar? Als ich meine neue marineblaue Strickfleecejacke einpacke, fällt es mir wieder ein. Tante Emmi hat sie mir bei ihrem letzten Besuch geschenkt. Sofort beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. In den letzten Jahren haben wir uns viel zu wenig gesehen. Weil ich zu beschäftigt war, zu sehr im Hamsterrad des Alltags gefangen, zu egoistisch. Ich hätte sie öfter anrufen müssen. Einfach mehr für sie da sein.
Aber vielleicht ist alles gar nicht so schlimm, wie es scheint. Wahrscheinlich gibt es irgendeine Operation, die Tante Emmis Leben retten wird. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Verdammt, wieder dieses teuflische Wort. Ich will nicht ans Sterben denken. Ich kann sie nicht verlieren. Nicht sie auch noch.
Als ich - den Rollkoffer hinter mir herziehend - ins Wohnzimmer komme, sitzt mein Vater vornübergebeugt auf der Couch, das Gesicht in den Handflächen vergraben.
»Bist du so weit?«, frage ich leise. »Sollen wir dein Auto nehmen oder meins?«
»Ich kann nicht«, murmelt er in seine Hände, und ich glaube mich verhört zu haben.
»Was?«
»Ich werde nicht mitfahren!« Er hebt den Kopf, sieht mich aber nicht an. Kurz wischt er sich noch mal über das Gesicht und lehnt sich zurück.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Ich kann das nicht, Juliana!«
»Ach, und du denkst, ich kann es?« Meine Stimme ist lauter geworden, mein Blick verständnislos.
»Versteh doch .«
»Nein«, unterbreche ich ihn, »das verstehe ich nicht! Findest du nicht, dass du ihr das schuldig bist? Ihr wenigstens noch einmal Danke zu sagen?«
Mein Vater schließt die Augen und atmet tief aus. Mir ist klar, dass die Situation ihn überfordert, aber mir geht es nicht anders!
»Tante Emmi hat sich nach Mamas Tod um Stefan und mich gekümmert, als wären wir ihre eigenen Kinder. Sie war Tag und Nacht für uns da.« Sie hat Dinge getan, die eigentlich du für uns hättest tun sollen, denke ich, doch ich finde es unangebracht, das auszusprechen.
»Das weiß ich, Jule. Und ich bin ihr jeden Tag dankbar dafür.«
»Dann komm.«
Er erhebt sich langsam von der Couch, zieht die Hosenbeine lang und geht ein paar Schritte auf mich zu. Sein Blick ist gequält, und auf seiner Stirn haben sich tiefe Furchen gebildet. Er legt mir seine schwielige rechte Hand auf die Schulter und drückt sie sanft. »Ich werde nicht an diesen Ort zurückkehren, der mir meine Frau und mein Kind genommen hat.«
»Du musst dich von ihr verabschieden, Paps. Sonst wirst du es bereuen!« Meine Worte sind eindringlich, flehend.
»Es tut mir leid«, sagt er leise, »aber nein.« Dann lässt er mich im Wohnzimmer stehen und geht ins Bad.
Mein Atem geht flach, und ich spüre, wie mir die Tränen über die Wangen laufen. Wie kann er das tun? Ich verstehe nicht, wie er mich im Stich lassen kann. Und Tante Emmi. Ich bin so wütend, und mein Herz pocht so stark und schmerzhaft in meiner Brust, dass ich ihm am liebsten nachlaufen und ihn durchschütteln würde. Aber dazu bleibt keine Zeit.
Mein Bruder Stefan und ich waren nur dreizehn Monate auseinander. Als unsere Mama an Brustkrebs starb, war ich zwölf und Stefan dreizehn. Wir haben sie auf ihrem Weg begleitet, ihr beigestanden und uns auf ihren Tod vorbereitet. Und dennoch . wäre da nicht Mamas Schwester Emilia gewesen, wer weiß, wie wir ihren Verlust verkraftet hätten. Unser Vater, der selbstständiger Fliesenleger war, hat sich bis zum Hals in Arbeit vergraben. Tante...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.