Schweitzer Fachinformationen
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Jake
Langsam entfernen sich die Rücklichter des Linienbusses, aus dem ich gerade ausgestiegen bin. Mein Bart juckt und meine Haare sind viel zu lang. Eigentlich möchte ich so gar nicht unter Leute gehen, aber erst muss ich diese eine Sache erledigen, bevor ich mich wieder anderen Dingen widmen kann. Unter anderem dem Gang zum Frisör, den ich bisher ständig aufgeschoben habe. Nicht nur, weil es immer wichtigere Dinge gab, sondern auch, weil ich in letzter Zeit mehr oder weniger auf Sparmodus gelaufen bin. Das Wiedersehen mit Tom belastet mich und ich möchte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich weiß nicht, wie er mich empfangen wird. Immerhin sind wir vor gut drei Jahren nicht als Freunde auseinandergegangen. Vielleicht freut er sich, mich zu sehen, vielleicht schlägt er mir die Tür vor der Nase zu, ich weiß es nicht. Vorsichtshalber ziehe ich beide Möglichkeiten in Betracht und überlege mir schon jetzt einen Plan B, falls Tom noch immer nicht einsieht, dass er es ist, der einiges wieder gut zu machen hat. Im Grunde bin ich mir nicht einmal sicher, ob Tom überhaupt wieder hier wohnt.
Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr weiterweiß und Tom der letzte Strohhalm ist, nach dem ich greifen kann. Natürlich habe ich vorher lange darüber nachgedacht, denn diesen Schritt gehe ich beim besten Willen nicht gerne. Aber hier geht es nicht nur um mich, und ich werde mein Bestes tun, meine eigenen Gefühle zurückzustellen.
Meine Mutter hat vor Kurzem einen Schlaganfall erlitten und wohnt seitdem in einem Pflegeheim hier in der Nähe. Das ist auch der Grund, warum ich meine Zelte in den Vereinigten Staaten für immer abgebrochen habe. Ich stehe in ständigem Kontakt mit dem Pflegepersonal und dem behandelnden Arzt Dr. Brenner, der mir letzte Woche noch eine andere niederschmetternde Diagnose unterbreitet hat: Der Schlaganfall hat bei Mama eine vaskuläre Demenz ausgelöst. Im Klartext heißt das, dass neben Symptomen wie Sprachstörungen, Orientierungslosigkeit oder Persönlichkeitsveränderungen unter anderem auch Gedächtnisstörungen auftreten können. Sie wird also nie wieder die Frau sein, die ich als meine Mutter kannte, und möglicherweise wird sie - was vielleicht noch schlimmer ist - mich nicht mehr als ihren Sohn erkennen. Es fällt mir schwer, das alles zu begreifen und ich mache mir große Vorwürfe, dass ich nicht schon früher nach Hause zurückgekommen bin. Als ich heute in aller Herrgottsfrühe im Pflegeheim aufgetaucht bin, musste Dr. Brenner mich - auch zu seinem eigenen Bedauern - wieder wegschicken, weil sich meine Mutter einen viralen Infekt eingefangen hat und mit Fieber im Bett liegt. Er sagte, es wäre nichts Ernstes, aber weil wir noch nicht wissen, wieweit sie sich an mich erinnern kann, könnte sie mein Besuch zu sehr aufregen und ihren Gesundheitszustand noch weiter verschlechtern. Natürlich hätten sie sich viel über die Vergangenheit unterhalten, und meine Mutter habe auch von ihrem Sohn gesprochen. Aber mich nach so langer Zeit wiederzusehen sei laut dem Arzt noch einmal etwas ganz anderes.
Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich meine Mutter vermisse. Würde es ihr besser gehen, wenn ich bei ihr wäre? Kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, einfach zu ihr zu gehen und mich neben ihr auf dem Boden zusammenzurollen, um ihr nah zu sein. Dr. Brenner schien meine Gedanken zu erraten, denn er bekräftige noch einmal, dass Ruhe für sie das Beste sei und es sich bestimmt nur um ein paar Tage handeln würde, bis sie wieder fieberfrei wäre.
Also stehe ich jetzt hier an der Bushaltestelle mit einem flauen Gefühl im Magen, das sowohl von der vorangegangenen Busfahrt, als auch von meiner bevorstehenden Begegnung herrühren könnte.
Vielleicht lässt Tom mich ein, zwei Nächte bei sich wohnen, bis ich den Jetlag überwunden habe. Gestern war ich noch in meiner winzigen Zweizimmerwohnung in Wisconsin. Der Flug und die darauffolgende Bahn- und Busfahrt waren mehr als anstrengend, und dann die Sache mit meiner Mutter, die mir gerade den Rest gibt. Ich sehne mich nach einem Bett oder einem Sofa, auf dem ich die Beine ausstrecken und zumindest körperlich zur Ruhe kommen kann. Ich atme tief durch, trinke den Rest meines Mineralwassers aus und drücke die Plastikflasche zusammen, um sie gähnend in den Mülleimer des Bushäuschens zu werfen. Da erst wird mir bewusst, wie lange ich schon nicht mehr hier gewesen bin und ich nehme mir Zeit, das wunderschöne Bergpanorama mit den schroffen Felsen, den Wäldern und den hügeligen Grasflächen zu betrachten. Mein Mund verzieht sich unwillkürlich zu einem Lächeln und ich atme noch tiefer als vorher, weil ich spüre, wie mir die frische Bergluft neue Energie spendet. Nicht weit von hier bin ich geboren und habe - zumindest bis zum Tod meines Vaters - eine wundervolle Kindheit verbringen dürfen. Es fühlt sich an, als wäre das ein völlig anderes Leben gewesen.
Ausgiebig strecke ich mich, bevor ich mich mit neuem Tatendrang auf den Weg zu Toms früherer Adresse mache. Das Haus, das ich suche, steht auf einem Hanggrundstück ein wenig abseits von drei anderen Häusern. Etwa zwanzig Meter dahinter beginnt ein Waldstück, das sich wahrscheinlich wunderbar dafür eignet, um Baumhäuser zu bauen und auf Erkundungstour zu gehen. Das Wohnhaus hat sich wenig verändert, seit ich es das erste und letzte Mal vor gut zehn Jahren gesehen habe. In dem großzügigen Anbau an der Hinterseite des Hauses hat früher Toms Oma gewohnt. Ob sie wohl noch lebt? Ich nehme an, sie müsste inzwischen bestimmt weit über achtzig Jahre alt sein.
Die Fassade ist blassgrün gestrichen, die Fensterläden dunkelgrün. Ein Schaukelgerüst und eine Sandkiste im Garten lassen mich darauf schließen, dass in diesem Haus auch Kinder wohnen, und vor meinem inneren Auge sehe ich Tom mit seiner Familie lachen und herumtoben.
Ein wehmütiges Gefühl beschleicht mich, durchzogen von ein bisschen Neid und dem Ärger, der mich schon die letzten Jahre begleitet. Ich verbanne all diese negativen Emotionen in die hinterste Ecke meines Herzens und konzentriere mich auf das, was mir bevorsteht.
Einer inneren Eingebung folgend - oder vielleicht auch nur, um das Unvermeidliche hinauszuzögern - gehe ich erst auf die Vorderseite des Hauses zu, über die Auffahrt, bis ich vor einer weißlackierten Haustüre stehe. Martha und Herbert Albrecht steht in kleinen Buchstaben neben dem Klingelknopf, den ich sofort betätige, einmal, zweimal, doch nichts rührt sich. Nachdem ich ein paar Schritte zurückgewichen bin und das Haus noch einmal in Augenschein genommen habe, gehe ich um den mit Thujen gesäumten Garten herum zu einer weiteren Auffahrt. Ich betrachte eingehend die zweite Haustür, den Briefkasten und den Klingelknopf, doch nirgends finde ich ein Namensschild. Neben einem etwa einen Meter breiten, hölzernen Blumentrog, der über und über mit bunten Stiefmütterchen bepflanzt ist, entdecke ich ein winziges Paar schlammbespritzter Gummistiefel. Daher gehe ich schwer davon aus, dass Toms Oma wohl nicht mehr hier wohnt.
Ich drehe mich noch einmal um, atme tief durch, wobei mir sogar der intensive Fliederduft, der aus dem Garten zu mir herüber strömt, auffällt, und straffe mich. Der Rasen könnte wieder einmal gemäht werden, denke ich beiläufig und wende mich endgültig dem Eingang zu. Bevor mich mein Mut wieder verlässt, läute ich und erschrecke fast, weil die Tür so schnell aufgeht. Keine Chance für einen Rückzug!
Eine junge Frau richtet sich vor mir auf, während sie öffnet, als hätte sie eben noch auf dem Boden gesessen, streicht sich ihr blondes Haar aus dem Gesicht und mir rutscht das Herz in die Hose, als sie mich ansieht. Neben ihr steht ein kleiner Junge, der so aussieht wie Tom in Kleinformat, nur niedlicher. Im ersten Moment bekomme ich kein Wort heraus und ich ärgere mich über mich selbst, weil ich ja damit gerechnet habe, dass unter Umständen eine Frau öffnen wird. Aber jetzt, wo ich sie sehe, Toms kleine Familie, seine wunderschöne Frau und diesen tollen Jungen, muss ich mir eingestehen, dass ich ihm dieses Glück irgendwie nicht gönne. Warum er und nicht ich?
»Hallo!«, sagt sie und ihre Stimme hört sich weich und irgendwie fröhlich an. »Was kann ich für dich tun?«
Gute Frage. Warum bin ich nochmal hier? Um mir meiner eigenen Einsamkeit bewusst zu werden? Dass sie mich duzt, macht sie noch sympathischer, die Sache für mich noch schwieriger. Der kleine Junge ist inzwischen hinter ihr verschwunden und sie sieht mich voller Erwartung an.
»Hallo!«, bekomme ich schließlich mit Mühe heraus und muss mich räuspern, bevor meine Stimme ganz versagt.
»Ich bin Jake Neumann, ein Freund von Tom!«, schaffe ich es endlich, mich vorzustellen. Mir kommt es so vor, als würde ihr hübsches Gesicht sich einen Moment verdunkeln, bevor sie weiß wie eine Wand wird. Noch ehe ich ihr meine Hand entgegenstrecken kann, entleert der Junge hinter ihr eine Kiste mit Bausteinen auf dem Boden. Wir erschrecken beide durch das krachende Geräusch, woraufhin sie mit einem kurzen »Moment!« die Tür zuschlägt.
Ich bin verwirrt und überlege, ob ich wieder gehen soll. Wohnt Tom nicht hier? Oder nicht mehr? Vielleicht hatten sie Streit und sie ist sauer auf ihn! Vielleicht ist sie ja gar nicht Toms Frau, sondern nur eine Untermieterin! Unwahrscheinlich, wenn ich mir den Jungen ansehe. Oder vielleicht hat Tom nur wieder irgendwas verbockt, wie schon so oft! Plötzlich überkommt mich das dringende Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen, obwohl ich von dieser Frau, ihrem Kind und Toms Leben nicht die geringste Ahnung habe. Meine...
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