Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
5. November 1994
Ich fühle NICHTS. Ich bin im Bad meiner Wohnung in Minneapolis, 20 Jahre alt, betrunken und von Sinnen, und schneide Muster in meinen Arm, ein Blatt und eine Schlange. An einer schmutzigen Kordel hängt eine Glühbirne, die in der vom offenen Fenster herüberwehenden Brise hin- und herschaukelt. Die Straße unten und die schäbigen Backsteingebäude nebenan sind mit Ruß überzogen. Durch das Fenster sehe ich im Wohnblock gegenüber eine Frau in Slip und Hausschuhen auf ihrem durchgesessenen geblümten Sofa sitzen. Sie sieht fern und lacht mit den Lachsalven aus der Konserve, und ich halte inne, um das Blut mit einem Lappen aufzuwischen. Das Blut gerinnt zu einer kleinen Lache auf dem Boden (nicht vergessen: Boden putzen), während unten auf der Straße ein Waschbär mit dem Deckel einer Abfalltonne klappert. Ich verstehe die Zeit nicht mehr, sie läuft davon und scheint doch stehen zu bleiben. Ich betrachte mein Werk, sehe, wie das Blut an meinem Arm entlangläuft, sich um mein Handgelenk windet und von meinen Fingern auf die versifften weißen Fliesen tropft.
Seit Monaten schneide ich mich, denn das beruhigt die rasenden Gedanken, verringert den Druck des Wahnsinns, der mein Gehirn in einen Schraubstock zwängt, schon fast mein ganzes Leben lang, aber noch intensiver in den letzten Tagen. Über Jahre hinweg haben sich die Stimmungsschwankungen gehäuft; die himmelhochjauchzenden und zu Tode betrübten Gedanken folgten einander in immer schnellerem Tempo. In meinem Kopf leuchteten schillernde Farbblitze, wie Stromstöße der Erkenntnis - plötzliche Euphorie, dann wieder eine Flut dunkler, blutiger Gedanken, die mich kopfüber hinfallen ließen und mich platt auf den Wohnzimmerboden drückten, voller anschwellender Verzweiflung, die von der Mitte meiner Brust nach außen drang und drohte, meine Rippen zu sprengen. Seit ich ein Kind war, kenne ich diese Gefühlsausbrüche, dieses Scheppern einer Achterbahn, das in meinen Ohren dröhnt, während ich mich an meinem kleinen Wagen festklammere. Aber jetzt, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, bricht der Wahnsinn voll aus. Was ich mein ganzes Leben lang befürchtet und wogegen ich angekämpft habe - der komplette Kontrollverlust über meinen Verstand -, ist jetzt eingetroffen und ich gebe auf.
Und zertrenne meine Pulsschlagader.
Halt - da musste doch zuerst ein Gedanke gewesen sein, eine Entscheidung, gerade das jetzt zu tun, eine Sequenz der Ereignisse, eine gewisse Logik. Und die wäre? Einen Augenblick lang starre ich auf den blanken Knochen, dann spritzt das Blut an die Wände. Mir wird schummrig; das wollte ich nicht, ich wollte es doch nur ausprobieren. Zuckend und taumelnd krieche ich auf dem Boden entlang, auf meinen rechten Ellenbogen gestützt, den eingeschnittenen linken Arm in die Höhe gestreckt, und rutsche auf dem Bauch zum Telefon in meinem Schlafzimmer. Die Sekunden ticken im Zeitraffer. Die Minuten zerrinnen wie Sand zwischen den Fingern. Die Katze stupst meine Nase an, drückt sich an mich und miaut. Mit der rechten Hand reiße ich den Hörer von der Gabel und halte den Kopf darüber. Der Klang der eindringlichen Stimme erstaunt mich. »Haben Sie ein Handtuch? - binden Sie den Arm ab - halten Sie ihn hoch - gleich ist jemand bei Ihnen.« Plötzlich bricht die Tür auf und dunkle Schatten aufgeregter Männer schwirren um mich herum. Ich lasse das Telefon fallen und gebe der Flutwelle nach, die mein Bewusstsein überrollt. Die Münder der Männer bewegen sich wie unter Wasser, ihre Stimmen gurgeln: »Spürst du einen Puls?« Und dann schlagen Metalltüren zu und ich falle durch die Endlosigkeit des Raums, während sich das Sirenengeheul immer weiter entfernt.
Neonlampen flitzen über mir vorüber. Ich liege auf dem Rücken. Ein kurzer, schriller, sich immer wiederholender Ton dringt zu mir: Räder auf dem Boden. Ich bin in Bewegung und werde vorwärts befördert. Die Lichter blitzen in meine Augen wie ein Stroboskop. Und dann bin ich an einem hellen Ort und kann mich nicht bewegen, denn das Bett verschlingt mich. Aber es ist kein Bett; ein Bett hat doch keine Gitter. Wir rasen den Gang entlang. Menschen zu beiden Seiten schieben rennend den Käfig vorwärts. Wieso diese Eile? Mein linker Arm fühlt sich komisch an, so schwer. Erstaunliche Schmerzen durchschießen ihn, wie Blitze von meiner Hand bis hin zu meiner Schulter. Von dort breiten sich die Schmerzen über meinen ganzen Körper aus. Ich versuche, meinen Arm zu heben, aber er wiegt 500 Kilo. Ich versuche, meinen Kopf zu heben, um zu sehen, wo ich bin, aber ich schaffe es nicht, denn der ist auch schwer, so schwer wie Blei. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, wie die Menschen mich vorbeifliegen sehen.
Ich stehe unter Schock. Das haben sie gesagt, als sie mich fanden. »Sie steht unter Schock,« sagte der eine zum andern. Wer sind die denn? Sie haben meine Türe eingeschlagen. Und wer zahlt jetzt dafür? Empört verliere ich das Bewusstsein.
Ich komme wieder zu mir. Ich trage meinen neuen weißen Pullover. Es tut mir leid, dass er jetzt rot gefärbt ist. So eine Geldverschwendung. Wir halten an. Leute stehen um mich herum und schauen auf mich herunter. Sie sehen aus wie eine Baumgruppe, und ich liege unbeweglich auf dem Waldboden. »Wann ist das passiert? Was haben Sie benutzt?«, fragen sie, ihre Stimmen unendlich weit entfernt. »Keine Ahnung - aber beruhigen Sie sich, ich geh jetzt nach Hause - Kann ich heimgehen? Mir ist etwas schlecht .« Ich übergebe mich in ein Ding, das mir für diesen Zweck entgegengehalten wird. »Es tut mir so leid,« sage ich. »Es war ein Unfall, ein Versehen. Ich geh jetzt wohl besser nach Hause. Wo sind meine Schuhe?«
Sage ich das alles wirklich? Niemand hält an, alle eilen herum. Ich bin wohl in einem Krankenhaus. Herumrennen, das macht man in einem Krankenhaus. Aber eigentlich ist es dafür zu laut. Jemand schreit. Das Herumrennen ist ungewöhnlich hektisch. »Warum diese Eile, Leute?« Mein Arm bringt mich um, so wie er ist, igittigitt. Obwohl ich ihn eigentlich gar nicht spüre, weiß ich doch, dass er da ist. Und jetzt fühle ich nur die armförmige Schwere, da, wo er einmal gewesen ist. Haben sie mir meinen Arm abgenommen? Okay, auch in Ordnung. Ich mochte ihn sowieso nicht, igittigitt.
Niemand versteht meinen Witz.
Mir wird klar, dass ich es bin, die schreit, und ich höre augenblicklich auf, verlegen über mein Verhalten. Ich muss vorsichtig sein, sonst denken sie noch, ich wäre verrückt.
Ich erwache und verliere das Bewusstsein. Ich erwache wieder und verliere wieder das Bewusstsein. Eine Ewigkeit lang oder vielleicht nur eine Minute, eine Sekunde, eine Millisekunde lang. Es geht so schnell, dass es überhaupt nicht passiert. Wie kann man sich sonst bewusst sein, sein Bewusstsein zu verlieren? Fühlt es sich so an, den Verstand zu verlieren? Wenn dem so ist, verliere ich meinen Verstand selten. Mein Arm fühlt sich scheiße an. Einspruch. Ich wende meinen Kopf zu dem Gesicht, das mir am nächsten ist, und sage ihm, dass ich Einspruch erhebe. Aber plötzlich sind da nur Hände und ein riesiges aufklaffendes Ding, da, wo mal mein Arm gewesen ist. Es ist so blutig, es sieht aus wie ein rohes Steak. Es sieht aus wie das Wort Fleisch, fies und brutal. Der Händebastard umklammert mit einer Hand meinen Unterarm, seine Finger und sein Daumen auf den Seiten des aufklaffenden roten Dings drücken alles zusammen und er sticht mit einer Nadel in das Innere dieses Dings - »Ruhig halten! Haltet sie ruhig, Herrgott noch mal!« - und er sticht wieder und wieder in das Innere des Dings. Ich höre jemanden schreien, vielleicht bin ich das. Es tut nicht wirklich weh, aber diese blitzende Nadel, die sich in dem rohen Fleisch versenkt, erschreckt mich. Ich stelle fest, ich bin ein Steak. Sie tranchieren mich, um mich zu servieren. Sie werden mich auf einer silbernen Platte servieren. Die Hände des Mannes sind riesig und jetzt nähen diese Hände das zerschnittene Fleisch wieder zusammen. Absurd. Können sie das nicht einfach zusammenkleben? So viel Tamtam um nichts. - »Oh, um Gottes willen!«, schreie ich (vielleicht oder denke es nur), jetzt erinnere ich mich und schreie (ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das jetzt tue): »Können Sie sich vorstellen, dass ich das getan habe? Was für eine fucking Idiotin! Das wollte ich nicht!« Ich flehe sie an, mir zu glauben. »Ich hab mich doch nur ein bisschen geritzt, ich wollte es wirklich nicht. Es tut mir leid, dass ich so eine Sauerei gemacht habe, so viel Blut! Und mein Pullover!« Ich verliere wieder das Bewusstsein und komme zu mir, immer wieder. »Sie stehen unter Schock. Können Sie mich hören? Können Sie mich hören, Maria? Sie ist völlig weg«, sagt der eine zum anderen. Sie stehen über mir wie Riesen. Sie können meinen Namen nicht aussprechen. »MAR-ya,« sage ich, die erste Silbe betonend. »Ja, Maria, ich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.