2. Um die Steine des Armeniers
Inhaltsverzeichnis Die Schaufenster der großen Perastraße in Konstantinopel waren hell erleuchtet. Doch selten nur blieb einer der Vorübergehenden vor ihnen stehen. In ihrem langsamen Schritt hatten sie genügend Zeit, die sich überall wiederholenden Waren mit gleichgültigem Blick zu mustern. Um die frühe Abendstunde war der Strom der Fußgänger mehr als sonst mit bunten Flecken farbiger Damenkleider durchsetzt. Doch am auffälligsten traten die blaugrauen und die staubgelben Uniformen der französischen und englischen Armeeangehörigen hervor, die unter den dunklen Zivilisten im Hut selbstherrlich einherschritten. Ängstlich ging ihnen ein jeder aus dem Wege, denn es war kein Vergnügen, von irgendeiner der zahlreichen Patrouillen, die die Perastraße abschritten, auf den Wink irgendeines der französischen Eroberer festgenommen und abgeführt zu werden, ganz abgesehen von der zur Freilassung dann erforderlichen Zahlung von fünf bis hundert Pfund, je nach der augenscheinlichen Vermögenslage des »Übeltäters«. Am auffallendsten aber war das Fehlen der sonst in der Mehrzahl vertretenen Türken im Fes. Hin und wieder nur begegnete man ihnen. Mit einem undefinierbaren, verschlossenen Ausdruck im Gesicht gingen sie wie teilnahmslos durch die Menge. Ihr Blick schien nichts von dem zu sehen, was sich auf der Straße abspielte.
Die Wagen der elektrischen Bahn polterten dröhnend durch die Enge der Straßen. Droschken fuhren haarscharf um die Ecken. Kraftwagen aller Art überboten sich an Schnelligkeit und Flaggen der verbündeten Länder, von der blutroten englischen bis zur blauweißen griechischen flatterten im Dunkeln der Häusermauern, hie und da grell von irgendeinem Licht beschienen.
Im oberen Teil der Perastraße öffnete sich ein Torweg, dessen innere Seite auf einen hell erleuchteten Gang führte, um Zugang zu einer weit offenen Tür zu geben, die in hundert Lichtern flammte. Rotglühende Schriftzeichen verkündeten, daß hier der Tanztempel > Pavilion Bar< seinen Gläubigen sich öffne.
Der erleuchtete Innenhof pumpte aus der großen Verkehrsader der Straße einen beträchtlichen Strom von Menschen in den Vergnügungssaal. Viel Uniformen, mehr noch Zivilisten, hin und wieder einzelne helle Frauenkleider.
An der Eingangsecke war ein Mann stehengeblieben. Sein dunkler Anzug ließ ihn im Schatten des Torpfeilers verschwinden. Ein breiter, weicher Filzhut verdeckte sein Gesicht, in dem nur der brennende Punkt einer Zigarette erkennbar war. Wie gleichgültig schien er auf jemand zu warten. Eine Straßenbahn bremste plötzlich knirschend ihm gegenüber und kam zum Halten. Ein Kraftwagen stoppte und eine Droschke wendete gemächlich. Lautes, schreiendes Fluchen zwischen den verschiedenen Fahrern und Kutschern übertönte den Lärm der Straße. Einige Patrouillen blieben stehen, die Möglichkeit einer »verdienstvollen« Verhaftung irgend jemandes witternd. Der Mann im Filzhut trat raschen Schrittes um die Ecke, ging eilig auf den Eingang der » Pavilion Bar« zu und verschwand im Innern, nachdem er einen schnellen Blick rückwärts nach der Straße zu geworfen hatte.
Zur Linken und Rechten vom Eingang führten einige hölzerne, mit einem abgenutzten Teppich belegte Stufen zu dem hinter den Logen laufenden Gang. Nachdem der Eintretende seine Karte gelöst hatte, wandte er sich links, sprang die Stufen empor und schritt schnell den Gang entlang, bis er die Loge Nummer 7 erreicht hatte. Den schmutzigen roten Vorhang zurückschlagend, trat er ins Innere und ließ sich auf den nächststehenden Stuhl fallen. Der runde Saal lag im Halbdunkel. Nur die Bühne war hell erleuchtet, auf der eine Tänzerin im Matrosenkostüm mehr akrobatische als künstlerische Bewegungen vollführte. Eine rasende Jazzmusik verblödete die staubstumpfe Luft.
Ein schmutziger Kellner trat in die Loge, und der Angekommene bestellte Champagner und vier Gläser.
Der Tanz war zu Ende. Die Tänzerin verbeugte sich unter dem Beifallklatschen der Menge. Das Licht flammte auf. Der Gast in Loge Nummer 7 erhob sich und trat einen Schritt vor. Ein Taschentuch hervorziehend, wischte er sich über das Gesicht und setzte sich wieder.
Der Kellner brachte den Wein, den er auf einen kleinen tragbaren Tisch stellte, und goß eins der Gläser voll. Eine der Blumenverkäuferinnen, die die Bar in allen Ecken und Gängen unsicher machten, trat ein. Wie die meisten der damals in den Konstantinopeler Vergnügungsstätten Tätigen schien auch sie eine Russin. Ihr Alter war undefinierbar. Irgendwo zwischen zwanzig und dreißig.
» Des fleurs, monsieur. Des roses!«
Sie sprach mit dem harten Akzent ihrer Landsleute. Ihre graudunklen Augen waren ausdruckslos.
Der Inhaber der Loge füllte eins der leeren Gläser und schob es ihr hin.
»Feuchte dich an. Du scheinst ebenso durstig wie deine Trockenblumen«, sagte er lachend.
»Danke«, antwortete die Verkäuferin und griff nach dem Glase.
»Oh, das hat keine Eile. Komm, setz dich hierher und rauche eine Zigarette.«
Die Russin warf ihm einen forschenden Blick zu und setzte sich gehorsam.
Im Licht des hellen Saales war das Gesicht des Mannes gut erkennbar. Seine schwarzen, hervortretenden Augen waren groß und standen eng beieinander, so daß die lange, gebogene Nase breiter erschien als sie war. Die fleischigen Lippen seines breiten Mundes verdeckte ein dichter, an den Enden kurz geschnittener Schnurrbart. Das harte Kinn lag leicht zurück und gab dem Gesicht, zusammen mit den ausladenden Backenknochen etwas Flaches, Gieriges und gleichzeitig Furchtsames. Geölte schwarze Haare bedeckten in dichten Strähnen die niedrige Stirn und verbargen fast die grobgeformten Ohren. Trotz sorgfältigem Rasieren hatten Kinn und Wangen einen blaudunklen Schimmer unter der gelblichen Haut.
Gekleidet war der Mann mit der übertriebenen, lächerlichen Eleganz, die alle Mischblütigen kennzeichnet. Sein seidenes Hemd sah weit aus den Ärmeln seines enganliegenden, langschössigen Jacketts hervor. Zwei große, tellerförmige, mit Brillanten besetzte Manschettenknöpfe funkelten und leuchteten bei jeder Bewegung. In der mausgrauen Krawatte schimmerte eine große Perle, von einem Kranz von Diamanten umgeben, und eine Anzahl auffallender Ringe, rote und grüne Steine in schwer goldenen Reifen zierten die behaarten Hände, mit denen er jetzt eine goldene Zigarettendose der Russin hinhielt.
»Wie heißt du?« sagte er dabei nachlässig.
Das Mädchen schwieg, nahm eine Zigarette und zündete sie an.
»Nun, hast du keinen Namen?«
»Was interessiert dich mein Name?«
Sie sagte es gleichgültig, als wiederhole sie Selbstverständliches, und blies eine dünne Rauchwolke in die schwere Luft des Saales, in dem die zweite Jazzkapelle besessen schrie und heulte wie ein überladener Magen im ersten Stadium der Seekrankheit.
»Nun, ich möchte doch wissen, mit wem ich mich unterhalte.« Der Ton der Antwort war höflicher, als der der vorhergehenden Worte.
Das Mädchen sah ihn einen Augenblick an.
»Also du willst dich mit mir unterhalten. Worüber?«
Einen Augenblick fand der Mann keine Antwort. Dann sagte er:
»Wovon du willst. Ich bin fremd hier.«
»Ach, du bist fremd hier!?«
Ihre Augen leuchteten einen Wimperschlag spöttisch auf. Doch nichts im Ton ihrer Worte verriet, daß das bei seinem Äußeren Lächerliche seiner Worte das Mädchen belustigte.
»Ja. Ich bin gestern angekommen. Aus Paris. Dort ...«
»Aus Paris? Ja, das sieht man dir an«, unterbrach sie ihn. »Dort ist es wohl schöner als hier?«
»Nun ja, eleganter, aber hier ist es interessanter.«
»Und was tust du hier?« fragte das Mädchen unbeirrt weiter. Für eine Blumenverkäuferin in einem öffentlichen Barvarieté war ihr Benehmen etwas seltsam unabhängig. Der Mann aber schien es ganz natürlich zu finden, daß die Führung des Gesprächs an sie überging.
»Dir Blumen abkaufen«, antwortete er mit einem breiten Grinsen.
»Dann kaufe.«
»Also trinken wir auf ein gutes Geschäft.« Der Mann hob sein Glas.
Das Mädchen tat ihm ungezwungen Bescheid.
»Du mußt die Blumen aber dort abliefern, wo ich das haben will.«
Ein mißtrauischer Blick streifte ihn.
»Ich bin nicht die Post ...«
»Nein, nur hier im Hause«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Ich sehe, daß die Tänzerin der letzten Nummer nochmals auftritt. Willst du ihr die Blumen überbringen?«
»Nichts leichter als das.«
»Nun also. Ich werde ein Wort beilegen. Vielleicht kannst du mir ihre Antwort bringen?«
»Wenn sie eine gibt.« -
»Sie ... oh, ich hoffe doch.«
Das Licht dunkelte. Ein neuer, nicht weniger betäubender Lärm einer andern schweißtriefenden Lärmfabrik setzte ein, und eine dicke, vollbusige Schöne suchte ihn auf der Bühne mit unverständlichen Worten zu übertönen.
Der Mann füllte die Gläser und schob die Zigarettendose über den Tisch. An eine Unterhaltung war nicht mehr zu denken.
Während die Sirene auf der Bühne ihrer Beschäftigung als Nebelhorn nachging, und die Träger der amerikanischen Kultur ihren seltsamen Instrumenten noch seltsamere Verzweiflungsschreie entrissen, entnahm der Mann seiner Brieftasche eine Karte, auf die er mit großen unbeholfenen Buchstaben einige Worte niederschrieb.
Als der Saal wieder hell wurde, überlas er sie und legte sie vor sich auf den Tisch. Das Mädchen sah ihm gleichgültig zu. Der Korb mit den Blumen stand nahe bei auf einem Stuhl.
Der Mann trank...