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Es ist ein Erfolg nach langen Ermittlungen: Am 4. Februar 1942 setzt mit ersten Verhaftungen die Zerschlagung einer weitverzweigten Widerstandsorganisation in Berlin ein. Ihr Kopf war der Metalldreher Robert Uhrig, erfahrener und charismatischer KPD-Funktionär, der nach Verbüßung einer zweijährigen Zuchthausstrafe den Aufbau von kommunistischen Betriebszellen fortgesetzt hat. Im Frühjahr 1941, vermittelt durch den seit 1926 in Berlin lebenden Wiener Ingenieur Leopold Tomschik und dessen Tiroler Freundeskreis unter ehemaligen Mitgliedern der Naturfreunde, beginnt der Aufbau von Kontakten im Tiroler Unterland - fast von Beginn an beobachtet von Spitzeln der Gestapo Innsbruck. Sie schlägt zeitgleich mit der Gestapo Berlin zu, zunächst in Kitzbühel und Innsbruck, im Juni 1942 in Kufstein. Für Johann Schmidt, der Mitgliedschaft in der Gruppe verdächtigt, liegt ebenfalls ein Haftbefehl vor, der vorläufig nicht vollstreckt werden kann: Er befindet sich seit März 1942 als "Frontarbeiter" im Einsatz in Estland und erfährt nichts von der drohenden Gefahr.
Abb. 1: Familie Kaltenhauser, Schwoich (1920er Jahre)
Schmidt lebt in Schwoich bei Kufstein, einer bäuerlichen Gemeinde mit annähernd tausend Einwohnern und Heimatort von Ehefrau Anna, Tochter des Franz Kaltenhauser, Bauer zu Unter-Gaisbach im Ortsteil Egerbach. Die Familie ist im Dorf wenig angesehen, zugezogen aus Ampass bei Innsbruck, wo Franz bis 1913 als Inhaber des Gasthofs "Zur Römerstraße" aufscheint. Der Besitz geht verloren, das Leben in Schwoich bedeutet sozialen Abstieg und Armut. Anna, geboren 1907, wächst in Ampass und dann am neuen Wohnort der Familie gemeinsam mit zwei Brüdern und fünf Schwestern auf, arbeitet nach dem Ende ihrer Schulzeit als Köchin und verbringt mehrere Sommer als Saisonkraft in der Schweiz.
Wo sie und Schmidt einander begegnet sind, wird nirgends erwähnt; denkbar, dass er als Kostgänger in das Haus der Familie gekommen ist.2 Zur Geschichte von Schmidts Kindheit und Jugend stehen als wichtigste Quelle die Niederschriften der zwischen August und Oktober 1942 durch Kriminalsekretär Johann Jünnemann durchgeführten Verhöre zur Verfügung - Dokumente, die mit Rücksicht auf die Umstände ihrer Entstehung zu lesen sind. Sie zeichnen das Bild eines bis zu seiner Bekanntschaft mit Anna unsteten und glücklosen Lebens: "Ich habe nicht nur eine elternlose und freudlose Kindheit hinter mir, sondern auch eine ebensolche Jugendzeit mitgemacht. Ich habe in der ganzen Welt keinen Menschen, weder Verwandte noch sonst welche Angehörige, an die ich mich in meiner grössten Not wenden hätte können. Mein bisheriges Leben, d. h. bis zu dem Zeitpunkt meiner Verehelichung, war in jeder Hinsicht zerfahren und haltlos."3
Schmidt wird am 26. Februar 1901 in Wien geboren, der Vater Florian Schmidt ist gelernter Sattlergehilfe, arbeitet aber als Anstreicher im Betrieb seines Bruders Albert im 15. Wiener Gemeindebezirk.4 Er stirbt mit nur 32 Jahren im März 1903 an Lungentuberkulose, am 2. Februar hat er seine Lebensgefährtin Aloisia Binder geheiratet und den gemeinsamen Sohn als eheliches Kind anerkannt. Aloisia ist gelernte Schneiderin, wie Florian Schmidt heimatzuständig nach Niederösterreich. Nur vier Jahre später stirbt auch sie.5 Mutter und Sohn sind kurz zuvor in eine neue Wohnung übersiedelt. Aloisias Lebensumstände nach dem Tod des Ehemanns sind unbekannt, ungeklärt bleibt auch, warum der sechsjährige Johann in ein Waisenhaus nach Linz gebracht wird. Er besucht dort die sechsklassige Volksschule und erinnert sich an die landesweit übliche streng-religiöse Erziehung.6 Mit zwölf Jahren wird er einem Bauern in Wallern im Kreis Wels zur Pflege übergeben. Bei ihm und ab 1916 bei zwei anderen Bauern der Region ist er bis zum Kriegsende als Hilfsknecht tätig. Die prägende Erfahrung dieser Jahre ist der Hunger - eine Erfahrung, die er seinem Sohn ersparen will und die in seinen Briefen wiederholt zur Sprache kommt: "Du hast noch nie Hunger gespürt, Du weißt noch nicht wie Hunger weh tut."7
Abb. 2: Aufenthaltsbewilligung für Zürich, 1929
Mit einer Einreisebewilligung für Tirol kommt Johann 1919 auf Arbeitssuche nach Kufstein und ist zunächst im Handelsbetrieb der Familie Reisch tätig.8 Erst 1926, nach wechselnden Beschäftigungen als Hilfsarbeiter und Knecht, gelingt es ihm, eine feste Anstellung als Maurerlehrling bei der Kufsteiner Baufirma Zanier zu finden. Im April 1929 nimmt Schmidt über Vermittlung des Arbeitsamts eine Stelle in einem Züricher Bauunternehmen an, befristet durch eine nur für sechs Monate erteilte Aufenthaltsgenehmigung.
Im März ist sein Sohn zur Welt gekommen und die Arbeit in der Schweiz bietet eine willkommene Verdienstmöglichkeit. Er kehrt nach Schwoich zurück, in eine Region, deren Industrieorte Wörgl, Kirchbichl und Häring von der Wirtschaftskrise hart getroffen werden: ein "Notstandsgebiet", schreiben die Zeitungen, mit im Landesvergleich besonders hoher Arbeitslosigkeit als Folge von Betriebsschließungen.9 In Schwoich stellt die Perlmooser AG 1931 die Zementproduktion ein, mit Ende des Jahres 1932 werden 51 Arbeitslose im Ort registriert. Die Baubranche leidet besonders: Öffentliche und private Investitionen bleiben aus, Bund, Länder und Gemeinden verfolgen eine restriktive Budgetpolitik. Schmidt, wie so viele, ist auf Arbeitslosen- und Notstandsunterstützung angewiesen. Im Herbst 1933 untersucht die Arbeiterkammer Innsbruck die Lebensverhältnisse von Arbeitslosen: Sie benötigen durchschnittlich 76 % des ihnen wöchentlich zur Verfügung stehenden Geldes für Lebensmittel. Fleisch, Butter und Bohnenkaffee sind für die meisten völlig unerschwinglich, Miete und Heizung kaum leistbar.10 Im Dorf sind die Lebenshaltungskosten niedriger als in Innsbruck und den Bezirksstädten, vielleicht erhält Anna Unterstützung von ihren Geschwistern und Johann Schmidt kann Gelegenheitsarbeiten bei Bauern im Dorf verrichten.11 Immerhin gelingt es, mit Ersparnissen aus den vorangegangenen Jahren seiner Berufstätigkeit einen bescheidenen Hausstand zu gründen. Mit Anna und Hans beginnt nach der Heirat im Februar 1930 ein trotz der Armut glückliches Leben, von dem seine Briefe aus Estland und später aus der Haft zeugen.
Das Kriegstagebuch verrät umfassende historisch-politische und geografische Kenntnisse, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hat. Wann diese Lektüre (und seine Lebenserfahrung?) ihn zum überzeugten und unbeirrbaren Kommunisten gemacht haben, muss offenbleiben. Anna Schmidt wollte sich in dem 1976 geführten Gespräch mit Fritz Kirchmair erinnern, dass er in der Zeit seines Aufenthalts in der Schweiz mit marxistischem Gedankengut in Berührung gekommen sei. Schmidt selbst gibt im ersten Verhör nach seiner Verhaftung im August 1942 an, dass er bis 1932 völlig uninteressiert an Politik gewesen sei, die schwere Arbeit dafür auch keine Zeit gelassen habe. Im Umfeld des Arbeitsamts jedoch, im Kontakt mit anderen Arbeitssuchenden, habe er kommunistische Schriften kennengelernt. Immer wieder habe er auch Aufrufe zur Teilnahme an Versammlungen und Demonstrationen erhalten, sodass er schließlich im Sommer 1932 der Partei beigetreten sei.
Abb. 3: Johann Schmidt (um 1930)
Über die Geschichte der Kufsteiner Kommunisten in den Nachkriegsjahren ist wenig bekannt. Die Ausrufung der Räterepublik im benachbarten Bayern im Frühjahr 1919 hatte die lokalen Behörden jedenfalls in Alarmbereitschaft versetzt: Ein Übergreifen des "Spartakismus" auf die Grenzstadt sei nicht ausgeschlossen, eine von bolschewistischen Kreisen angezettelte Revolte angesichts der angespannten Lage zu befürchten, die Einrichtung einer Bürgerwehr notwendig.12 Im Sommer 1922 wollte die Rote Fahne von Anzeichen für erfolgreiche Agitation im Unterinntal erfahren haben und meldete die Gründung einer Ortsgruppe in Kufstein, die aber weder bei den Gemeindewahlen des selben Jahres noch bei den Gemeindewahlen 1928 in Erscheinung trat.13 Größeren Zulauf erfuhr sie erst in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den sich verschärfenden Fraktionskämpfen in den Reihen der Kufsteiner Sozialdemokraten. Sie führten im September 1932 zum endgültigen Bruch des linken Flügels der Partei unter der langjährigen und streitbaren Funktionärin Adele Stürzl mit der Stadtparteileitung. Die Fabrikarbeiterin Stürzl, aus Wien gebürtig, hatte sich nach ihrer Übersiedlung nach Kufstein in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) engagiert, das Frauenreferat geführt und den Fürsorgeverein Hilfsbereitschaft gegründet. Am 29. September 1932 erklärte sie ihren Parteiaustritt und schloss sich der im Sommer des Jahres wiedergegründeten Ortsgruppe der KP an. Ihr Auftreten bei Arbeitslosenversammlungen und die offene Konfrontation mit den Sozialdemokraten sorgten für Zulauf: Im November des Jahres soll die Ortsgruppe bereits 100 Mitglieder gezählt haben.14
Unter der Führung Stürzls setzte sie auch nach dem Verbot der Partei im Mai 1933 ihre Tätigkeit fort, Stürzl wurde mehrmals...
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