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München, Maximiliansanlagen, 6:05 Uhr
»Na, wenn das so weitergeht, dann ruft Sie noch der Bundestrainer an«, begrüßte die Putzfrau Stefan Huber lachend im Erdgeschoss, als dieser kurz nach Sonnenaufgang die kleine Altbauwohnung in München-Haidhausen verließ. Die Stufen aus dem dritten Stock abwärts hatte er im Laufschritt genommen und trat nun mit Schwung auf den Bürgersteig.
Menschenleer war die Stadt, ruhig, so wie er es mochte, bevor der Trubel des Tages begann. Das war es ihm wert, eine Stunde früher als üblich loszulaufen und den Luxus zu genießen, nur einmal die Straße überqueren zu müssen, um in das satte Grün der Maximiliansanlagen im Herzen Münchens einzutauchen. Bei Sonnenaufgang erschien die Stadt friedlich wie ein schlafender Riese kurz vor dem Aufwachen.
Nachdem in den vergangenen Jahren zunächst Klimaproteste und dann die Maßnahmen in der Coronakrise sowohl das Stadtbild im Sommer als auch die öffentliche Debatte geprägt hatten, so war dies zumindest in den letzten Wochen vom Schwarz-Rot-Gold der Fahnen und Trikots der Fußballfans verdrängt worden. Die Europameisterschaft war in vollem Gange, und die Fußballbegeisterten hatten München fest im Griff. Fans belagerten tagsüber die Straßencafés und tummelten sich in den Stadtparks. Heute stand ein spannendes Spiel an, die Stadt würde später wieder aus allen Nähten platzen.
Gleich geblieben war die Hitze, die so rekordverdächtig wie in den Jahren zuvor auf der Millionenstadt lastete. Wer Sport treiben wollte, der musste früh aufstehen, um nicht mit einem Hitzschlag in den Tag zu starten.
Vor der Ampel an der Max-Planck-Straße ließ Stefan der Trambahn die Vorfahrt. Ihr Gebimmel registrierte er mittlerweile kaum mehr, seit er es ständig direkt vor seinem Zimmerfenster hörte. Sein Blick folgte der spärlich besetzten Bahn auf ihrem Weg Richtung Maximilianeum, dem Sitz des Bayerischen Landtages. Den umkurvte sie geschmeidig und fuhr weiter über die Isar hin zur Maximilianstraße.
Die Prachtstraße war zu einem Symbol der Entwicklung Münchens geworden: edel und teuer, mit exklusiven Geschäften und Lokalen gespickt, die für den Normalbürger kaum erschwinglich waren. Dies galt mittlerweile ebenso für die Wohnungen in der Innenstadt, sodass eine Boulevardzeitung unlängst berichtet hatte, dass nicht nur die Einkaufsstraße, sondern auch Wohneigentum in der Stadt zu einer Spielwiese für Ölscheichs verkommen sei.
»Wird unser München verkauft? Kein Platz für echte Münchner in ihrer Stadt!«, hatte die Zeitung getitelt. Ein Stückchen Wahrheit war da bei aller Übertreibung doch dran. Kleine Wohnungen in der Innenstadt waren Mangelware. Stefan hatte echtes Glück, dass der Bayerische Landtag für Abgeordnete Apartments im näheren Umkreis zu bezahlbaren Mieten anbot.
Seit Kurzem war das Maximilianeum sein Arbeitsplatz und beeindruckte ihn jeden Morgen von Neuem. Der imposante Bau am Isarhochufer war hundertfünfzig Meter breit und im Renaissancestil mit Rundbögen, Säulen, Mosaiken und Büsten gestaltet. Eingerahmt von zwei offenen Turmarkaden, stellte er auch architektonisch eine der Hauptattraktionen der Landeshauptstadt dar und durfte bei keiner Stadtrundfahrt mit den Hop-on-hop-off-Bussen fehlen.
Derzeit gehörten auch Absperrgitter, Baumaschinen und Arbeiter zum Erscheinungsbild. Das neue Besucherzentrum, das dem Anspruch eines der offensten Parlamente der Welt gerecht werden sollte, war ein Prestigeobjekt, das überregional Beachtung fand. Weniger repräsentativ, aber ebenso aufwendig und drängend war die Sanierung der Kellergewölbe und weitläufigen Katakomben im Untergrund des Maximilianeums.
Nicht nur die Aufgaben des Parlaments und die an es gestellten Ansprüche hatten zugenommen, auch der Landtag selbst war gewachsen. Nach der letzten Wahl kamen zwei neue Fraktionen und durch Überhangmandate zwei Dutzend zusätzliche Abgeordnete hinzu. Für diese, aber auch für die Landtagsverwaltung war mehr Platz notwendig geworden.
Auf mindestens eine der neuen Fraktionen, die Rechtspopulisten, hätte Stefan wie seine Kollegen der konservativen Landtagsfraktion gut und gerne verzichten können. Er war zwar erst neu im Parlament, aber die Scharmützel mit den Populisten waren weder hilfreich noch für den Bürger ein Gewinn, so viel konnte er schon nach wenigen Monaten feststellen.
***
Die letzte Zeit war ja wirklich im Flug vergangen, sinnierte er gerade, als er im Laufschritt in die Maximiliansanlagen auf der anderen Straßenseite einbog, den kleinen Fußweg seiner morgendlichen Stammstrecke ansteuerte und Geschwindigkeit Richtung Isarufer aufnahm.
Heute würde es spannend für ihn. Mit dem Entwurf zur Förderung des Ehrenamtes würde in erster Lesung ein Gesetz im Parlament beraten, an dem er direkt beteiligt war. Als passionierter Feuerwehrler hatte er im Ausschuss die Berichterstattung übernommen. Was auf den ersten Blick nach einer einfachen Anpassung des bestehenden Gesetzes aus den 1980er Jahren an das 21. Jahrhundert klang, stellte sich schnell als mühsame Kleinarbeit mit vielen Anhörungen und Gesprächen heraus, denn sowohl Verbände als auch die eigene Fraktion, der Koalitionspartner und nicht zuletzt das zuständige Staatsministerium mussten überzeugt werden.
Hoffentlich würde das heute gut gehen . Stefan war doch etwas nervös angesichts seiner ersten größeren Rede im Parlament. »Das wird deine Feuertaufe«, hatte er sich schon anhören dürfen.
Beim Laufen bekam er seine Nervosität erfahrungsgemäß am besten in den Griff. Aber es gab auch einen handfesten Grund für seine sportlichen Aktivitäten: Wie alle anderen Neulinge im Parlament kannte Stefan auch die Sprüche »Acht Kilo pro Legislaturperiode« oder »Mindestens zwei Kilo pro Jahr«, die man in dem Job zunehmen würde. Und leider musste er bestätigen, dass sie nicht zu weit hergeholt waren und er zwar schon an Erfahrung, aber eben auch an Gewicht zugelegt hatte. Daher hatte er die Reißleine gezogen und sich vorgenommen, wieder regelmäßig Sport zu treiben. Und so joggte er gerade seine übliche Strecke die Isar nordwärts, am Friedensengel vorbei und meist in einer Schleife wieder zurück.
Fast kühl kam es ihm vor, trotz der bereits knapp über zwanzig Grad Celsius, wie ihm seine Smartwatch neben den absolvierten Schritten und dem Puls anzeigte. Nach wenigen hundert Metern passierte er das Maxwerk, eines der ältesten noch betriebenen Wasserkraftwerke Bayerns, das aber wohl die wenigsten als solches erkennen würden, da es als barockes Jagdschlösschen gebaut war.
Stefan atmete tief durch, sog die frische Morgenluft ein und genoss die Ruhe, nur unterbrochen vom Gezwitscher der Vögel und dem Rauschen der Isar an der Schwindinsel unterhalb der Maximiliansbrücke. Mitten in Gedanken über die anstehende Rede wollte er den Lauf beschleunigen, als sich ein anderes Geräusch hinzugesellte.
Ein dumpfes Poltern und Ächzen, von dem er zunächst glaubte, dass es von den Turbinen herrührte. Als es jedoch von Stöhnen und Schreien abgelöst wurde, verlangsamte er den Schritt. Aus dem Augenwinkel sah er im Vorbeilaufen, woher es kam: Hinter dem Jagdschlösschen bewegten sich zwei Gestalten, die miteinander rangen! »Hilf-« Die Stimme erstarb, was Stefan sofort abbremsen und sich umdrehen ließ.
Noch etwas außer Atem musterte er die Seiten des mit Graffiti verunstalteten Gebäudes. Hatte er es sich eingebildet? Nein! Ein Bein wurde in diesem Augenblick um die Ecke gezogen. »Hallo, halt!«, rief er unbeholfen, bevor er nach einem herumliegenden Ast griff und sich zum Maxwerk wagte. Noch einmal rief er und schlug mit dem Ast gegen die Wand, als ob er einen Bären mit Lärm vertreiben müsste. Sicher waren es Jugendliche, die einen der Obdachlosen in den Anlagen ärgerten, wie man es zuletzt immer häufiger gehört hatte, schoss es Stefan durch den Kopf.
Mit einem lauten Schrei sprang er um die Ecke - und da sah er ihn. Am Boden wand sich eine gekrümmte Gestalt, die stöhnend die Hände über den Kopf hielt. In der Tat ein Penner, stellte Stefan fest, so verdreckt, wie er aussah. Aber wo war die zweite Person, wo waren die Jugendlichen? Nervös blickte sich Stefan um. Nichts.
Als er sich niederkniete und den zitternden Körper vor ihm berühren wollte, knackte es hinter ihm, und er wirbelte herum. Gerade noch rechtzeitig, um den Rücken einer schwarzen Gestalt zu erkennen, die mit schnellen Schritten den Hang hochsprintete. Stefan rappelte sich auf, stolperte über ein paar achtlos auf die Wiese geworfene Flaschen und verlor damit wertvolle Zeit. Mit aller Kraft rannte er dennoch hinterher, über die Fußwege hastend, den kleinen Hügel hinauf, aber als er schwer atmend oben auf die Maria-Theresia-Straße trat, war niemand mehr zu sehen.
Sofort machte er kehrt zurück zum Maxwerk, um dem Verletzten zu Hilfe zu kommen. Diesen fand Stefan zusammengekrümmt an der Mauer liegen, die Knie in der dunkelblauen Arbeitshose bis an die Brust gezogen, umklammert von braun gebrannten Armen. Er überlegte, ob es nicht doch ein Betrunkener war, der eingeschlafen war. Aber wie passten da der abgenutzte Bleistift und der Meterstab in der Seitentasche der Hose dazu? Da sah er es: Der Hinterkopf war nicht von Dreck, sondern von Blut verkrustet. Vorsichtig drehte er den Mann um und versuchte, ihn zu Bewusstsein zu bringen.
»Hallo? Können Sie mich hören?«, sprach Stefan ihn an.
Dieser riss urplötzlich die Augen auf, hustete laut und packte ihn mit beiden Händen am Shirt. Mit unbändiger Kraft zog er den überrumpelten Abgeordneten ganz nah an sich heran und stieß abgehackt heraus: »Keller . Ring .«
»Was meinen Sie? Ich verstehe nicht .« Stefan versuchte...
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