Schweitzer Fachinformationen
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NED LIEGT IM KLEINEN Leuchtkreis der solarbetriebenen Lichterkette um sein Bett. Rotblaugrünorange - an, aus. An. Aus.
Er versucht, sich unter der Decke auszustrecken. Diese ersten paar Augenblicke des Tages sind immer voll einer bestimmten Art von Verzweiflung: Sein Bein tut weh, hat den ganzen Winter hindurch wehgetan. Der Unfall war zu Beginn des Herbsts passiert, das Quad war im Matsch ins Rutschen gekommen und auf ihn draufgefallen. Siebenfacher Beinbruch. Das Ende einer Ära. Wochenlange Physio im Krankenhaus, jetzt soll er die Übungen jeden Morgen zu Hause machen, aber es ist noch zu kalt, um sie richtig auszuführen und außerdem ist nicht genug Platz im Bus. Also baut er auf eine andere Art von Medizin, um leichter in den Tag zu kommen.
Er hievt sich ins Sitzen. In dieser Position kommt er gerade eben so an den Bauch des Ofens heran, um ihn zu öffnen und ein Holzscheit auf die Glut zu werfen. Dann lehnt er sich vor, angelt sich die benutzte Kaffeekanne, kippt den Kaffeesatz in die schwankende Schüssel neben dem Spülbecken, gibt frisches Kaffeepulver in die Kanne, füllt mit Wasser auf und stellt die Kanne wieder auf die heiße Ofenplatte. Anschließend greift er nach seinen Rauchutensilien, sinkt in die Kissen zurück und versucht, wieder zu Atem zu kommen.
Er balanciert das Drehtablett auf seiner Brust, die Lesebrille vom Abend zuvor stets noch darauf, zieht das Papier heraus und beginnt, sich einen Joint zu drehen, während der Kaffee vor sich hin köchelt: eine Bud vom Feinsten, selbst angebaut, nur knapp zwei Meter von dort, wo er gerade sitzt, fünf Pflanzen, in einer Reihe am Rückfenster des Busses, wo sie das beste Licht bekommen.
Der Kaffee sprudelt und zischt, während Ned am Papier leckt, den Joint versiegelt, das obere Ende zudreht und ihn dann sorgfältig aufs Tablett legt. Dann gießt er sich Kaffee in die Tasse und verrührt ihn mit etwas Kondensmilch - Zucker und Milch in einem. Sieben Minuten dauert das Ritual alles in allem. Er zündet den Joint an, nippt am Kaffee, greift hinter sich und öffnet das Fenster weit. Schmerzlinderung, Stimmungsaufhellung, Prozac und Ibuprofen zusammen. Wer braucht schon die Pharmazie, wenn er das Arzneibuch hat?
Er raucht, er nippt. Draußen sind die Vögel mit ihrem allmorgendlichen Plausch beschäftigt - schon seit Tagesanbruch. Ihre Randale sind sogar bis in seine Träume vorgedrungen. Testosteron auf dem Höchststand für die kleinen Kerlchen jetzt.
Spürt er, dass der Joint allmählich wirkt und er sich etwas strecken kann, klopft er die Asche ab und klemmt sich den Rest hinters Ohr. Er reibt sich das rechte Bein, dann das linke, setzt sich auf die Bettkante und greift nach seinen Jeans. Er zieht sie an und streift sich seinen Wollpulli über das T-Shirt. Seit er fünfzehn war, trägt er immer dieselben Klamotten: Levi's und einen marineblauen Fischerpullover. Wird die Jeans dünn und bekommt Löcher, etwa alle drei Jahre oder so, wagt er sich nach Tunbridge Wells hinein und kauft sich eine neue.
Er schiebt die Füße in seine Stiefel und geht, langsam, vorsichtig, den Kaffee in einer Hand, die andere am Geländer, die drei Stufen zur Lichtung hinab, wo der Schwarzdornstock auf der kleinen Veranda auf ihn wartet. Es ist bedeckt an diesem Morgen, das sanfte Prasseln des Regens auf jungen Eichenblättern. Trotzdem liebt er es - und wie sehr er es vermissen wird, wenn er in seinem Grab liegt. Es ist wieder Mai, Beltane, die helle Zeit - die liebt er besonders.
Er geht zu einem Fleckchen Brennnesseln hinüber und pinkelt unter einiger Anstrengung. Es fällt ihm heutzutage immer schwerer, der Strahl nur ein dünnes Rinseln, so sanft, dass sich kaum die Blätter unter ihm beugen. Das Ziel: Alles raus. Aber immer das bleibende Gefühl, dass man sich nicht ganz entleert hat. Immer diese Anstrengung, die letzten Tropfen herauszupressen. Jeder Tag mittlerweile das Maß eines irgendwie gearteten Verlusts.
Er zieht den Reißverschluss hoch, nippt an seinem Kaffee.
Er begreift etwas, in dieser späten Phase des Spiels: Der Mensch altert nicht fortlaufend, sondern in Schüben. Du erleidest einen Rückschlag, einen Unfall oder etwas Ähnliches, und erholst dich ab einem gewissen Alter nie wieder ganz davon. Das Shifting-Baseline-Syndrom - das Syndrom der sich verlagernden Ausgangssituation. Sie sprechen viel davon, oben im Haus, und er weiß, was sie meinen: Er kann sich noch daran erinnern, dass die Nächte früher voller Motten waren, erinnert sich daran, wie sein Großvater von kilometerbreiten Heringsschwärmen sprach. Die riesigen Austernbänke, die die Gewässer um diese Inseln herum einst klar wie Gin machten. Kiebitze und Rauchschwalben en masse am Himmel. Der Grundgedanke ist folgender: Du gewöhnst dich an eine Knappheit, daran, dass etwas selten geworden ist. Du denkst, dass es immer schon so gewesen ist. Du kannst die Verluste, die du nicht siehst, nicht ermessen.
Aber er ist sich seiner eigenen sich verlagernden Ausgangssituation gewahr. Wie sie ins Bodenlose fällt. Wie er diesen Sturz irgendwie abfangen muss. Ihm ist in letzter Zeit klar geworden, dass er etwas tun muss, dass er so, wie er bisher gelebt hat, nicht mehr leben kann.
Sein Bus ist feucht. Die Wälder hier sind feucht. Der Fluss, der sie dazu macht, entspringt nur wenige Kilometer westlich von hier, ein Zufluss, der zum Medway wird und Kent durchschneidet, bevor er Rochester erreicht, sich in den Swale-Kanal ergießt und schließlich ins Meer mündet. Er hat sein Leben an einem Ende dieses Flusses begonnen und beendet es nun am anderen: 1948 in Chatham als Sohn einer jungen Mutter zur Welt gekommen, direkt nach dem Krieg. Sein Vater - ein Kesselflicker, Schneider, Soldat, Seemann, Reicher, Armer, Bettler, Dieb, such dir was aus. Sie hat es ihm nie gesagt. Aber schon bald nach seiner Geburt fand sie einen anderen Mann und bekam ein anderes Kind und gründete eine Familie, in der für ihn kein Platz war, und so nahm seine Großmutter ihn auf, Mary Lamb. Er wohnte in ihrem Hinterzimmer an den Chatham-Docks, besser bekannt als der Arsch Englands.
Und jetzt ist er hier, all diese Jahre später, an der Quelle eines Zuflusses des River Medway, in einem Feuchtwald, in einem feuchten Bus. Sechsundsiebzig Jahre alt, ohne Ersparnisse, ohne Versicherung, ohne Kinder und ohne Haustiere: mit nichts außer dem, was er immer schon hatte - seinen Händen. Seine einzige Lebensversicherungspolice steht kurz davor, Gestalt anzunehmen, fünfhundert Meter weiter in den Wald hinein, in einem Teil des Anwesens, wo sich außer ihm nie jemand aufhält. Höher gelegen als hier. Es hat geschafft, es geheim zu halten, bis Rowan gestern zufällig über ihn gestolpert ist. Er wusste, dass es früher oder später passieren würde. Etwas später wäre ihm lieber gewesen - aber na ja.
Er baut die Hütte mit der Hilfe eines Burschen aus dem Dorf. Guter Junge. Cleverer Junge. Er kommt jeden Tag, um ihm bei der Grundstruktur zu helfen. Man braucht keine Baupläne, wenn man kein Fundament legt. Und so hat er auch keinen Grundriss gezeichnet, den hat er im Kopf. Es wird eine kleine Hütte, nur drei Zimmer. Eine Veranda. Aber wunderschön gebaut - gebaut, um zu überdauern: auf Pfählen, damit er nicht im Wasser sitzt, sollte der Fluss über die Ufer treten. Nicht weit vom Zufahrtsweg entfernt, der wiederum nah an der Straße liegt, falls einmal ein Krankenwagen kommen muss. Er hat jetzt auch an so etwas zu denken - stundenlang lag er unter dem Quad, bevor ihn jemand fand. Das kann er nicht noch einmal riskieren.
Hier kommt niemand lebend raus - und da drüben, auf einer Werkbank unter seinem Pultdach, liegt der beste Beweis dafür: Philips Sarg, zwei Meter zehn geflochtene Weide.
Er hat die Weide im Winter geschnitten, unten am See, als klar war, dass sich Philip allmählich verabschiedete. Er hat die Rinde abgezogen, die Zweige abgekocht und diese dann am Ofen im Bus getrocknet und zu Bündeln geschnürt. Als Philip schließlich ging, vor drei Wochen, bot er Frannie an, den Sarg zu flechten.
Weißt du denn, wie so was geht?, hat sie ihn gefragt.
Wenn du einen Zaun flechten kannst, hat er ihr geantwortet, kannst du auch einen Sarg flechten.
Und das stimmte: ein simpler Sperrholzboden, in den man Löcher für die Seitenstäbe bohrt, Seitenstäbe rein, die Weide einweichen, um sie biegsam zu machen, dann flechten.
Außerdem,...
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