Schweitzer Fachinformationen
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Wenn wir sagen, daß wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt.
Unsere Straße scheint also eine Straße des Anfangs und des Ankommens zu sein, bevor man nämlich in die besseren Viertel umzieht, die ruhiger sind und in deren Häusern nur zwei, drei Parteien wohnen, Häuser, die von kleinen oder größeren Gärten umgeben sind und in der Nähe von Parks liegen oder des Europa Parlaments, oder aus deren Fenster man einen Blick auf die Kathedrale hat oder auf die Ill, die ein Nebenfluß des Rheins ist und die Altstadt von Straßburg einschließt.
Von alldem hat unsere Straße gar nichts, Bäume oder Sträucher oder sonst etwas Grünes gibt es in unserer Straße nicht, keine Gärten, keine Parks in unmittelbarer Nähe, kein Europa Parlament, keine Kathedrale und keine Ill, dem Blick bietet sich nichts als die baumlose Straße und die gegenüberliegenden Häuser, von denen einige sehr häßliche Betonklötzer sind, schnell in eine Baulücke gesetzt; eine Freundin, die mit ihren Eltern hier auch am Anfang gewohnt hat, erinnert sich noch, daß sie als Kind in einer solchen Lücke Ball spielte.
Als wir einzogen, am Anfang, vor langer Zeit, sagten wir ja auch, das Haus ist häßlich, die Straße triste, die Gegend öde, nahe dem öden Neubauviertel, wir ziehen jetzt nur schnell ein, damit wir erst einmal einen Platz für uns und die Kinder und unsere Kisten und Kartons haben und unsere Koffer auspacken können, nach Wochen, in denen wir in provisorischen Unterkünften nur aus dem Koffer gelebt haben, und danach, bald, in den nächsten Monaten, werden wir in Ruhe eine neue Wohnung in einer anderen, schöneren Gegend suchen. Und haben nur das Nötigste ausgepackt, Küchengerätschaften und Kleider und Spielsachen und Bücher. Vieles andere ließen wir in den Kisten und Kartons liegen, wo es zum Teil immer noch liegt, denn wir sind hier nie ausgezogen und wohnen heute noch in der Straße, in der man eigentlich nur »am Anfang« wohnt.
Wahrscheinlich ist unsere Straße eine der östlichsten Straßen Frankreichs, denn sie liegt am östlichen Rand der Innenstadt, wo es nach Deutschland hinübergeht. In der Zeit, als Straßburg deutsch war, wurden gerade hier, in unserer Straße, die allerersten Sozialbauten der Stadt gebaut, ein Komplex aus hundertundeiner Wohnung im Stil der Gründerzeit, ein wohltätiger Bürgermeister hatte testamentarisch das Geld dafür gestiftet; nach ihm ist der Komplex Cité Spach benannt und wird heute von der SoCoLoPo, ja, so heißt dieser Verein, das ist natürlich eine Abkürzung, verwaltet, wie man auf einer dort angebrachten Plakette lesen kann. Nachdem die Fassaden vor zwanzig Jahren in hellem und dunklem Ocker restauriert und den Wohnungen Badezimmer eingebaut worden sind, erhielt das Ganze gleich die Weihe eines historischen Monuments, es steht seitdem unter Denkmalschutz und sieht natürlich viel schöner aus als die häßlichen neuen Betonklötzer und auch als unser Haus. Wenn ich jemandem den Weg zu uns beschreibe, sage ich immer, du findest es ganz leicht, unser Haus, denn es ist das zweithäßlichste Haus in der ganzen Straße, das häßlichste steht gegenüber und gehört der Telekom.
Der Zugang zu dem historischen Komplex der hundertundeins Wohnungen von unserer Straße sieht wie eine Einfahrt aus, ist aber in Wirklichkeit keine und deshalb unser bester Parkplatz, von uns »die falsche Einfahrt« genannt, gegenüber einem winzigen Restaurant, das sich irgendwie italienisch gibt und das wir »Tomate« nennen. Die »falsche Einfahrt« ist oft verstellt mit Sperrmüll, alten Kühlschränken, Matratzen, halben Wohnungseinrichtungen oder bloßem Müll, da sieht es dann dort fast nach Slum aus. Noch dazu stehen in der kleinen Straße, die den Komplex durchquert, Tag und Nacht Dealer herum, und zwar unmittelbar neben der Kinderkrippe; seit Jahrzehnten ist das schon so, die Kinderkrippe und die Drogenszene existieren friedlich nebeneinander, die Krippe hat in der Stadt sogar einen sehr guten Ruf, es scheint, auch die Dealer und die Mütter leben unter einer Art Denkmalschutz, in einer Entente, die noch nie gebrochen worden ist. Das chinesische Ehepaar allerdings, die Besitzer des Restaurants Fleur de lotus am anderen Ende des Durchgangs, wurde neulich ermordet in der Küche gefunden; der Bruder der Frau soll diese Tat mit den Küchenwerkzeugen, den gewetzten Messern und einer Fleischhacke, vollbracht haben, auf eine ganz grausliche Weise, es habe in der Küche wie in einem Schlachthaus ausgesehen, wurde erzählt. Ein paar Tage danach lagen Blumen und brannten Kerzen vor dem geschlossenen Restaurant Fleur de lotus.
Autos haben in unserer Straße aber nur einmal gebrannt, es ist noch kein richtiges Ghetto hier, sondern nur eine sehr gemischte Gegend. Allerdings hauchen oft uralte Autos, vorsintflutliche Modelle mit antiken Nummernschildern, ihr Leben in unserer Straße aus, als seien sie hier zum Sterben abgestellt, und erst nachdem sie vollständig Stück für Stück ausgeräumt worden sind, läßt die Gendarmerie die Wracks schließlich abschleppen.
Am nördlichen Ende der Straße ist eine ehemalige Kaserne vor einigen Jahren in eine European Business School umgewandelt worden, von uns Wiwifak genannt, wie die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in Berlin-Karlshorst, wo ich als Kind wohnte, genannt wurde; sie befand sich auf der anderen Seite des durch S-Bahn-Gleise getrennten Berliner Bezirks, »hinter dem Bahnhof«, wohin wir von »vor dem Bahnhof« eigentlich nie einen Fuß setzten, so daß wir die Wiwifak nur vom Hörensagen kannten. Natürlich gibt es auch hier in Straßburg Stadtviertel, die ich noch nie betreten habe und deren Bewohner mir noch mehr als Ausländer vorkommen als die Leute von dem fremden Volk mit der noch nie gehörten Sprache, die im Nebenhaus wohnen.
Am südlichen Ende der Straße befindet sich die École internationale, und der Universitätscampus liegt auch nicht weitab. Von den beiden Nebenstraßen, die von unserer Straße abgehen, führt die eine zur Brasserie de l'observatoire und die andere zur Haltestelle der drei Straßenbahnlinien, die in die Innenstadt und die fernen äußeren Stadtteile führen, die wir nie betreten.
Viele Völker wohnen in unserer Straße, und man hört sie in vielerlei Sprachen sprechen. Abgesehen davon, daß die ganze Gegend mit der Zeit immer mehr zu einem jüdischen Viertel geworden ist, liebevoll das zweite Ghetto genannt, leben hier sehr viele Araber, Türken und Kurden, dazu Schwarze in allen Abstufungen von Schwarz, die oft in bunten langen Kleidern und hoch aufstehenden Kopfgebinden daherkommen, und manchmal sieht man auch einen schwarzen Priester im langen, schneeweißen Gewand mit einem goldenen Kreuz darüber durch unsere Straße eilen. Es gibt Pakistani, Inder und Sikhs mit Turbanen und Frauen in Saris, Asiaten, die vielleicht Chinesen oder Japaner oder Koreaner sind, das kann ich nicht erkennen, Portugiesen, Russen und andere Osteuropäer, Albaner, Rumänen, Bosnier. Aber sie drängen sich hier nicht wie in einer Großstadt, Paris etwa, sie laufen gemächlicher und in geringerer Anzahl, wir sind ja hier in der Provinz. Seit dem Kopftuchverbot vor einigen Jahren, haben alle Formen der Verschleierung noch zugenommen, man sieht steife Burkas und fließende Schleiergewänder, doppelte und dreifache Schichtungen in Schwarz oder Dunkelbraun oder das wie ein Zelt wirkende völlige Verhängnis, manchmal auch einfach ein festgezogenes Tuch zu knallengen Hosen und Stöckelschuhen, am meisten aber kopftuchtragende Frauen in dicken unförmigen schwarzen oder braunen Kleidermänteln, bei denen der einzige Farbfleck von dem Werbeprospekt kommt, den sie in der Hand halten und so aufmerksam studieren, als sei es eine heilige Schrift. Sie treten meist als Gruppe auf, die die ganze Breite des Trottoirs einnimmt und sich einem unausweichlich entgegenschiebt, so daß nichts anderes übrigbleibt, als auf die Fahrbahn auszuweichen; da gibt es kein Arrangement, wie wir uns nun den Bürgersteig aufteilen, bitte, danke, Verzeihung, es geht schon, gern geschehen, nein, nur Flucht ist möglich. Wenn ihnen allerdings ein Mann ihres eigenen Stammes entgegenkommt, habe ich beobachtet, öffnen sie die Phalanx, springen geradezu auseinander, weichen zu beiden Rändern des Trottoirs aus und lassen ihn, in einer gut eingeübten Choreographie, vorbeigehen, als nähme er die Parade ab. Natürlich muß er dafür auch entsprechend aufgeplustert daherkommen; ist es nur ein alter marokkanischer Arbeitsloser, muß auch er auf die Straße ausweichen wie ich. Nach irgendeinem Gesetz der Wahrscheinlichkeit kann es auch passieren, daß ich zehn Minuten am Fenster stehe und nur eine einzige Gruppe sehe, nur Schwarze oder nur Verschleierte oder irgendeine andere bestimmte ethnische Gruppe.
Und schließlich leben außer den vielen Völkern auch noch jene hier, die wir das »andere Frankreich« nennen, die nämlich unförmig und dick, ohne savoir vivre, ohne Chic und Charme, mit struppigem Haar und in Pantoffeln übers Trottoir schlurfen und im SoCoLoPo-Komplex aus hundertundeiner Wohnung mit den Schwarzen und Arabern wohnen.
Wie auch sonst in der Weltgeschichte haben sich die Völker in verschiedenen Wellen hier niedergelassen. Die Juden kamen schon mit den Römern den Rhein herauf und haben mit ihnen in der keltisch-germanischen Rheingegend gesiedelt, dann kamen die Franken und Alemannen, viel später Portugiesen, Araber und Berber aus Nordafrika und Schwarze aus den ehemaligen Kolonien, Türken und Kurden, meistens über...
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