Schweitzer Fachinformationen
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Krämer bekommt die Hitze noch weniger als Hartenfels. Hartenfels schwitzt zwar wie er, aber ihm selbst ist außerdem noch schwindlig. Im Spiegel mag er sich gar nicht mehr ansehen, so rot ist sein Gesicht. Dabei hat er ganz schön abgenommen. Corona hat viele seiner Lieblingslokale dahingerafft, weshalb ihm gar nichts anderes übrig geblieben ist, als seine Ansprüche radikal herunterzuschrauben. Was von der Gastroszene, die überlebt hat, angeboten wird, schmeckt ihm in der Regel nicht. Es hat sich sowieso viel verändert bei ihm.
Krämer ist neuerdings mit Mandy zusammen. Mandy ist aus Kambodscha und hat sich als Trojanisches Pferd entpuppt. Dazu gehört, dass sie gar nicht Mandy heißt und ihren wahren Namen bis heute verschweigt.
»Viel zu kompliziert«, hat sie gleich am ersten Tag gesagt, damals in Reinickendorf, wohin ihn ein Fall verschlagen hatte.
Wenn Krämer heute gefragt wird, woher er Mandy kennt, sagt er deshalb immer: »Direkt aus der Einflugschneise.«
Der Flughafen Tegel ist zwar inzwischen stillgelegt, aber sie haben sich tatsächlich noch im ohrenbetäubenden Lärm landender Flugzeuge getroffen.
Von ihrem Namen abgesehen hat Mandy viele weitere Geheimnisse. Krämer hofft, dass er die meisten mittlerweile kennt, sicher ist er sich nicht. Da wäre zum Beispiel Kevin, ihr Sohn. Krämer und Mandy waren gerade in ein kleines Haus eingezogen, das sie für ihn und sich mitten in Wilmersdorf aufgetan hat, als sie damit herausrückte, dass sie ein Kind hat, quasi als Einzugsgeschenk. Kevin ist der Sohn des Mannes, der Mandy von Kambodscha nach Berlin geholt hat. Krämer hat in Phnom Penh aufgenommene Fotos gesehen, die die kleine, zierliche Mandy an einen dickbäuchigen Kerl geschmiegt zeigen, der mindestens 20 Jahre älter war als sie.
Genau wie ich selbst, hat Krämer gleich gedacht, unangenehm berührt von der Ähnlichkeit zwischen ihm und Mandys Exlover. Krämer hat sich damit beruhigt, dass sie beide ihrem Beuteschema entsprechen, weiß aber eigentlich gar nicht, was er damit meint. Dass Mandy auf fette, alte Typen steht? Wahrscheinlicher ist, dass fette, alte Typen Geld und eine Aufenthaltsgenehmigung versprechen. Doch daran will Krämer nicht denken. Er forscht nicht nach, obwohl er das natürlich könnte, weil er sich den Traum, den er träumt, seit er sie kennt, nicht kaputtmachen will. Krämer hat auch keinem einzigen Kollegen etwas davon erzählt.
Er hat Mandy nicht nur aus der Einflugschneise geholt, sondern buchstäblich von der Straße. Eigentlich ist sie sein Corona-Geschenk, wenn man das so sagen kann. Wenigstens etwas Gutes. Ohne Corona wäre Krämer nie im Leben auf die Idee gekommen, Mandy an seinen Tisch zu bitten, nachdem sie versucht hat, ihm irgendwelchen Plunder zu verkaufen, einschließlich einer Straßenzeitung namens Motz. Aber was blieb ihm anderes übrig? Außer Fine Dining hat das Virus auch Escortservices befallen, weshalb er allein in einer Pommesbude gehockt hat, ebenerdig und zur Straße offen, also wie auf dem Präsentierteller. Alles, was ein kleines bisschen Niveau hatte, war dicht.
Mandy war aus ihrem Zuhause rausgeflogen. So ganz verstanden hat Krämer bis heute nicht, warum. Bill, wie sie ihren Ex nennt, der bestimmt ebenfalls anders heißt, war sie angeblich leid geworden und betrog sie. Mandy erzählte gleich beim ersten Treffen, dass sie ihn deshalb zur Rede gestellt hatte und abserviert worden war. Krämer hatte sie gemustert und sich gefragt, wie ein Kerl, der 20 Jahre älter und viel zu fett war, ein Geschöpf wie Mandy leid werden konnte.
Als er sie kennenlernte, war Mandy so zierlich und zerbrechlich, dass er sich kaum traute, sie anzufassen. Das war auch der Grund, warum sie schließlich ihre Hand auf seinen Oberarm legte, das Universalzeichen dafür, dass man etwas will. Inzwischen hat sie ein bisschen zugelegt, sieht aber immer noch sehr zart aus, besonders neben Krämer.
Das Häuschen, das sie für sich und ihn gefunden hat, liegt inmitten eines geräumigen Innenhofs und ist genau wie sie ein kleines Wunder. Es hat drei Etagen, das Erdgeschoss eingeschlossen, die sich auf höchstens 80 Quadratmeter summieren, unten die Küche, in der Mitte das Bad und oben ein Schlafzimmer mit Balkon. Außerdem gibt es noch eine Terrasse mit kleinem Garten, was bei der Aussicht auf die Altbaufassaden, die ihn von allen Seiten einschließen und überragen, vollkommen skurril wirkt. Dazu kommt, dass man zwei Hinterhöfe durchqueren muss, bevor man Mandys Häuschen erreicht. Ein kleines Spukschloss, denkt Krämer manchmal. Mandy hat Angst, wenn sie die Nacht dort allein verbringt.
All das, sie selbst und ihr Schlösschen, hat auf Krämer lange Zeit so unwiderstehlich gewirkt, dass er geglaubt hat, im Lotto gewonnen zu haben. Bis das Trojanische Pferd seinen Bauch aufgemacht hat und Kevin zum Vorschein kam.
Kevin ist 14 und die Pest, Krämer weiß nicht, wie er mit ihm umgehen soll. Zumal er das Gefühl hat, dass Kevin ihn heimlich beobachtet und ihm Noten gibt. Wer weiß, wie viele fette, alte Kerle er in seinem Leben schon gesehen hat. Trotzdem hält Krämer den Mund. Obwohl er natürlich daran knabbert, dass Mandy kaum noch will, seit ihr Sohn das Schlafzimmer im dritten Stock bezogen hat und Krämer und sie auf einem Ausklappsofa in der Küche kampieren. Mandy sagt, es sei wegen der Aussicht.
»Welche Aussicht?«, hat Krämer gefragt.
»Jeder kann uns zuschauen«, hat sie geantwortet, und da ist was dran.
Wenn man davon absieht, dass Mandy und Krämer, wenn sie auf ihrem Sofa herummachen, das einem übergroßen Mund nachgebildet ist, dabei nicht wie Angelina Jolie und Brad Pitt aussehen.
»Wenn man auf fette, alte Kerle steht, die es mit kleinen Frauen treiben«, hat er gesagt, um Mandy in die Wirklichkeit zurückzuholen.
Und da hat Mandy zum ersten Mal in seiner Gegenwart geweint.
Krämer wusste nicht, wie ihm geschah. Ihr Schluchzen, das gar nicht mehr aufhören wollte und ihren winzigen Körper wie ein Erdbeben geschüttelt hat, hat ihn getroffen. Seitdem weiß er nicht mehr, ob er ihr vielleicht unrecht tut und sie tatsächlich etwas für ihn empfindet. Was er leider nach wie vor völlig unvorstellbar findet. Er ist ja nicht blöd. Aber wer weiß?
Krämer wirft einen Blick zur Seite und merkt erst jetzt, dass Hartenfels die Klimaanlage ausgemacht hat. Stattdessen fahren sie mit heruntergelassenen Fenstern, und die Luft, die zu ihnen ins Fahrzeug strömt, fühlt sich an, als käme sie direkt aus einem Föhn. Zu allem Überfluss hat Hartenfels das Schiebedach geöffnet, und die Sonne heizt den Innenraum des Autos zusätzlich auf. Immerhin tragen sowohl er als auch sein Chef Basecaps. Krämer hat seinen Zopf am Hinterkopf clever hindurch gefädelt, und Hartenfels hat sowieso keine Haare.
»Geht es um Amtshilfe?«, fragt Krämer, um irgendetwas zu sagen.
Er wird nicht einmal mit Hartenfels über Mandy reden, und das Radio laufen zu lassen, ergibt keinen Sinn, weil die Fahrgeräusche bei offenen Fenstern viel zu laut sind. Er muss schreien, damit sein Chef ihn überhaupt hört.
»Der Ermordete hat in Berlin gewohnt«, sagt Hartenfels, und Krämer muss zweimal nachfragen, bis er ihn versteht.
Er runzelt die Stirn. Das rechtfertigt noch lange keinen Ausflug ins Umland, überlegt Krämer. Sinnvoller und angemessener wäre es gewesen, sich in der Stadt umzusehen. Zum Beispiel in der Wohnung des Toten. Bei seiner Familie. Bei seinen Freunden. Das ist Amtshilfe, soweit er weiß.
»Sind wir angekündigt?«, startet er einen neuen Versuch, seinen Chef in ein Gespräch zu verwickeln, aber der antwortet nicht, lässt sich stattdessen warme Luft um die Ohren wehen.
Krämer gibt auf, reden sie eben nicht. Und überhaupt kann es ihm auch egal sein, wie Hartenfels Amtshilfe definiert. Vielleicht wollte er bloß mal raus aus Berlin, was er ihm nicht verdenken kann.
Krämer fährt inzwischen auf der Stadtautobahn und nähert sich der Stadtgrenze. Gleich werden sie ein Stück Straße ohne jede Geschwindigkeitsbegrenzung erreichen, dann will er doch mal sehen, ob sein Chef weiter die Nase in den Wind hält. Für die Basecaps wird es jetzt auf jeden Fall gefährlich.
»Ras nicht so«, knurrt Hartenfels, noch bevor Krämer richtig Gas geben kann, und er flucht innerlich.
Andererseits ist es auch ganz gut, nicht zu schnell zu fahren, denkt Krämer. So schwindlig, wie ihm ist, könnte ihm jederzeit schwarz vor Augen werden.
Also bremst er ab, was zu einem Hupkonzert hinter ihm führt und sogar die LKWs zwingt, ihn zu überholen. Hartenfels scheint es recht zu sein. Irgendwann hat sich der Fahrtwind so weit reduziert, dass sie sich unterhalten können, ohne zu schreien.
»Kennst du Meseberg?«, will Hartenfels wissen, während sie Oranienburg weiträumig umfahren, was Krämer für einen Segen hält.
»Da steht ein Schloss«, antwortet er, »und zwar ein echtes.«
»Gibt es auch unechte Schlösser?«
»Na gleich hier«, sagt Krämer und zeigt an Hartenfels vorbei aus dessen Fenster.
Das Oranienburger Schloss sieht zwar von außen aus wie ein Schloss, ist in seinen Augen allerdings bloß eine Attrappe. Er hat es einmal besichtigt und wurde von einer jungen Frau durch ausgewählte Räume geleitet. Im Rest sind Büros und Verwaltung untergebracht, glaubt er sich zu erinnern, gesehen hat er es nicht. Ganz nett ist der Park hinter dem Schloss.
»Meseberg ist zwar echt, aber das bringt einem auch nichts«, stellt Hartenfels fest.
»Stimmt«, meint Krämer, der ahnt, worauf sein Chef hinauswill.
Schloss Meseberg ist zwar nach allen Regeln der Kunst...
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