Schweitzer Fachinformationen
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Als der Protagonist in Patrick Holzapfels Debütroman Hermelin auf Bänken durch den neunten Wiener Gemeindebezirk läuft, geschieht etwas geradezu Unerhörtes: Er kommt vom geraden Weg ab, beginnt, den mäandernden Schritten eines in Hermelin gehüllten Obdachlosen zu folgen, und findet sich schließlich unvermittelt wieder - auf einer aus zwanzig dünnen braunen Holzplatten bestehenden Parkbank. Von hier aus, wo ihm die Zeit endlich aufzuhören scheint, entfaltet sich allmählich ein alternativer Stadtplan, den der Erzähler sitzend erkundet, denn: »Je länger man sitzt, desto mehr erfährt man über die Bank. Und zugleich erfährt man auch etwas über Menschen, die auf Bänken sitzen«; Menschen wie Manuela mit ihrer umfassenden, wenn auch völlig nutzlosen Kenntnis der Filmgeschichte, wie Yong, der über seine unzähligen Schachtriumphe schwadroniert, oder eben wie den Erzähler, der auf der Suche nach dem Hermelinkönig mit leisem Witz und Ironie selbst zum König wird und erkennt, dass jede Bank die Geschichte einer Person erzählt und ihre Leidenschaften, Ängste und Hoffnungen in einen Ausblick verwandelt.
Bank in der Wiese vor dem Eingang zum Erlaaer Friedhof. Extrem breite, einbrettrige Sitzfläche und deutlich schmalere Lehne, ebenfalls einbrettrig. Armlehnen als geschwungene, einteilige Guseisenbogen, im Boden verankert. Unsauber geteerter Asphaltweg führt zum verschlossenen Friedhofstor. Bank steht versetzt zum Weg in Wiese. Man blickt in grünes Gepflanz. Geraschel. Glaube, ein Eichhörnchen zu sehen, aber es ist nur eine Amsel. Umliegende Bäume werfen Schatten, höre einen Specht klopfen. Aufenthalt: drei Stunden. Keine weitere Bank zu sehen. Ich vermute: Bank dient den Toten, die auf Einlass in Friedhof warten.
Ich blicke auf. Da stehen nach wie vor die Lampenschirme im Schaufenster. Alte Glühbirnen, umrahmt von schlichten, farblosen Schirmgestellen, baumeln zur Beleuchtung der Stoffe und Plastiken von der Decke. Sie betonen die Zartheit der rundlichen Schirmformen. Die Anordnung der krempengleichen Lichtfänger ist so perfekt, dass ich deren Stofflichkeit zu greifen glaube. Ich stelle mir vor, wie es wäre, sie in den Händen zu halten. Ich stelle mir vor, sie zu tragen und über Lichter zu stülpen. Sie versprechen Geborgenheit. Ihre drallen Formen entsprechen jenen von sich um zerbrechliche Körper schließenden Armen. Ich sitze auf jener von der Straße abgewandten Bank. Der Sandlerkönig ist nicht hier. Ich warte. Das werde ich tun. Ich werde einfach sitzen bleiben, bis er auftaucht, und wenn er nicht auftaucht, dann gehe ich ins Lampenschirmgeschäft und frage, ob ihn wer gesehen hat. Er muss dem adrett gekleideten Mann, den ich vor einiger Zeit im Schaufenster gesehen habe, aufgefallen sein. Ein Sandler im Hermelinmantel fällt auf.
Ich bin müde. Die frische Luft macht das. Der Sommer endet nicht. Die Geschäftigkeit auch nicht. Ich kämpfe ein wenig gegen das Einschlafen. Der Rücken war auch schon besser. Aber so ist das. Ich könnte schlafen. Allerdings bemerke ich eine natürliche Deckung an mir, ich möchte nicht so wirken, als wäre ich ein Trunkenbold oder Obdachloser, der auf Bänken schläft. Das wäre nicht das, was ich unter dem Bankieren verstehe. Ich will gut aussehen, wenn ich sitze. Ich will wach sein, ganz gegenwärtig der Welt entrinnen. Also sitze ich die ganze Nacht und schlafe nicht. Ich traue mich nicht. Ich beobachte das, was in der Nacht geschieht: Die Geschäftigkeit ebbt langsam ab, dann wird es still. Die letzten Straßenbahnen fahren in ihre Hallen am Rand des Schienennetzes. Ein bisschen Nebel steigt auf, feuchte Schwaden vom nahen Donaukanal. Immer weniger Gestalten passieren die Bank. Je später es wird, desto mehr Blicke werden mir zugeworfen. Sie schauen, wie ich da so sitze, aufrecht und konzentriert in der Nacht. Niemand spricht mich an. Und der Hermelinkönig kommt nicht. Die Lampenschirme sind nun in Dunkelheit gehüllt. Das Dunkel legt sich selbst über die Körper, die sich über das Licht legen. Ich habe gesehen, wie der Besitzer, es muss der Besitzer sein, so sorgsam, wie er sich neulich um seine Lampenschirme im Schaufenster gekümmert hat, am Abend abgesperrt hat. Sobald er wieder aufsperrt, werde ich ihn ansprechen. Ich sehe ein schlangenförmiges Rattenrudel, das über den Bordstein wuselt. Es wird noch stiller. Von den Bänken aus hört man, dass es nie ganz still wird. Man nimmt alles deutlich wahr. Auf Bänken sitzend, erfühle ich die kleinsten Schwankungen der Temperatur, ich werde zum Windertaster, Regenriecher und erkenne Wolken, bevor sie entstehen. In dieser Nacht sehe ich, wie der dunkle Himmel sich minütlich von einer Blaustufe zur nächsten verfärbt. Das sich verabschiedende Licht verschwindet nie ganz. Es bleibt ein Fast-Nichts, eine schwache Zeichnung des vergangenen und kommenden Tages. Das Licht bleibt, ganz so wie eine, die geht, aber weiß, dass sie zurückkehren wird. Sie lässt ihre Sachen da, und alles riecht noch nach ihr, und ehe man sie vermisst, kündigt sich, mit einem fernen Schimmer, ihre Rückkehr an. Während einiger Minuten wird alles durchsichtig am Himmel. Man sieht dann durch einen obskuren Schleier und erkennt . nichts. Einige Eiswolken verdampfen in höheren Lagen. Ich spüre, dass mich wer beobachtet. Nicht von dort oben. Von unten. Unter den geparkten Autos bewegt sich etwas. Augen, die ich nicht zuordnen kann. Vielleicht ist es eine Katze, wobei die selten frei herumlaufen in Wien. Ich stehe kurz auf, lege mich seitlich auf den abgekühlten Asphalt und schaue unter die Autos. Ich sehe nichts. Da war aber etwas. Das Tier muss mir entwischt sein. So vergeht die Nacht. Es geschieht nicht viel, aber alles zählt. Jemand pfeift auf seinem Heimweg kurz vor dem Morgenrot. Ich kenne die Melodie. Dann wird es langsam Tag. Die Straßenbahnen kehren zurück. Schrilles Gebimmel. Manche Fenster öffnen sich. Ich sehe müde Gesichter auf die Straße blicken. Bevor der Lärm wieder seinen täglichen Pegel erreicht, höre ich noch die Spatzen und einige Möwen auf den Dächern. Dann wird das alles verschluckt von einer sich übereinanderstapelnden Gleichzeitigkeit. Alle tun so, als wäre nichts geschehen. Sie handeln, als hätte es keine Nacht gegeben, als wären sie und dieser Lärm nicht verschwunden gewesen für einige Stunden. Nur die Bank hat sich nicht verstellt in der Nacht, und auf ihr sitzend, bin auch ich der Gleiche geblieben. Wir beide teilen das Geheimnis der vergangenen Nacht. Als alle schliefen, haben wir über die Stadt gewacht.
Nach einiger Zeit kommt der Besitzer des Lampenschirmgeschäfts. Er sperrt auf und schaltet die von der Decke baumelnden Lichter in seinem Schaufenster an. Ich warte kurz, dann gehe ich ins Geschäft. Es kostet mich ein bisschen Überwindung. Ich spreche wenig in letzter Zeit. Bevor ich in dem für ein Lampenschirmgeschäft erstaunlich düsteren Raum etwas sehen oder sagen kann, dringt etwas in meine Nasenlöcher, das ich zu kennen glaube: süßlicher Mottengeruch! Der Ruch des Königs Hermelin. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Die Nacht war schließlich lang. Wobei das nicht stimmt. Sie war nicht länger als sonst. Ich habe nur nicht geschlafen.
Ich höre den Besitzer in einem Hinterzimmer. Es raschelt, und er stöhnt leise auf. Wahrscheinlich verräumt er etwas. Während ich auf ihn warte, schaue ich mich um. Zahlreiche dicke Teppiche bedecken den Fußboden. Auf kleinen Holztischen und Barhockern stehen Lampenschirme mit Preisschildern. Manche dieser Schilder sind vergilbt. Staubschichten bedecken die Möbel. Die Lampenschirme müssen schon lange so stehen. Der Raum gleicht mehr einem Museum als einem Geschäft. Ein Museum des abgeschwächten Lichts. Da tritt der Mann hervor. Er ist wieder äußerst fein gekleidet. Sogar ein Einstecktuch ziert sein Jackett. Als er mich sieht, setzt er eine dicke Brille auf. Er begrüßt mich mit die Brillengläser durchdringendem, wachem, zugewandtem Blick, bittet um Verzeihung. Er habe nach etwas gesucht, aber nicht gefunden. Das alles wäre in seinem Alter nicht mehr ganz so leicht. Womit er mir dienen könne, fragt er. Alles an ihm scheint einer vergangenen Zeit entwachsen zu sein. Seine Höflichkeit ist bestimmt. Sie hat nichts gemein mit der müde lächelnden, betont beiläufigen Freundlichkeit, die einem heute oft in Geschäften entgegentritt. Sein Gebaren ist reine Form, ohne Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Diese Form ermöglicht ein Zusammenleben ohne Enttäuschung. Man erwartet nichts vom Gegenüber, außer dass es sich ebenfalls an diese Form hält. Seine Person verschwindet hinter dieser Form. In ihm lebt das alte Wien.
Er spricht mit kaum merklichem osteuropäischem Akzent. Ich stelle mir vor, dass er einmal aus der Bukowina hergezogen ist. Oder aus Ungarn. Oder aus Fiume. Mehr getrieben als gezogen, aber stolz und mit einer Idee von Kultiviertheit. Wie überall sind es auch in Wien diejenigen, die nicht aus Wien stammen, die das Wesen der Stadt am besten begreifen. Ich sage ihm, dass ich eine vielleicht ungewöhnliche Frage habe: Ob ihm schon einmal ein Mann in einer Königsrobe aufgefallen sei auf der Bank vor seinem Geschäft. Selbstverständlich, selbstverständlich, entgegnet er. Er runzelt die Stirn und sagt, dass er ihn länger nicht gesehen habe. Daraufhin sprechen wir ein wenig über den Hermelinsandler. Viel weiß der Mann vor mir nicht. Es säßen und schliefen immer wieder Clochards auf der Bank vor seinem Laden. Das sei nicht gut fürs Geschäft. Gar nicht gut. Aber er könne nichts machen. Die Bank gehöre ihm nicht. Er wundere sich allerdings über den Mantel. Er sagt, dass er etwas von Hermelinfell verstehe. Ein Onkel habe früher in Muchtuja Hermeline geschossen und dann selbst zu Pelzen verarbeitet. Ein Kürschner der alten Schule. Eigentlich ein Pelzjäger. Das sei ein schönes gelbliches Fell gewesen. In den Sommermonaten habe er beim Gerben helfen dürfen. Der Onkel habe alles verarbeitet. Robben, Füchse, Murmeltiere. Aber nur die Wiesel und Hermeline...
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