Kapitel 4
Er wachte auf, als sich Angoras raue Katzenzunge an seinen Augenlidern zu schaffen machte. Verdammt! Er haßte dieses Vieh, aber seine Mutter hatte sie ihm vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt, mit den anzüglichen Worten: »Damit du was zum Kuscheln hast, Maria. Der Traum von Enkelkindern hat sich ja wohl langsam ausgeträumt.« Und obwohl Katzen ja eigentlich stolze Tiere sind, war es Angora völlig egal, daß Josef Maria Baumgarten sie jedes Mal, wenn sie allein waren, auf den Balkon sperrte, sie erst wieder reinließ, wenn Frauenschritte auf der Treppe zu hören waren.
Sie liebte ihr Herrchen abgöttisch, schleckte und leckte es mit Hingabe. Am liebsten im Schlaf, wenn er es nicht merkte, denn der liebe Gott hatte Angora als Sofarolle geschaffen, frische, kalte Luft war ihr deshalb zutiefst zuwider. Sie hatte die Nacht an Herrchens Bettende verbracht, was er zum Glück nicht registrierte, weil er wieder mal so betrunken nach Hause gekommen war, daß er Sekunden nach Matratzenberührung bereits zu schnarchen anfing. Angora, die geduldig unterm Bett gewartet hatte, war blitzschnell aufs Bett gesprungen und hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt. Ihr rechtes Ohr lag neben seinem linken großen Zeh. Beglückt schnupperte sie an seinem Nagel, kaute vorsichtig, ganz vorsichtig, daran herum, wandte sich dann aber angewidert ab. Ein beißender, unangenehmer Geschmack brannte auf ihrer Katzenzunge. Der Geschmack von Nagellack! Sie war in den äußersten Winkel gerückt und eingeschlafen.
Als sie jetzt, im Morgengrauen, aufgewacht war, rutschte sie pfötchensanft nach vorn und leckte zur Begrüßung zärtlich sein Gesicht. Seine große Nase, an den Flügeln etwas zerfurcht, das Grübchen an seinem Kinn, die breite Stirn mit den senkrechten Nasenwurzelfalten. Schlabber, schleck. Gerade ließ sie die Zunge über Herrchens Augenlidern schweben, als diese aufklappten und ein Ausdruck angeekelter Überraschung in seine Augen stieg.
»Scheiße, Mistvieh!« Mit brutalem Schwung warf Josef Maria Baumgarten das Fellbündel von sich. Unsanft landete Angora auf seinem zerknüllten Kleiderhaufen. Seine rotgeränderten Augen streiften den Wecker auf dem Nachttisch. Halb neun! In zehn Minuten mußte er in der Maske, in einer Stunde der erfolgreiche, superattraktive Klaus Bertelsmann sein!
Er stemmte sich schwungvoll aus dem Bett, als eine Welle der Übelkeit ihn zurücktaumeln ließ. Es waren gestern bei dieser grauenvollen Preisverleihung wohl doch ein paar Prosecco mehr geworden.
»Trink, Maria!« Lautlos hatte Bertha Baumgarten sein Zimmer betreten und stand jetzt mit einem Glas Wasser, in dem sie vier Aspirin aufgelöst hatte, vor seinem Bett. »Der Fahrer wartet schon. Deine Sachen liegen im Ankleidezimmer. Die siehst übrigens verheerend aus, mein Sohn. Dein Maskenbildner wird sich freuen.«
Da hatte Bertha ausnahmsweise recht. Das kann ja wohl bitte jetzt nicht wahr sein, dachte Raimund, als sich der beste deutsche Schauspieler, einer der wenigen, die eine Tagesgage von 10000 Euro bekamen, stöhnend in den Stuhl vor dem Schminkspiegel fallen ließ und seine dunkle Sonnenbrille abnahm.
»Ich will nichts hören, Raimund«, grunzte er nur. »Ich weiß selbst, wie ich aussehe.«
Wie ein ausgekotzter Männerarsch, Mr. Superstar. Aber Raimund verkniff sich jede Bemerkung und griff zur Grundierung. Behutsam, man nannte ihn nicht umsonst »die Samtpfote aus Blankenese«, tupfte er Josef Marias tiefe Augenschatten weg, die kleinen Krater auf den Nasenflügeln, die scharfen Furchen in den Mundwinkeln.
»'ne lange Nacht gehabt, Herr Baumgarten?« fragte er, nicht aus Höflichkeit, sondern damit der Wäschesack vor ihm nicht wieder einschlief. Befehl von Peter Bäder, der mit der Produktionsfirma, die diese Fernsehproduktion vorfinanzierte, keine Überstunden abrechnen konnte und dem deshalb sehr daran lag, seinen männlichen Star wieder funktionsfähig zu machen.
Durch dessen ständige Drehbuchänderungen waren sie sowieso drei Drehtage im Verzug ? Kosten, die er als Regisseur anderweitig wieder einsparen mußte. Bäder, in einer Ecke über Dispositionen gebeugt, seufzte tief. Baumgarten war einer der besten Schauspieler, mit denen er je gearbeitet hatte. Ein echter Vollblutmime, ein bißchen früher Emil Jannings oder Heinrich George. Raumfüllend, platzverdrängend. Leider gab es in der heutigen Zeit immer weniger Rollen für Schauspieler wie ihn. Sollte er Doktörchen spielen in einer dieser hirnverbrannten Krankenhausserien? Den Liebhaber mimen in einem Schwarzwaldschwachsinn, für eine dieser blutleeren, talentlosen Blondinen, die sich neuerdings für die deutsche Antwort auf Julia Roberts hielten? Wenn überhaupt, dann wäre eine Vollblutfrau wie die Loren eine passende Partnerin für ihn. Leider auch schon über sechzig. Bäder schüttelte den Kopf, um ihn freizumachen von trübsinnigen Gedanken, die ihm auch nicht weiterhalfen. Hier und jetzt mußte er seinen männlichen Hauptdarsteller so weit in Form bringen, daß er fähig war, die Schlüsselszene dieses peinlichen Melodrams Nur meine Liebe zählt hinzulegen.
Klaus Bertelsmann, der mächtige Tycoon, dem die Liebe zur Nachtclubsängerin Dorothee den Verstand vernebelt hatte, mußte seiner schwerkranken Frau Alicia alles gestehen. Eine sehr schwierige Szene, weil der Zuschauer diese Figur weiterhin sympathisch finden sollte. Noch schwieriger, wenn die schwerkranke Frau von Loni Gassmann verkörpert wurde, der beliebten Volksschauspielerin, die mit Mann und drei adoptierten Kindern fest im deutschen Zuschauerherzen verankert war. Da half es wenig, daß Bertelsmanns große Liebe Dorothee von Cleo Blume gespielt wurde, einer vierfach geschiedenen Mimin, deren riesengroßer Busen in umgekehrtem Verhältnis zu ihren schauspielerischen Mitteln stand. Sie war jedoch deutlich anderer Meinung und deshalb sehr anspruchsvoll auf dem Set. In ihrer Garderobe stand eine große Vase mit Lilien, die alle drei Tage erneuert werden mußten. Wenn auch nur ein Blatt heruntergefallen war, weigerte Cleo sich, ihre Garderobe zu verlassen. »Ihr denkt wohl, weil ich eine schwache, junge Frau bin, könnt ihr alles mit mir machen. Aber da habt ihr euch leider, leider getäuscht.«
Magenschleimhautzerfressende Arbeitsverhältnisse also, und er, Peter Bäder, war der Ringmeister. Er sollte die Peitsche schwingen, damit der Zirkus in Bewegung blieb. Wo zum Donnerwetter steckte der verdammte Baumgarten? Mit schnellen Schritten, mühsam beherrscht, ging er in die Maske, wo Loni Gassmann, auf leichenblaß geschminkt, eine Zigarette rauchte. Zwei ihrer Kinder, eine kleine Koreanerin, ein noch kleinerer Brasilianer, kauerten zu ihren Füßen und spielten mit ausrangierten Schminkutensilien. »Hallo, Peti«, grüßte Loni, sie war immer fröhlich, die Gute. »Sag mir, wenn ich mich ins Krankenbett legen soll, dann mach ich die Lulle aus.«
Bäder lächelte, obwohl er es haßte, wenn man ihn Peti nannte. »Du kannst ins Bett, wenn dein Ehemann sich imstande sieht, seine Beichte abzulegen«, sagte er, während er sich dem Stuhl am Ende des langen Schminktisches näherte, auf dem Baumgarten noch immer mit geschlossenen Augen saß. »Na, mien Jung, wie geht es uns?« Er stand jetzt neben ihm. Keine Antwort.
Bäder sah Raimund an. Der zuckte ratlos mit den Schultern. »Er redet heute morgen nicht mit uns«, meinte er nur, »ich tu mein Bestes.«
In der Tat sah Baumgarten immer noch wie eine Leiche aus, aber immerhin wie eine gut geschminkte. »Leg noch ein bißchen Rot auf die Wangen«, sagte Bäder resigniert und verschwand. Baumgarten grunzte nur.
Raimund griff nach hinten und schraubte das Rougetöpfchen auf. Er wußte blind, wo seine Sachen lagen, und vergriff sich nie. Privat schon, nie hier. Er tupfte seinen Mittelfinger ins Rote, fuhr dann sanft an Baumgartens Wangenknochen hoch.
»Meine Freundin hat übrigens vorige Nacht von Ihnen geträumt«, sagte er leise. »Ein sehr merkwürdiger Traum.« Jetzt hob sich ein Augenlid. »Sie haben eine Freundin?« knurrte Josef Maria. »Wie man sich täuschen kann.« Das Lid klappte wieder runter.
Raimund ärgerte sich. Er war gern schwul, das war nicht das Problem, trotzdem haßte er es, wenn Leute ihn dafür hielten. Sah er so tuntig aus, wirkte er so weich? Da er selbst auf Heteromänner stand, wollte er im Tiefsten, Allertiefsten seiner Seele auch für hetero gehalten werden. Nur von schwulen Männern natürlich, nicht von Frauen. Irgendwie bescheuert, aber so war's halt.
»Ich meine Gina, meine Kollegin«, besserte er nach, »die jetzt gerade Ihre große Liebe schminkt.«
»Und?« Baumgartens Stimme klang unendlich gelangweilt.
»Was hat die werte Kollegin so geträumt? Haben wir zusammen auf der Bühne gestanden, und ich hab meinen Text vergessen?« Seine Stimme klang amüsiert und eine Spur überheblich.
»Nicht ganz«, meinte Raimund und puderte die glänzenden Stellen weg. »Sie hat von einer Riesenhochzeit geträumt. In einer Kirche.«
»Davon träumen alle Frauen, mein Lieber«, meinte Baumgarten belehrend. »Tuschen Sie meine Wimpern noch ein bißchen nach, meine Augen wirken sonst zu blaß.« Raimund schraubte die Wimperntusche auf. »Mag sein«, gab er zu und tuschte, »nur war in diesem Traum das Ganze seitenverkehrt. Die Braut trug Smoking, und Sie, der Bräutigam, steckten in einem wunderschönen Spitzenkleid. Ganz in Weiß«, jetzt summte er, »mit einem Blumenstrauß, so siehst du in meinen schönsten Träu.«
Ruckartig setzte sich Baumgarten auf, starrte den Maskenbildner an, der ganz verwirrt zurückblinzelte. Was wußte dieses Männchen? Wollte er ihn erpressen, sich über ihn lustig machen?
»...men .« Raimunds Stimme versickerte unter den bösen, harten Augen der schlagartig auferstandenen Leiche. »Ist...