Hamburg, 22. September 2005
An diesem Tag war die Welt für mich noch total in Ordnung. Da wachte ich, Constanze Graf, genannt Connie, achtunddreißig Jahre alt und an diesem späten, wunderbar sonnigen Septembermorgen leider trotzdem keine Sekunde jünger aussehend - aber das konnte natürlich auch am grellen Licht liegen -, neben meinem Mann Richard auf, grinste zufrieden vor mich hin, drehte mich zu dem noch schlafenden Murmeltier neben mir, küsste den Leberfleck auf seiner linken Schulter und ahnte nicht im Traum, was vergangene Nacht vorgefallen war.
Ich war wie immer früh schlafen gegangen und wusste nicht, dass er sich erst im Morgengrauen auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer und mit angehaltenem Atem ins Ehebett geschlichen hatte.
Ob er noch einen Blick auf mich geworfen hatte, wie ich da so arglos in mein Kopfkissen schnorchelte, oder ob er schlaflos neben mir wach gelegen und nachgedacht hatte? Wie ich meinen Richard kannte, war er vermutlich sofort eingeschlafen. Das tat er gern nach einer körperlichen Anstrengung. Bei mir jedenfalls. Vier Sekunden nach seinem Orgasmus, spätestens, lag er mit so weit geöffnetem Mund, dass man theoretisch bis zum Zäpfchen gucken könnte, auf dem Rücken und war im Lummerland.
Selbstverständlich fand ich ihn niedlich, wenn er so ganz wehrlos und ungeschützt neben mir ruhte. Außerdem: Ein Mann, der aussieht wie ein schlaffer Karpfen, ist schließlich ein Mann, der einem ganz allein gehört, oder? Keine Frage, im wachen Zustand sah Richard keineswegs wie ein seekranker Fisch aus, ganz im Gegenteil. Er war durchaus eine männliche Augenweide. Er war groß, hatte breite Schultern und nur einen klitzekleinen Bauchansatz. Seine blonden Haare waren zwar schon etwas ausgedünnt, aber da er sie ratzekurz trug, fiel das nicht so auf. Dafür waren seine Hände genau so, wie Männerhände sein sollen: breite Handflächen mit langen, kräftigen Fingern, die in unserer Anfangszeit auf meinem Körper ganze Flächenbrände entfacht hatten. Tja, auch das hatte deutlich nachgelassen im Laufe der Jahre. Alles in allem hatte ich jedoch Glück mit meinem besten Stück.
Das dachte ich zumindest an diesem Morgen, als ich mich auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer schlich und die Welt für mich noch in Ordnung war. Ich war eine ganz normale, manchmal einen Hauch gelangweilte, aber im Grunde mit ihrem Leben zufriedene Ehefrau. Dass ich außerdem das ahnungsloseste Schaf auf Gottes weiter Weide war, hatte zwei Gründe: Erstens hatte ich einen festen Schlaf, und zweitens war ich eine Frau, die zu sehr liebte.
Meinen Richard liebte ich, seitdem ich mit vierzehn Jahren im Sportunterricht ganz überraschend meine erste Regel bekommen und er mir in der großen Pause Cameliabinden gekauft hatte. Von seinem Taschengeld und obwohl er zwei Klassen über mir war. »Hier«, sagte er und warf mir die Packung zu. Alle lachten ihn aus, aber ich war ihm wichtiger als sein Männerstolz.
Sein Einsatz hatte sich gelohnt, denn seitdem gehörte ihm mein Herz, inzwischen immerhin vierundzwanzig Jahre. Klar, es pochte längst nicht mehr WUMM, wenn ich nur an ihn dachte, es pochte eher wümmchen, wenn ich mit ihm schlief, aber war das nicht normal? Mein Richard war noch nie das gewesen, was er selbst bei anderen Männern ein wenig abfällig »einen Gefühlskasper« nannte, und als der liebe Gott die Romantik verteilte, hatte er alle anderen vorgelassen. »Tut mir leid, ich habe nur noch ein paar Krümel«, hatte der liebe Gott bedauert, und mein Süßer hatte vermutlich gesagt: »Macht nichts, für meine Frau reicht es.«
Deswegen hatte ich ihm auch, als ich langsam ungeduldig wurde, einen Heiratsantrag gemacht. (»Willst du mich, Richard?« - »Aber klar doch, meine Süße!«) Die Ringe hatte ich ohne ihn ausgesucht, die Hochzeitsnacht verbrachten wir auf einer Parkbank, weil die kleine Vertreterabsteige im Sauerland, in der wir ein Zimmer gebucht hatten, nach Mitternacht bereits geschlossen war. Ein frühes Warnsignal für spätere romantikdürre Zeiten?
Vielleicht. Aber ich war zu beschäftigt, um es zu merken. Ich bekam zwei Töchter, Friederike und Alexa. Die achtjährige Alexa war ein echter kleiner Sonnenschein und (noch) völlig unkompliziert. Für meine Älteste dagegen müsste der Begriff »Pubertätshorror« neu definiert werden. Eigentlich hatte sie mit ihren inzwischen sechzehn Jahren nur noch einen einzigen Gesichtsausdruck. Den des absoluten Überdrusses, was Schule, Eltern, das Leben überhaupt anging, sofern es sich nicht um ihre Clique oder um Klamotten handelte. Auch ihr Sprachschatz war proportional zu ihrem Hormonüberschuss drastisch geschrumpft und bestand eigentlich nur noch aus drei Sätzen: »Nein, ich hab keine Schularbeiten auf. Kannst du mir mal ein bisschen Geld geben? Mein Gott, bist du peinlich, Mama.«
Sie war also im Augenblick, um dies einfach einmal deutlich zu sagen, kein Kind, das ein Mutterherz erwärmte. Ich konnte sie nur aushalten, indem ich tief durchatmete und mir, wenn's richtig schlimm wurde, ihre alten Babyfotos ansah. Dann staunte ich immer, wie niedlich sie mal gewesen war, bevor sie über Nacht zum Schreckensteenie wurde!
Kleines Beispiel: Am Vorabend fand ich eine halb leere Zigarettenschachtel und ein Kondom in einem ihrer Turnschuhe. Eine Sekunde lang zögerte ich, ob ich das Corpus Delicti nicht einfach in den Müll werfen sollte, doch dann siegte mein pädagogischer Ehrgeiz. Ich ignorierte das Schild an ihrer Tür (»Eltern müssen draußen bleiben«) und trat ohne anzuklopfen in das halb verdunkelte Absolutchaos, das einmal ein nettes Jungmädchenzimmer gewesen war.
Erklärung bitte, junge Dame. Die gehörten ihr nicht, behauptete sie dreist. Wer hat sie in deinen Turnschuh gelegt? Keine Ahnung. Hältst du mich für total bescheuert? Die Antwort lag so deutlich in ihren Augen, dass ich ihr entweder eine Ohrfeige geben oder versuchen konnte, mit einer wachsweichen Drohung einen Hauch von Restwürde zu wahren: »Ich werde mit deinem Vater darüber reden.« - »Ja, tu das, Mami«, lächelte sie, und für einen klitzekleinen Moment verspürte ich den innigen, mörderischen Wunsch ... Gab es eigentlich so etwas wie einen Elternunlustmord?
Egal, ich unterdrückte ihn und knallte die Tür zu.
Da Richard noch schlief, konnte ich leider nicht sofort mit ihm darüber reden, und so grillte ich erst mal meine Tochter weiter, nachdem ich sie aus dem Bett gescheucht hatte.
»Woher kommen die Zigaretten? Wozu brauchst du in deinem Alter Kondome?«
Wie immer änderte sie die Taktik und appellierte an mein Bedürfnis, eine coole Mami zu sein. »Ich bewahr das alles doch nur für eine Freundin auf, deren schrecklich spießige Eltern total ausrasten würden. Bitte Mami, ich hab dich auch ganz doll lieb. Du bist die Allerbeste.«
Ich bin generell eine weiche Mami, und an diesem Morgen war ich sowieso viel zu schwach für Krieg, weil ich bereits seit halb fünf Uhr wach war, um mit Alexa Diktat zu üben. Die drei Stunden bis zum Abmarsch Richtung Schule hatten hoffentlich gereicht, um ihr endlich begreiflich zu machen, dass man Wonne mit zwei n schreibt und wohnen nur mit einem, dafür mit Dehnungs-h.
»Vor doppelten Konsonanten kommt immer ein kurzer Vokal, lang ist er nur, wenn du ihn verdoppelst oder ein h dranhängst, mein Mäusezahn«, knirschte ich um Viertel vor sechs zum achten Mal, schenkte mir die dritte Tasse Tee ein und versuchte, dafür dankbar zu sein, dass sie bis auf diese hartnäckige Rechtschreibschwäche, die sie übrigens nicht von mir hatte, erfreulicherweise noch ein nicht pubertierendes, verschmustes Mädchen war. Eines, das bis vor einem Jahr noch an den Weihnachtsmann geglaubt hatte und sich bisher nicht wie ihre ältere Schwester den Bauchnabel piercen und das Schamhaar herzförmig ausrasieren musste.
Natürlich tat Friederike das alles heimlich, und ich entdeckte es nur, weil sie das Badezimmer nicht abgeschlossen hatte und unser Duschvorhang durchsichtig war.
Heimlichkeit schien bei uns in der Familie zu liegen. Bloß ich hatte keine Geheimnisse, ich breitete mein Innerstes vor den anderen aus wie ein offenes Buch. Alle wussten, dass ich bei Kitschfilmen heulte, zum Frühstück gern Käsebrot mit Marmelade aß, vor großen Hunden Angst hatte, seit mich beim Zeitungsaustragen mal ein Schäferhund gebissen hatte, morgens, bevor ich im Bad war, die Eier abschrecken könnte, wie meine Älteste gern so nett formulierte, und dass ich an den lieben Gott glaubte, den ich mir als alten Mann mit weißem Bart vorstellte, so ähnlich wie den Weihnachtsmann.
Außerdem glaubte ich an die Seelenwanderung, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass etwas so Kostbares wie unsere Seele nur ein Leben hat. Ich wusste, sie wiegt einundzwanzig Gramm, weil amerikanische Wissenschaftler Menschen direkt vor und direkt nach ihrem Tod gewogen hatten und der Unterschied bei jedem genau einundzwanzig Gramm betrug. Ich war davon überzeugt, dass die Seele, wenn wir sterben, unseren Körper verlässt und sich einen neuen sucht. Nicht heute und nicht morgen, sondern irgendwann, wenn sie einen sieht, in den sie gern hineinschlüpfen möchte. Und da die Seele das, was sie bis dahin gelernt hat, nicht verschwenden will, sucht sie sich jemanden aus, dem sie noch etwas beibringen und den sie verbessern kann. Wenn man also Glück hatte, bekam man eine Seele, die schon viel wusste und einen richtig schlau machte.
Ich dachte oft darüber nach, in welchem Körper meine Seele wohl in einem früheren Leben gesteckt hatte und was sie mir in meinem jetzigen beibringen wollte. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, doch ich war sicher, ich würde es irgendwann erfahren.
Aber das war an diesem Septembermorgen nicht mein Thema. Sondern mein Ehemann Richard, der auch nach dem dritten Weckversuch nur »Lass...