Kapitel 1
Der Verleger Mario Benedikt stand nackt vor dem Spiegel und machte eine kritische Bestandsaufnahme. Kühl, ohne Begeisterung musterte er seinen noch immer breiten, muskulösen Oberkörper, die großen, fast schaufelartigen Bauarbeiterhände, so ganz ungeeignet für seinen Beruf, den leichten Bauchansatz, er hatte in den letzten Jahren sein Tennis sträflich vernachlässigt, die langen, harten Oberschenkel, die dazu nicht passenden, fast weiblichen, leicht behaarten Waden. Neuerdings entdeckte er Haare, wo früher keine gewesen waren. Im Ohrläppchen ein wuscheliges Gestrüpp, an den Brustwarzen zwei lange graue Haare, auch der obere Teil der rechten Kniekehle war ohne seine Einwilligung zugewachsen. Was dachte sich die Natur dabei? Vielleicht ein Wärmeschutz für den Herbst des Lebens? Er schaute an sich hinunter. Zum Glück verwehrte ihm das Bäuchlein nicht den Blick auf seine Füße. Sie waren riesig, die Zehen lang, mit zweimal monatlich pedikürten Fußnägeln.
Ich bin fünfzig geworden, dachte Mario Benedikt, ein alter Mann! Mit dem heutigen Tag beginne ich meine sechste Lebensdekade. Wo war die Zeit geblieben? Er fühlte sich wie fünfunddreißig. An guten Tagen jedenfalls. Doch bald würde er eine Seniorenkarte im Schwimmbad beantragen können. Wie kam er nur auf diesen absurden Gedanken? Er ging nie in öffentliche Schwimmbäder. Beginn einer altersgemäßen Infantilität?
Die Vorstellung amüsierte und deprimierte ihn zugleich.
»Na, alter Mann«, sagte er zu seinem Spiegelbild und dimmte unwillkürlich das Licht, »gewöhn dich dran. Übrigens, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Neben dem Badezimmerspiegel, auf einem stummen Diener, hatte Uschi, die Haushälterin, seine Abendgarderobe bereitgelegt. Während der Verleger in die handwarme Unterwäsche stieg, sein Smokinghemd zuknöpfte und dann die Beine zwischen die akkuraten Bügelfalten seiner Hose schob, dachte er mit Grauen an die bevorstehende Geburtstagsfeier.
Ich will gar nichts, hatte er gesagt, vergeßt den Tag, laßt mich in Ruhe, aber natürlich hatten sie gelacht. Nur Camilla hatte schmal gelächelt: »Nach der statistischen Lebenserwartung stehen dir noch rund fünfundzwanzig Jahre zu. Bei deiner Lebensweise vermutlich nur noch fünfzehn. Wahrhaftig kein Grund zum Feiern. Zumindest nicht für dich.«
Er hatte ihr Lächeln erwidert: »Aber für dich, mein Schatz, nicht wahr?«
Sie hatte auf diese Frage nicht reagiert, aber das leicht mokante Hochziehen ihrer perfekten, sichelförmig gezupften Augenbrauen, der kühle Blick aus den gletscherblauen Augen war Antwort genug.
Mario Benedikt bemühte sich, sowenig wie möglich an seine Ehe zu denken.
Auch berufliche Mißerfolge verdrängte er, so gut es ging. Eine Geschäftspolitik, die sich ausgezahlt hatte. Sein Handy vibrierte in der Hosentasche. Er fluchte, weil er vergessen hatte, auf Mailbox umzuschalten. »Ja?«
»Herr Benedikt?« Die männliche Stimme klang vorsorglich bedauernd. »Tut mir leid, Sie an Ihrem großen Tag stören zu müssen.« Kein großer Tag, ein alter Tag, du Depp, dachte der Verleger und wartete. »Hier ist Möller von der Verleger-Inkassostelle. Wir sind bei Europa leider nicht erfolgreich gewesen. Sie baten um persönliche Benachrichtigung, deshalb ...«
»Schon gut«, knurrte Benedikt, »ich melde mich.« Er stellte das Handy ab. Ärgerte sich. Mario galt als großzügig. Aber ein Jahr war zu lang. Jetzt mußten schärfere Geschütze her. Er griff wieder zum Handy. »Falko? Ich bin's. Es geht um Europa. Nein, nicht den Euro, die Buchhandlung. Dreihundert. Natürlich Tausend. Ich weiß, du verhandelst nur Scheidungen. Mach für mich 'ne Ausnahme. Danke. Wir sehen uns heute abend.«
Als er danach an das Balkonfenster trat und auf den großen Garten blickte, sah er, wie seine Gattin aus ihrem Jeep stieg. Von weitem war sie noch immer dreißig, eine große, schlanke Frau mit streng aus dem Gesicht gegeltem, weißblondem Haar und vollen roten Lippen. Auch die Furchen, die ihr zweiundfünfzigjähriges Leben in ihr makellos geformtes Gesicht mit der hohen Stirn und den hohen Wangenknochen und einer aristokratischen, aber nicht überlangen Nase gegerbt hatten, waren bei wohlwollender Beleuchtung und dank der raffinierten Arbeit eines brasilianischen Schönheitschirurgen kaum zu erkennen. Sie war eine auffallend attraktive Frau, und auf dieselbe leidenschaftslose Art, mit der er vorhin seinen eigenen, fünfzigjährigen Körper betrachtet hatte, zollte er nun dem ihren Tribut. Sie sieht wirklich toll aus, dachte Mario, aber der Gedanke verflüchtigte sich sofort, als er vom Fenster zurücktrat und zum Eau de Cologne griff.
Jetzt hörte er sie auf der Treppe, sie rief der Haushälterin schnelle, kurze Anweisungen zu, ihr Schritt war leicht und federnd. Sie hatte vor kurzem das Rauchen endgültig aufgegeben und war seitdem fanatisch wie viele spätberufene Nichtraucher.
Vor seiner Tür hielt sie inne. Unwillkürlich warf er einen prüfenden Blick in sein Ankleidezimmer, ob es dort etwas gäbe, das die von ihr geforderte Makellosigkeit ihres Zuhauses störte, ein zerknautschtes Hemd, ein Söckchenball, ein Aschenbecher, womöglich mit einer noch glimmenden Zigarette!
Die Tür ging auf, Mario zuckte zusammen.
»Du bist schon fertig?« Noch nie hatte sich Camilla mit zeitraubenden Höflichkeitsfloskeln wie Begrüßungen unter Eheleuten aufgehalten, sie kam immer direkt zur Sache.
»Der Kummerbund sitzt zu eng. Du ißt zuviel, mein Lieber. In deinem Alter braucht der Körper nicht mehr soviel.«
Mario Benedikt sah seine Frau an, und für einen kurzen Augenblick wurde ihm das Herz schwer. Nicht weil diese Bemerkung ungewöhnlich war, sondern weil sie es eben nicht war. Sie entsprach dem Alltagsgrundton ihrer Ehe, deren silbernes Jubiläum sie im Vorjahr mit einem ebenfalls rauschenden Fest begangen hatten. Ein Grundton von ironischer Höflichkeit und Gleichgültigkeit, der von Jahr zu Jahr mehr erstarrte. Und er war machtlos dagegen, der einzige Bereich in seinem Leben, in dem er es war.
Meist gelang es ihm, seine Ehe zu verdrängen und in den wenigen Stunden, in denen er Camilla sah, die zusammengezimmerte Fassade von zivilisierter Freundlichkeit aufrechtzuerhalten. Selbst wenn sie ab zu noch miteinander schliefen, schaffte er es, ein kurz andauerndes Gefühl von Lust zu erzeugen, das ausreichte, um sie halbwegs zu befriedigen. Glaubte er. Hoffte er. Und bis jetzt war es ihm auch gelungen, seinen Körper in die dazu notwendige Verfassung zu zwingen. Aber jetzt war er fünfzig. Viagratime! Verdammt, es hatte auch ihn erwischt.
Er lächelte Camilla an, die an ihm vorbei zu ihrem eigenen Ankleidezimmer gegangen war und ungeduldig ihre noch im Reinigungszellophan geschützten Kleider hin- und herschob. »Was wirst du heute Aufreizendes für mich tragen?« fragte er und trat hinter sie, streichelte abwesend ihre alabasterschimmernde Schulter. Eine kurze, verblüffte Sekunde lang glaubte er, sie erschauern zu fühlen.
Dann drehte sie sich um. »Mach mir mal den Reißverschluß auf«, sagte sie. Sie ignorierte seine Frage, die sie zu Recht als lediglich höflich erkannt hatte, und stieg aus ihrem kurzen schwarzen Kleid. »Wir müssen uns beeilen, der Bürgermeister wird wie immer pünktlich sein, die Kultursenatorin kommt, wie du weißt, zu jeder Veranstaltung, die promigeile Schnepfe, wenn du Pech hast, auch der Polizeipräsident, laß mal sehen, was fehlt noch an dir?«
Sie stellte sich vor ihn, sah ihn prüfend an. Über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine kleine Falte. »Für dein Alter siehst du nicht schlecht aus«, sagte sie dann, ganz ruhig, so als mustere sie ein antikes Sofa oder einen Rassehund, »nimm ein bißchen von meiner getönten Augencreme, man sieht sonst die Tränensäcke, wenn du fotografiert wirst.«
Er sah ihr nach, wie sie, ein langes, samtrotes Abendkleid über dem Arm, aus seinem Schlafzimmer in ihres ging, auf langen, tennistrainierten Beinen, zwischen denen ein ebenfalls trainierter und, wie er sich zu erinnern glaubte, auch noch erfreulich gerundeter Po wippte, und er stellte sich vor, wie es wohl sei, in diese Frau verliebt zu sein. Heiß-kalt, rasend, kniekehlenweich verliebt. So wie er es nie in sie gewesen war. So wie er es nur ein einziges Mal in seinem an Frauen wahrlich überreichen Leben erlebt hatte. Damals vor ... waren es wirklich schon fast dreißig Jahre?
»Seh ich präsentabel aus? Werde ich dir zu Ruhm und Ehre gereichen?« Camilla war zurückgekehrt, stand jetzt in einem tief ausgeschnittenen Kleid vor ihm und steckte sich eine Kreole ins Ohr. Nur in eins. Sie liebte den Hauch von Asymmetrie, die winzige optische Verblüffung. »Du siehst phantastisch aus«, antwortete er ehrlich. »Alle Männer werden mit dir schlafen wollen.«
»Davon geh ich aus«, meinte sie, kühl und kurz, und schlüpfte in ihre Stilettos, »alle, bis auf einen.«
Im Auto überlegte Camilla Benedikt, ob sie die Zeit des Ankleidens nicht besser für eine kurze eheliche Begegnung hätte nutzen sollen. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, immer wenn sie von einem Liebhaber kam, sich gleich danach kurz und knapp ihrem Ehemann zuzuwenden. Nichts haßte sie mehr, als wenn sie in ihrem Bett lag, die Küsse und Liebkosungen von fremder Hand genüßlich nachschmeckte und Mario dann seine Forderungen anmeldete. Wobei sie ihm unterstellte, daß er es auch nur um des lieben Ehefriedens tat, was die Sache nicht besser machte. Früher hatte sie sich perverserweise gewünscht, er würde sich neben sie legen, den Geruch eines anderen Mannes riechen und vor Eifersucht rasend werden. Ach, ihn nur ein einziges Mal außer sich zu erleben, leidenschaftlich! Voller Gefühl für sie, auch wenn es nur Wut oder gekränkte Eitelkeit gewesen wäre!
Nur...