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»Hast du schon mal einen Menschen sterben sehen?«
Das Mädchen hat den Blick die ganze Zeit nicht von ihren Händen genommen, aber als sie ihre Frage stellt, schaut sie Robin an. Die dunkelblonde Ponylocke, die ihr fast ganz über die Augen fällt, ist strähnig wie bei einem kleinen Mädchen, und sie hat ein Pflaster am Zeigefinger. Ihr kleiner Bruder hat sie gebissen. Das hat sie sofort erzählt, als sie den Raum betrat. Sie hielt Robin den Finger entgegen, fast triumphierend, und dann fügte sie hinzu, dass sie überhaupt nicht geweint hatte, obwohl es wehgetan hatte.
Das Mädchen heißt Laura. Sie ist acht Jahre alt. Vor etwas über einem Jahr wurde bei ihrer Mutter Knochenmarkkrebs diagnostiziert. Als sie vor ungefähr vier Monaten zu Robin geschickt wurde, hatte das Mädchen schon eine ganze Weile zusehen müssen, wie ihre Mutter Päivi mager und ausgemergelt in einem Krankenhausbett lag, jenseits jeglicher Hoffnung auf Genesung.
Die Behandlung war viel zu spät begonnen worden. Päivi war in einem sehr frühen Stadium schwanger gewesen, als die Krankheit entdeckt wurde, aber sie entschied sich dafür, die Schwangerschaft auszutragen. Sie entschied sich fürs Leben, wie sie sagte. Das Leben des Kindes. Ihr eigenes Schicksal war so oder so ein sehr ungewisses. Die Ärzte konnten ihr nichts versprechen. Die Behandlung konnte auch erfolglos bleiben, wenn sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschied.
»Aber ich müsste es eigentlich noch schaffen, das Kind auf die Welt zu bringen, haben sie gemeint«, erzählte Päivi, als Robin sie im Krankenhaus besuchte.
Als der kleine Junge zur Welt kam, so hatte Laura zugegeben, phantasierte sie davon, ihn mit einem Kissen zu ersticken. Wenn jemand sterben musste, damit ein anderer leben durfte, dann würde sie sich für Mama entscheiden, das war ihre Überlegung.
Jetzt war Lauras kleiner Bruder schon sieben Monate alt und hatte gerade seine ersten Schneidezähne bekommen. Vier kleine scharfe Reiskörner, die er dann offenbar bei der ersten Gelegenheit an seiner großen Schwester ausprobieren musste.
Hast du schon mal einen Menschen sterben sehen?
Auf Lauras Frage gibt es keine eindeutige Antwort, also beschließt Robin, mit einer Gegenfrage zu antworten.
»Warum fragst du?«
Das Mädchen lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Der Spätherbst bläst das Laub in kleinen Wirbeln über den grauen Parkplatz, auf dem Autos in tristen Farben in langen, anonymen Reihen stehen. Es ist ein beklemmender Anblick, aber Robin hat sich das Arbeitszimmer ja auch nicht wegen der Aussicht ausgesucht. Sie arbeitet im Stadtzentrum in der Klinik, die die beste kinderpsychiatrische Abteilung des ganzen Bezirks beherbergt. Eine Privatklinik, die aber auch mit der gesetzlichen Krankenkasse zusammenarbeitet. Mehr Nachfrage als Angebot. Topbezahlung. Da ist die Aussicht eine Bagatelle, die sie achselzuckend wegstecken kann.
»Na ja .«, meint Laura. »Ich frage mich, wie man es weiß, wenn jemand ganz kurz davorsteht.«
Ihre Stimme löst sich in ein Flüstern auf, und Robin betrachtet das glänzende Haar des Mädchens. Sie würde gern die Hand ausstrecken und darüberstreichen, doch sie unterlässt es. Zwischen ihnen steht der Schreibtisch, der ganz deutlich die Distanz zwischen medizinischem Personal und Patient markiert, so klein der Patient auch sein mag.
In dem Jahr, das Lauras Mutter jetzt schon im Krankenhausbett vor sich hinstirbt, hat sich die Art, wie das Mädchen mit der Situation umgeht, drastisch geändert. Als Robin sie zum ersten Mal traf, war sie völlig verschlossen. Die Familie machte sich Sorgen, als das Mädchen aufhörte zu sprechen. Allmählich hörte sie dann auch noch auf zu essen. Ihr Krankheitsverlauf schien den der Mutter abzubilden, und als Lauras Mutter, frisch nach der Entbindung und in schlechtem Allgemeinzustand, durch die physische Anstrengung einen Großteil ihrer Haare verlor, fand Lauras Vater dunkelblonde Haarbüschel im Bett seiner Tochter. Sie riss sich im Schlaf das eigene Haar aus, das sie sich als Einschlafhilfe immer um den Finger wickelte.
In der schlimmsten Phase musste man Laura in die Kinderklinik einliefern und an den Tropf hängen. Ihr schmächtiger Körper war einem Kollaps gefährlich nahe gekommen. Doch dann begann sie sich langsam wieder zu erholen. Sie hörte auf, sich die Haare auszureißen, sie machte nicht mehr ins Bett, und die unkalkulierbaren Wutanfälle, die ihre Lehrer ebenso erschreckten wie ihre Klassenkameraden, waren bald nur noch eine Erinnerung, die zusammen mit ihrem Wunsch begraben wurde, dass ihr kleiner Bruder sterben solle.
»Hast du deine Mutter besucht?«, fragt Robin sanft, und Lauras Blick taucht wieder ab in ihren Schoß.
Sie zupft an ihrem Pflaster und nickt. »Papa und ich.«
Robin schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist dunkelgrau, zugezogen mit dicken Regenwolken. Früher oder später wird der erste Schnee fallen, aber es war ein langer, nasser Herbst. Überhaupt nicht wie der Herbst, in dem sie auch jemand hatte sterben sehen. Dieser Herbst war kalt gewesen. Der Winter kam schon im Oktober und lockerte seinen eisigen Griff nicht vor dem Frühjahr, einem Frühjahr, das erst gegen Ende April begann. Robin blinzelt, um die Erinnerung zu verscheuchen, und lässt den Blick wieder zum gesenkten Kopf des Mädchens zurückwandern.
»Wie ging es ihr heute?«, fragt Robin.
»Sie hat bloß geschlafen. Sie ist gar nicht aufgewacht. Nicht mal, als ich ihre Hand gehalten habe. Papa hat gesagt, sie muss sich ausruhen. Damit sie wieder gesund werden kann.«
Robin presst die Lippen zusammen, um einen Seufzer zu unterdrücken. Sie hat Lauras Vater Miro mehrmals gesagt, dass es sich nicht lohnt, Laura falsche Hoffnungen zu machen. Sie weiß, dass ihre Mutter nicht wieder gesund wird. Deswegen geht sie ja auch in die Therapie. Aber jedes Mal, wenn ihr Vater ihr erzählt, dass ihre Mutter wieder gesund wird, hat Laura richtig schlechte Tage, die einen Rückschlag im therapeutischen Prozess bedeuten. Robin nimmt sich vor, Miro später anzurufen, um ein ernstes Wort mit ihm zu reden.
»Aber sie wird nicht wieder gesund«, fährt Laura fort, und Robin lässt den Stift sinken.
Laura schaut sie an. Ihre großen grauen Augen sind voller Tränen, die gleich überlaufen werden. Sie schnieft und trocknet sich die Augen mit dem Handrücken ab. Robin schüttelt den Kopf.
»Nein, sie wird nicht wieder gesund.«
»Aber warum sagt Papa dann, dass sie sich ausruhen muss? Dass sie wieder gesund wird?«
Robin schweigt einen Moment. Dann beugt sie sich zu Laura vor und stützt die Ellbogen auf den Tisch.
»Dein Vater macht das nur, weil er meint, dass es dir dann besser geht. Erwachsene machen so was manchmal. Aber du weißt, dass deine Mutter sehr, sehr krank ist. Und dass sie nicht wieder gesund wird.«
Robin macht eine Pause und schaut Laura fest in die Augen.
»Deine Mutter schläft jetzt viel, weil sie nicht mehr viel Zeit hat. Ihr Körper schafft es nicht mehr, die ganze Zeit wach zu bleiben. Und so weiß man, dass er sich aufs Sterben vorbereitet. Verstehst du, was ich sage, Laura?«
Robin schluckt schwer. Es widerstrebt ihr, Laura die Wahrheit zu sagen, aber sie weiß, dass das Mädchen jetzt genau das braucht. Sie muss die Chance bekommen, sich zu verabschieden. Päivis Zeit läuft langsam ab. Sie hat nur noch ein paar Wochen, vielleicht sogar weniger. Das Letzte, was Laura jetzt gebrauchen kann, sind Erwachsene, die sie anlügen, weil sie glauben, sie auf diese Art beschützen zu können. Trotzdem kommt Robin sich grausam vor, am liebsten würde sie selbst lügen. Auch sie würde den Schmerz gern lindern, indem sie ihn aufschiebt.
»Wie bei Bruno«, sagt Laura, und Robin runzelt die Stirn.
»Wer ist denn Bruno?«
»Minnas Hund«, antwortet Laura. »Der war krank und hat immer nur noch geschlafen und geschlafen, und eines Tages ist er nicht mehr aufgewacht. Minnas Mutter meinte, das war besser so, weil er so schlimme Schmerzen hatte.«
Robin nickt. »Ja. Genauso ist das. Genauso wie bei Bruno.«
Es regnet wieder, und es ist schon dunkel, als Robin die Wohnungsschlüssel auf die Küchenarbeitsplatte legt und sich ein großes Glas Wasser einschenkt. Sie trinkt das Wasser im Stehen an der Spüle, ohne das Licht einzuschalten, gefangen in einer geistesabwesenden Stimmung, die sie nicht recht abschütteln kann.
Das seltsame Gefühl befiel ihren Körper noch in der Praxis, bevor sie die Tür aufmachte und Laura hinausließ. Im Wartezimmer saß Lauras Tante Emmi, und nachdem die beiden Hand in Hand durch die Tür verschwunden waren, ging Robin zurück an ihren Tisch, um ihre Autoschlüssel zu holen.
Auf der Heimfahrt über die herbstnassen Straßen war sie beim rhythmischen Geräusch der Scheibenwischer völlig in Gedanken versunken. Sie rieselten auf sie herab, auf dieselbe unerbittliche Art wie der Nieselregen auf die Windschutzscheibe, erst sanft, dann immer heftiger, sie klopften leicht, aber fordernd an und weigerten sich, sie wieder in Ruhe zu lassen.
»Mach auf, Robin! Lass mich rein!«
Sie sieht Lukas'...
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