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Rügen, März 2016
Die Fratze des Todes .
Fratze . Was für ein dämliches Bild. In Deutschland kam der Tod korrekt im Arztkittel und gab sich beschwichtigend: Alles in Ordnung, dem Patienten geht es erwartbar, in der Cafeteria wird übrigens ein hervorragender Kaffee serviert. Dass es sich beim Sterben um eine Ungeheuerlichkeit handelte, um nicht weniger als die totale Auslöschung eines fühlenden menschlichen Wesens, darüber fiel kein Wort. Die Ärzte taten so routiniert, als würden sie die Sterbenden einfach überweisen. Kollege Tod: ein neuer Patient. Warum wurden die über ihrer Arbeit nicht verrückt? Man musste doch verrückt werden, wenn man täglich damit konfrontiert wurde, wie Menschen einfach aufhörten zu existieren.
Auch Papas Gesicht hatte nichts von einer Fratze. Da er an Übergewicht litt, waren seine Wangen voll geblieben, und die Augen wirkten wie immer. Nur die vielen Apparate, an die man ihn angeschlossen hatte, gaben einen Hinweis, und natürlich die Nasensonde, über die er Sauerstoff einatmete. COPD, Raucherlunge - Scheiße. Er hatte halt so gern gepafft. Ein kleines Laster, eine verzeihbare Sünde .
«Keine Sorge, der Spaß dauert eine Viertelstunde, dann sind wir damit durch.» Finn, der Streifenpolizist, der neben Kerstin auf dem Beifahrersitz saß, schreckte sie aus den Gedanken. «Der Idiot, der uns gerufen hat, beschwert sich im Tagesrhythmus. Wenn du nicht in die Bresche gesprungen wärst, hätten wir ihn vertröstet und die Sache einfach in der speziellen Ablage entsorgt.»
Damit meinte er den Papierkorb.
«Wer zieht auch in eine so beschissene Nachbarschaft!», lästerte Finn. «Diese Schreppers sind eine Sippe wie aus dem Lehrbuch: Einbruch, Drogen, Körperverletzung . Die lassen nichts aus. Kannst die ganze Bande komplett in die Tonne treten. Der Kerl, wegen dem wir rausmüssen, ihr Nachbar, war übrigens früher mal Lehrer. Der hat wohl 'ne Zeitlang gedacht, er hätte 'nen pädagogischen Auftrag bei den Schreppers. Gott, da kriegt man fast schon wieder Mitleid mit den Leuten.»
Finn rekelte sich auf seinem Sitz, wahrscheinlich wartete er auf Beifall für seine lockere Einschätzung. Er kriegte sicher ständig Applaus von Frauen, so gut, wie er aussah, mit seinen lockigen Orlando-Bloom-Haaren, dem breiten Kinn und den Muskelpaketen.
«Danach haben wir uns jedenfalls den Feierabend verdient.» Mit einem anzüglichen Grinsen legte er seine Hand auf Kerstins Knie mit der dicken, blauen Strumpfhose. Kerstin hätte sie am liebsten fortgeschlagen. Aber das wäre unfair gewesen. Sie hatte ihrem Streifenkollegen eindeutige Avancen gemacht, als sie ihn zufällig im Sassnitzer Revier traf. Und als sie anbot, ihn zu den Schreppers zu begleiten, war ihm natürlich klar gewesen, worauf es rauslaufen sollte. Kerstin arbeitete bei der Kripo Bergen, hatte also gar nichts mit der Arbeit der Streifenpolizei im Nachbarrevier zu tun. Entsprechend hatte er kombiniert, dass sie auf eine schnelle Nummer mit ihm aus war.
Und genau das hatte sie auch gewollt. Ein bisschen unverbindlichen Sex, um die verfluchte Anspannung loszuwerden, die seit dem Krankenhausbesuch Besitz von ihr ergriffen hatte. Inzwischen musste sie bei dem Gedanken, sich mit Finn im Bett zu wälzen, allerdings würgen. Papa würde an seiner COPD sterben, man müsse täglich mit seinem Ableben rechnen, hatte der Arzt gesagt. Warum war sie nach der Arbeit nicht sofort wieder zu ihm gefahren? Sie liebte ihn doch. Klar, mit seiner fortschreitenden Demenz war es in den letzten beiden Jahren nicht immer leicht gewesen, aber er hatte sie wiedererkannt und so richtig schlimm .
«Vorsicht!» Finn riss die Hände hoch, und Kerstin schlug einen hektischen Bogen um eine Ziege, die wie aus dem Boden gewachsen plötzlich auf der Straße stand. Scheiße, warum konnten die Leute nicht auf ihr Viehzeug aufpassen! Das wäre der größte Hohn gewesen: Papa hätte ihr den Vortritt ins Paradies gelassen.
Kerstin ging vom Gas und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Zum ersten Mal an diesem Spätnachmittag nahm sie wieder ihre Umgebung wahr. Lohme, das Dorf, aus dem die Beschwerde gekommen war, lag im Nordosten von Rügen auf Jasmund. Es war ein stiller Flecken Erde. Hügelland mit Äckern und Waldstreifen, gelegentlich ein Hof oder eine winzige Ortschaft. Auf den Feldern zeichnete warmes Licht die grünen Sämlinge weich. Möwen von der nahen Ostsee schwebten am Himmel.
«Mann, hast du sie noch alle?», beschwerte sich Finn.
«Ist doch gutgegangen.»
Finn begann wohl zu dämmern, dass es mit dem Quickie nichts werden würde. Vielleicht argwöhnte er, dass sie mit ihrem Angebot nur hatte austesten wollen, ob sie es noch schaffte, einen Mann um den Verstand zu bringen. Und da lag er nicht ganz falsch. Kerstin sah nach wie vor gut aus, was mit eiserner Fitness und strengen Diäten zu tun hatte, aber sie ging bereits auf die vierzig zu, und das beunruhigte sie. Regelmäßiger Sex, am liebsten mit jüngeren Männern, wurde immer wichtiger für sie. Sie fuhr in eine der Alleen hinein, die Rügen wie grüne Tunnel durchzogen. Dann erschienen erste Häuser und plötzlich eine Absperrung mitten auf der Straße.
«Wir müssen da rechts lang, in einem Bogen durchs Dorf.»
«Danke, ich hab Augen», schnauzte Kerstin und nahm die Kurve. Lohme war direkt an die Steilküste im Osten der Insel gebaut, sie konnte hinter den Häusern das Meer schimmern sehen. Ein toller Anblick. Am Straßenrand hing an einem Holzgerüst ein Plakat. Lohme zuBETTonieren? NEIN! Das verstand sie nicht. Wie konnten die nur so behämmert sein? Sie hatten hier ein Paradies, das jedes Jahr Tausende Urlauber anlockte, und es war doch der Tourismus, der die Insel am Leben hielt.
«Jetzt links», sagte Finn. Noch eine Kurve, dann lotste er sie zwischen einem leer stehenden Gebäude und einem Schrebergarten zu einem Parkplatz. «Am besten hältst du hier. Ist nicht mehr weit. Das letzte Stück können wir laufen.»
Kerstin stellte den Wagen ab, sie stiegen aus. In einer Ecke des Platzes stand ein blauer Anhänger, daneben ein alter Mercedes, eine Mischung aus geliebtem Oldtimer und Schrottkarre, und bei einem Gatter parkte ein Volvo. Jenseits des Gatters lag ein Buchenwäldchen. Hinter den Baumspitzen sank gerade die Sonne, allerdings ohne Glanz, es wurde nur dunkler. Das war wie eine Parabel auf das beschissene Leben, das auch einfach versackte, wenn das Ende kam. Armer Papa. «Wo wohnen die denn?»
«Den Weg hinterm Gatter lang. Nur ein paar Schritte.» Finn ging zu einem Gebüsch.
«Was soll das denn jetzt?»
«Muss mal.» Er hatte den letzten Rest guter Laune verloren. Provokant stellte er sich so, dass sie sein Prachtstück sehen konnte, während er pinkelte.
«Was, verdammte Scheiße .»
«Hab ich dich gezwungen mitzukommen?» Ja, er war sauer auf sie.
Angewidert wandte Kerstin sich ab. Neben dem Gatter war genügend Platz, um einen Fußgänger durchzulassen. Sie schlängelte sich an dem verwitterten Hindernis vorbei und zog allein los. Am besten die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Danach würde sie Finn zum Revier zurückbringen und im Anschluss gleich zu ihrem Vater fahren. Rasch eilte sie voran. Der Waldboden war mit einem grün-weißen Teppich aus Buschwindröschen übersät, die teilweise bis auf den Weg wucherten. Sie hörte hinter den Bäumen die Ostsee rauschen. Aber die Idylle beruhigte sie nicht. Papa würde sterben, und sie würde dann allein sein. Keine Geschwister, keine Onkel, Tanten oder Cousins . Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben, damals in Berlin.
Nach kurzer Zeit hatte sie die Häuser erreicht, von denen Finn gesprochen hatte. Inzwischen war sie entschlossen, hart durchzugreifen und den - wie hießen sie gleich? Schneppers? - ordentlich die Meinung zu geigen. Und dem Ex-Lehrer, der mit seiner Geltungssucht Staatsgelder vergeudete, auch. Gott, hatte sie das alles satt! Immer den Ärger anderer Leute ausbaden müssen.
Sie musterte die Gebäude, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Der Weg bog in einem scharfen Winkel nach links ab. An seinem Ende stand ein aufwendig renovierter Bauernhof - weiß verputzte Wände, Naturholzsprossenfenster, Reetdach, Blumenkübel, Rankgitter und eine lackierte Bank. Ein Bild wie aus der Landlust kopiert. Der Bauerngarten, der das Haus umgab, war von einem Jägerzaun umgrenzt, von dem ein Element niedergetreten worden war. Na, da wusste man ja schon, in welche Richtung die Beschwerden zielten.
Das zweite Haus direkt vor ihr besaß einen völlig anderen Stil. Herrenhaus war das Wort, das ihr spontan einfiel. So hätte sie auch leben wollen. Eine in Ehren gealterte Villa mit zwei riesigen Balkonen, von denen einer die Terrasse schützte und der andere die linke Seite des Gebäudes auflockerte. Die Fenster besaßen ebenfalls Sprossen, bildeten aber eine gläserne Front, sodass die Räume dahinter von Licht durchflutet sein mussten. Lädt zum Einbruch ein, dachte Kerstin mit einem kritischen Blick auf den Wald, der die kleine Siedlung umschloss. Allerdings schien das Haus unbewohnt zu sein, da gab's nichts zu holen.
Das dritte Haus direkt links neben ihr war einfach nur hässlich. Es überragte die beiden anderen. Die ehemals gelbe Farbe blätterte von den Wänden, eine der Scheiben im obersten Geschoss hatte einen Sprung, vergangene Stürme hatten ein paar Ziegel vom Rand des Dachs gepflückt, und am Balkon verrotteten die Holzlatten. Auf dem weitläufigen, ungepflegten Grundstück, das übergangslos im Wald versickerte, flatterte Wäsche im...
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