Schweitzer Fachinformationen
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Heute musste sich das Blatt wenden. Das hatte der Junge verdient.
Jannik schaltete den Motor aus und sah hinüber zu seinem Sohn. Er sah müde aus. Halb geschlossene Augen in der Morgensonne, der Thermosbecher baumelte zwischen seinen Fingern. Das Haar ungewaschen, das T-Shirt zerschlissen, die Shorts zu weit. Hatte er im Lauf des Frühjahrs nicht arg abgenommen? Er nahm zu viel auf sich und schleppte zu schwer, schonte seinen Vater.
»Hast du okay geschlafen?«
Sein Sohn zuckte stumm mit den Schultern, fischte eine Dose aus einer seiner vielen Taschen und schob sich einen kleinen weißen Nikotinbeutel über den Backenzahn in den Mund. Der Snus beulte die Oberlippe aus, was ihm in Kombination mit dem struppigen Bart ein löwenartiges Aussehen gab, das Jannik als beunruhigend und fremd empfand.
»Deiner Mutter hätte das nicht gefallen, Jonas. Du warst das einzige Kind ohne Löcher in deiner Klasse, und jetzt ruinierst du dir die Zähne mit diesem Zeug.«
»Ma ist tot, und ich bin zweiundzwanzig. Halt dich da raus, Pa.« Der trotzige Blick seines Sohnes versetzte Jannik vierzehn Jahre zurück in die Vergangenheit. Zu einem Jungen, der dreiundneunzig Tage lang Morgen für Morgen im Flur stand und sich weigerte, seinen Ranzen aufzusetzen. »Was, wenn Mama stirbt, während ich in der Schule bin?« Jeden Morgen dieselbe Frage und dieselbe bebende Stimme. Bis zu jenem Montag, als Junes Bett leer stand. Die Bestatter waren am Samstagabend da gewesen. An jenem Morgen ging er einfach.
Jannik legte seinem Sohn eine Hand auf den Arm.
»Ich meine ja nur . Denk an die Firma, Jonas. An uns zwei. Meine Schulter ist hin, in zehn Jahren werde ich nicht mal mehr einen lausigen Untersetzer die Treppe runtertragen können. J&J Krull steht und fällt dann mit dir.« Er schluckte. Wusste nicht recht, ob aus Reflex oder Unbehagen. Für Gefühlskram war June zuständig gewesen. »Ich hab doch nur dich.«
»Ja. Das Weltunternehmen J&J Krull. Nachlassauflösung mit Gewissen«, spie Jonas und malte ein imaginäres Schild in die Luft. »Davon träumen alle in meinem Alter. Um sieben aufstehen, den ganzen Tag den Gestank von Staub und Tod einatmen und wertloses Gerümpel ausräumen. Geil.« Jonas öffnete die Wagentür und spuckte auf den Asphalt. »Lass uns einfach anfangen! Wollte die Anwältin jetzt nicht kommen?«
Jannik brummte gekränkt. June hatte sich den Firmen-Slogan ausgedacht, und Jannik war so begeistert davon gewesen, dass er ihn mit gotischen Buchstaben auf ihren damals nagelneuen Sprinter hatte kleben lassen. Jetzt war der Transporter schwer in die Jahre gekommen, und die Hälfte von »Krull« hing herunter und flatterte laut im Fahrtwind. Jonas zufolge war die schnörkelige Schrift immer schon unlesbar gewesen und einer der Gründe, weshalb sich neue Kunden nie von sich aus an J&J Krull wandten.
Jonas schlug die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sein im Nacken langes Haar wurde an der Scheibe platt gedrückt.
Jannik hatte June hoch und heilig versprochen, ihrem Sohn ein gutes Leben zu ermöglichen. Wie sich das nun mal gehörte. Man sorgte für seine Nachkommen. Stellte die eigenen Bedürfnisse hintan, um der nächsten Generation den Weg zu ebnen. Beseitigte Probleme, überschüttete das Kind mit Liebe. Das war wohl das elterliche Los. Blutsbande.
Am liebsten hätte er die Scheibe heruntergekurbelt, seinem Sohn durch die Haare gewuschelt und - wie damals - gesagt, dass schon alles werden würde. Aber das würde ihn bestimmt nur wütend machen. Noch wütender als ohnehin schon.
Jonas war frustriert darüber, in Odense auf der Insel Fünen festzusitzen, und das in einer Branche, in der es mehr Tod als Leben gab und die meisten Kollegen reif für den Ruhestand waren. Ihn frustrierten die schlecht laufenden Geschäfte und die Tricksereien, derer sie sich zunehmend bedienen mussten, um ihnen ein halbwegs vernünftiges Auskommen zu sichern; unerwartet wertvolle Gegenstände, um die sie sich »kümmerten« und die sie bis auf Weiteres sozusagen »einlagerten«.
Aber alles war so verflucht teuer geworden! Diesel, Kaffee, Butter, Brot, Eier, sogar Milch! Er war nur eine unvorhergesehene Rechnung davon entfernt, mit Stromgesellschaft oder Mechaniker eine demütigende Ratenzahlung vereinbaren zu müssen. Und an die Folgen eines eisigen Winters wagte er gar nicht zu denken. Erst gestern hatte ihm der Betreiber der Lagerhalle, in der sie Papiere, Gemälde und Möbel aus den Nachlässen aufbewahrten, eine baldige Mieterhöhung um dreißig Prozent angekündigt.
»Muss die Hütte ja heizen«, wie er erklärt hatte, wohl wissend, dass es ohne Lagerfläche mit J&J Krull vorbei wäre.
Janniks spärliche Ersparnisse waren aufgebraucht, seine Selbstachtung als Vater so gut wie dahin. Das Vorhaben, Jonas ein wenig Startkapital für eine günstige Mietwohnung zu geben, konnte er sich abschminken. Ganz sicher saß June irgendwo dort oben und wiegte kaum merklich den Kopf, wie immer, wenn sie enttäuscht war.
Jannik schlug sich selbst fest auf die Wangen. Selbstmitleid führte geradewegs in die Hölle oder zur Flasche. Er griff ins Handschuhfach und zog die Unterlagen für den heutigen Auftrag heraus. Man musste es positiv sehen. Die Sonne schien, und heute stand kein Auftrag für die Gemeinde auf dem Programm.
Jonas hasste die Fälle, wenn keine Erben vorhanden waren und die Haushaltsauflösung über die Gemeinde abgewickelt wurde. Der chemische Geruch dahingesiechter Körper und ausgelöschter Hoffnungen in diesen Wohnungen erinnerte ihn an Junes letzte Tage. Häufig fanden sich Spuren menschlicher Überreste oder toter Haustiere, Exkremente, Urin und Blut auf dem Boden. In anderen Fällen mussten sie sich durch Kisten und Berge von Müll graben, um sich überhaupt einen ersten Überblick zu verschaffen. Benutztes Geschenkpapier, Kontoauszüge, Telefonbücher, Werbeprospekte, kaputte Käsehobel, mottenzerfressene Wollknäuel und Gläser mit verschimmeltem Rotkraut. Kriegskinder hoben alles auf.
Das ungeübte Auge sah hier nur Chaos. Doch mit Jonas verfügte Jannik über eine Geheimwaffe. Sein Sohn besaß einen Riecher dafür, in den Bergen aus Dreck den Goldklumpen zu finden. Jonas dachte oft, dass diese Fähigkeit einer besonderen psychologischen Einsicht geschuldet sein musste; es konnte nicht spurlos an einem Kind vorbeigehen, seine Mutter dahinsiechen und sterben zu sehen und sich durch die Jahre zu manövrieren, in denen Jannik seine Trauer mit Alkohol betäubt hatte und niemand es wagte, Junes Namen laut auszusprechen. Als Schattenkind zu leben.
Selbst wenn die amtlichen Nachlasspfleger sich alles unter den Nagel gerissen hatten, was ansatzweise von Wert war, um die Begräbniskosten der oder des Verstorbenen zu decken, fand Jonas immer eine versteckte Schatulle und ein Silberbesteck oder das eine Keramikstück, für das Sammler hohe Summen zu zahlen bereit waren. Jannik bezeichnete seinen Sohn im Stillen als Nachtjäger. Ein Wesen mit einem besonderen Riecher und geschärftem Blick, wo andere blind waren.
»Da könnte was zu holen sein, was meinst du?«, fragte Jonas. Seine Laune schien sich etwas gebessert zu haben, als er mit dem Kinn auf ihren heutigen Auftrag wies, eine Backsteinvilla im wohlhabenden Hunderup-Viertel von Odense.
»Könnte sein. Die Verstorbene war alleinstehend. Dreiundachtzig Jahre alt. Nie verheiratet, keine Kinder, keine Schulden«, sagte Jannik nach einem Blick in die Unterlagen.
»Das Haus ist bestimmt zwei, drei Millionen Kronen wert, oder? Die Kohle .«
»Geht direkt in die Staatskasse, ja.« Jonas fuhr zusammen, als eine Frau in einem sandfarbenen Kostüm hinter ihnen auftauchte. »Es sei denn, ein Angehöriger meldet sich und erhebt Anspruch aufs Erbe.« Die Frau reichte ihnen die Hand. »Julie Albo, Rechtsanwältin. Ich wurde als Nachlasspflegerin eingesetzt. Tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Aktentasche. »Wollen wir?«
Die Anwältin schob sich an ihnen vorbei und stakste mit ihren hohen Absätzen um die Löcher in der Auffahrt herum zum Haus.
»Gudrun Sivertsen, die Verstorbene, ist mir etwas rätselhaft, muss ich zugeben«, sagte sie. »1987 hat sie dieses Haus per Barzahlung gekauft und offenbar all die Jahre allein hier gelebt.«
»Hm, hm«, murmelte Jonas und ging an der Anwältin vorbei durch die Küche ins Wohnzimmer, wo ausgeblichene Rechtecke an den Wänden und eine lückenhafte Möblierung verrieten, dass die Einrichtungsgegenstände von Wert bereits von beauftragten Auktionshäusern abtransportiert worden waren. Jannik erkannte am Blick seines Sohnes, dass er den Rest scannte. Er war auf der Jagd.
»Gudrun Sivertsen war ein Einzelkind und nie verheiratet. Keine Kinder, keine nahen Angehörigen. Ich habe eine Anfrage beim Landesarchiv gestellt, denke aber nicht, dass da was bei rauskommt. Meiner Erfahrung nach sind selbst die entferntesten Verwandten ruckzuck zur Stelle, wenn sie Wind von einer reichen Großtante bekommen, vor allem in solchen Zeiten«, fuhr die Anwältin fort, während sie durchs Erdgeschoss schritt. »Wie Sie sehen, ist das Haus sehr groß für eine betagte und zudem demenzkranke Frau.«
»Wie viele Quadratmeter?«
»Einhundertachtzig plus sechzig Keller.«
Jonas pfiff leise und lang gezogen. »War sie vermögend? Sieht nicht aus, als hätte sie hohe Beträge in die Instandhaltung des Hauses gesteckt. Was hat sie beruflich gemacht?«
»Laut Finanzamt bestanden ihre einzigen Einkünfte in den Erträgen aus Wertpapieren. Offenbar hat sie klug investiert und sparsam gelebt.«
»Also eine richtige Knauserin«, meinte...
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