Schweitzer Fachinformationen
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Pieter stützte die Ellbogen auf die weiße Tischdecke und nippte an seinem Wasserglas. Es war schon halb leer. Oder besser noch halb voll. Immer das Positive sehen. Hatte er das nicht kürzlich während einer dieser schlaflosen Nächte in einem Lesezirkelheft gelesen?
Pünktlich um neunzehn Uhr hatte er seinen Wagen in die letzte Parklücke einer Seitenstraße gequetscht. Ein Anwohnerparkplatz, doch Pieter wusste, dass Janine es nicht leiden konnte, auf ihn zu warten. Aber wenn seine Patienten ihn brauchten, ein schwer verletztes Tier gebracht wurde und er unerwartet in den OP musste, kam er eben nicht pünktlich aus der Praxis. Oft genug hatte er es ihr erklärt. Dass sie allerdings Pieter immer häufiger selbst warten ließ, schien sie nicht zu bemerken.
Also wartete er. Seit einer halben Stunde.
Aus jeder Wartezeit ein intensives Erlebnis von Wahrnehmung und Entspannung machen, dazu hatte dieser Artikel auch geraten. Na dann . Pieter blickte aus dem Fenster und nahm das Treiben auf der Hudtwalckerstraße wahr. Bei diesem warmen Aprilwetter war noch genauso viel los wie mitten am Tag. Nicht gerade entspannend. Ein Linienbus hielt. Dahinter bildete sich sofort ein kleiner Stau. Der Fahrer eines Pick-ups schimpfte, ein Pärchen nutzte die Gelegenheit und schlängelte sich zwischen den Autos hindurch auf die andere Straßenseite. Der kleine Blumenladen nebenan hatte gelbe Eimer mit bunten Tulpen auf die Stufen gestellt. Papageientulpen. Pieter grinste. Bunt wie Ronaldo, aber deutlich harmloser als der missgelaunte Ara. Janines Lieblingsblumen.
Er merkte, wie seine Vorfreude sich mit den verrinnenden Minuten verflüchtigte. Seit zwei Wochen redete sie nicht mit ihm. Diesen Morgen dann ihre Stimme auf dem AB. »Bestellst du für heute Abend einen Tisch für uns bei Paolo?« Und jetzt keine Spur von ihr. Wahrscheinlich bereitete sie mal wieder irgendein wichtiges Meeting für den Staatsrat vor. Ihr Job in der Justizbehörde nahm sie in letzter Zeit immer mehr in Anspruch.
»Vielleicht schon einen Aperitif, Dottore?« Paolo hatte sich leise genähert.
»Janine kommt gleich.« Vielleicht.
Auf ihrer Hochzeitsreise waren sie mit dem Rucksack durch Italien getrampt, schliefen am Strand und liebten sich unter den Sternen. Seitdem war das Da Paolo ihr Lieblingsrestaurant. Mit seinem Mischmasch aus italienischem Design, Antiquitäten und Kitsch erinnerte es an ein kleines Café im Hafen von Sorrento, in dem sie Stunden gesessen und Zukunftspläne geschmiedet hatten. Kinder, ein Haus, finanzielle Unabhängigkeit - Janine und er wünschten sich all das. Nichts Außergewöhnliches also, einfach das, was sich die meisten wünschten, wenn sie frisch verheiratet waren. Neun Monate später, kurz nach Janines juristischem Staatsexamen, wurde Laura geboren, drei Jahre später kam Fabian auf die Welt. Joop, Pieters Schwiegervater, war froh, dass seine einzige Tochter endlich »vernünftig wurde«, wie er es nannte, und den gesellschaftlichen Konventionen entsprach, die er für angemessen hielt. Er gewährte einen großzügigen Kredit für ihr eigenes Haus. Ihre Träume hatten sich erfüllt. Sie waren die perfekte Familie.
Sooft es ging, nahmen Janine und er sich einen Abend frei, um bei Pizza, Pasta oder Parmaschinken über alles zu plaudern, was an ihren vollgestopften Tagen hinten runterzufallen drohte. Es waren schöne gemeinsame Stunden.
Gewesen. Wie war es passiert, dass aus Nähe und leidenschaftlichen Nächten nüchternes Zeitmanagement mit Terminabsprachen, Kinderhol- und -bringdiensten geworden war? Wann hatten Supermarkt-, Möbelhaus- und Arztbesuche Stunden voller Sinnlichkeit abgelöst? Wann zunehmende Streitereien die frühere Harmonie?
Paolo schien Pieters gedrückte Stimmung zu bemerken. Er breitete die Hände aus und legte dann die Rechte aufs Herz. »La donna è mobile«, stimmte er an. Zum Glück kochte er deutlich besser, als er sang.
Pieter summte leise mit. »Die Frauen sind launenhaft .« Aber traf das wirklich auf Janine zu? Als Laura auf der Welt war, hatte er die schlecht bezahlte Forschungsstelle an der Uni aufgegeben und die Tierarztpraxis eröffnet. Während er tagsüber arbeitete und abends die Fortbildung zum Tierphysiologen absolvierte, kümmerte sie sich um Laura und Fabian, der als Baby Pseudokrupp hatte. Als er vier war und die Erkrankung abklang, fing Janine sofort an zu arbeiten. Erst als Schwangerschaftsvertretung und dann sehr schnell fest angestellt in der Justizbehörde. Obwohl sie ursprünglich einmal geplant hatte, als Anwältin für Verbraucherrecht zu arbeiten, fand sie Spaß an ihrer neuen Tätigkeit. Sie tauschte Jeans und Sneakers gegen Pumps und Kostüme und machte den späten Berufseinstieg durch ungeheure Einsatzbereitschaft wett.
»La donna è mobile .« Pieter hörte auf zu summen. Was für ein dämlicher Text. Janine hatte ihm immer den Rücken freigehalten. Jetzt war sie beruflich an der Reihe und brauchte seine Unterstützung. Wenn sie über Dinge stritten, die völlig nebensächlich waren, dann doch nur, weil sie beide einfach zu angespannt waren. Wahrscheinlich war es bei anderen Paaren mit kleinen Kindern nicht anders.
Er zeichnete mit dem Finger eine Blumenranke auf der fliederfarbenen Serviette nach. Eine Auszeit zu zweit - das wäre es. Irgendwo, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagten. Oder Hase und Igel, egal. Hauptsache für ein paar Tage raus aus dem Hamsterrad. Selbst ihr letzter Spaziergang an der Elbe war Monate her.
Viertel vor acht. Ein Taxi hielt auf dem Radweg, und eine Frau stieg aus. Lange Beine, hochgestecktes Haar, elegante Handtasche. Auf nadeldünnen Absätzen steuerte sie auf die Tür des Restaurants zu. Erst nach einigen Sekunden erkannte Pieter seine Frau.
Paolo eilte herbei und öffnete ihr die Tür. Sie schickte ein strahlendes Lächeln in den Raum und winkte Pieter zu. Zwei Anzugträger am Nebentisch, die sich überlaut auf Englisch über die aktuellen Börsenkurse unterhielten, zogen die Bäuche ein und beobachteten, wie sie den Raum durchquerte.
Pieter sah an sich hinunter. Ach je, er hatte vergessen, ein frisches Hemd anzuziehen. Er lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor seinem Praxislogo, einer getigerten Comickatze. Nicht ideal, aber Janine mochte seine Oberarme, und das türkise Praxisshirt brachte sie gut zur Geltung.
»'n Abend, Hase.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und ließ sich auf den zweiten Stuhl gleiten. Er roch Parfum. Und Alkohol. »Zwei Grappa, Paolo.«
Sie bestellt für uns beide. Wie früher, dachte Pieter. Er hatte sich den ganzen Tag gefragt, warum sie ihn treffen wollte. Leise Hoffnung keimte in ihm auf. Hoffnung darauf, diesen unsäglichen Streit endlich beizulegen.
Janine streifte die Stilettos ab und stöhnte erleichtert.
»Empfang für den neuen estnischen Botschafter. Der Botschaftsleiter wäre mir fast in den Ausschnitt gekrochen. Immerhin, eine Einladung nach Tallinn ist dabei rausgesprungen. Ansonsten war es ster-bens-lang-wei-lig.«
»Du tüünst.«
Sie lachte. »Ertappt.«
Janine hatte sich zu Beginn ihrer Arbeit in der Behörde oft lustig gemacht über die steifen Reden der Anzugträger auf den Feiern des Justizsenators. »Komm mit, dann ist es nicht so langweilig für mich«, hatte sie ihn oft gebeten. Mittlerweile liebte sie Empfänge. Während Pieter in Schlips und Anzug vor sich hin litt und meist nicht wusste, was er mit Senatoren, Ministern und anderen Würdenträgern reden sollte, war Janine stets der Mittelpunkt einer angeregten Gesprächsrunde. Nur ab und an richtete jemand ein Wort an ihn. Aus Höflichkeit, wie er vermutete. Wahrscheinlich sah man in ihm lediglich eine Art putziges Anhängsel seiner erfolgreichen Gattin. Janine holte ihn nach den Empfängen meist in der Lobby des Rathauses ab, wo er die beiden Garderobenfrauen mit Anekdoten aus seiner Praxis unterhielt.
Sie schlug die Beine übereinander und spielte mit ihrer Perlenkette. Aus dem Augenwinkel sah Pieter das anerkennende Nicken der Geschäftsleute. »Es gab Champagner. Nicht den billigsten.« Ihre Augen schimmerten. Bestimmt hatte sie schon einige Gläser intus. »Das RPA meckert garantiert am Ende des Monats.« RPA - was war das noch mal? Ach ja, das Rechnungsprüfungsamt.
Sie nahm eines der Gläser, die Paolo zusammen mit den Speisekarten gebracht hatte, nippte und blickte Pieter an.
Er begriff es als Aufforderung, das Gespräch zu beginnen. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, dachte er. Erst mal eine gute Stimmung herstellen. Also erzählte er von Frau Pieske, Ronaldo und der gelungenen Vermittlung eines verwitweten Rosenkopfmännchens am Vormittag. »Es hat nichts mehr gefressen. Wusstest du, dass diese Vögel vor Trauer um ihren Partner sterben können?«
Janine winkte Paolo. »Padrone, ich hab Hunger.« Hörte sie überhaupt zu? Sie bestellte Bardolino. »Und Scaloppine Milanese. Auf dem Empfang gab es nur Häppchen.« Von denen sie sicher schon etliche gegessen hatte, vermutete er. Pieter spürte, wie sein Shirt am Bauch spannte. Zu wenig Zeit zum Radfahren. Zum Surfen sowieso. Das teure Board, das Janine ihm vor Fabians Geburt geschenkt hatte, verstaubte im Keller ihres Bungalows. Janine konnte essen, was sie wollte, sie blieb schlank wie ein Model. Ganz ohne Sport. Beneidenswert.
»Für dich auch Kalbsschnitzel?«
Er schüttelte den Kopf. »Spaghetti aglio e olio con Peperoncino.« Je länger er Tiere behandelte, desto weniger mochte er welche essen. Auch wenn das Fleisch für die Scaloppine, wie Paolo wortreich versicherte, von artgerecht gehaltenen Kälbern kam.
Janine bedachte ihn mit einem mitleidigen Lächeln. »Pflanzen haben auch Empfindungen....
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