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Hartmut Rosas Resonanztheorie ist einer der gegenwärtig meistdiskutierten Vorschläge, Sozialwissenschaft und Gesellschaftskritik neu zu denken. Denkerinnen und Denker aus verschiedenen Disziplinen setzen sich in diesem Band mit ihr auseinander und wenden sie an: auf Demokratie und Erziehung, auf unseren Umgang mit Natur und auf die Beschleunigung der Krisenentwicklung. Drängende Problemlagen lassen sich mit dieser Theorie der Weltbeziehung in neuem Licht analysieren. Dabei gilt jedoch, was die Theorie selbst über Weltbeziehungen sagt: Es bleibt ein Moment der Unverfügbarkeit. Mit Texten von u. a. Maeve Cooke, Silke van Dyk, Nancy Fraser, Axel Honneth, Martin Mulsow, Andreas Reckwitz, Martin Saar und Charles Taylor.
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Bettina Hollstein, Gesche Keding, Jörg Oberthür und Peter Schulz
Hartmut Rosa hat die Begriffe Weltbeziehung und Resonanz in die sozial- und geisteswissenschaftliche Debatte eingeführt. Das ist sowohl eine nachdrückliche Einladung, sich auf Resonanzen mit der Welt einzulassen, als auch ein umstürzlerischer Vorschlag, Gesellschaftskritik neu zu denken. Der Begriff Weltbeziehungen hat den überaus drängenden Fragen nach menschlichen Beziehungen untereinander und zur nichtmenschlichen Mitwelt Ausdruck verliehen. Das gilt für Weltbeziehungen, das heißt für die Lebewesen und Dinge, Konzepte und Entitäten der Welt, zu denen Menschen in Beziehung stehen oder nicht, und für Weltbeziehungen, dem Fokus auf das Dazwischen.
Weltbeziehungen werden erlebt und erfahren, zugleich werden sie gedeutet, verstanden und schließlich auch kritisiert, bewertet und verändert. Diese doppelte, im philosophischen Sinne positive wie negative Bezugnahme auf Weltbeziehungen spannt das Feld auf, in dem sich Hartmut Rosas Theorie der Weltbeziehung als soziologische Zeitdiagnose bewegt und entwickelt.
Soziologische Zeitdiagnosen generell kennzeichnet dabei eine gewisse Eigentümlichkeit - Anlass und Ergebnis der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse werden in ihnen auf spannungsreiche Weise miteinander verschränkt. Schon die schlichte Feststellung, »dass in den sozialen Verhältnissen etwas nicht stimmt«, von der die Diagnose ihren Ausgang nimmt,[1] verschmilzt die Perspektiven, nämlich die, dass Verhältnisse sowohl anders sein könnten als auch anders sein sollten, und schließlich, dass zwischen dem Anderssein-Können und dem Anderssein-Sollen ein Zusammenhang besteht.
Die soziologisch-wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung erkennt an, dass Menschen ihre Handlungswirklichkeit erzeugen und verändern - deshalb können die >gegebenen< Verhältnisse in 14der Theorie und in der Praxis anders sein beziehungsweise werden. Bekanntlich wird damit ein Widerspruch markiert, aus dem sich zwischen den beiden Polen der Objektivität und Subjektivität sozialer Wirklichkeit immer wieder neue Grenzvermessungen, Debatten und Theoriesynthesen speisen. Im Laufe der Zeit führte dies zu einer erheblichen Komplexitätssteigerung soziologischer Begrifflichkeiten, aber zugleich auch zu einer tendenziellen Erosion früherer Gesellschaftsbegriffe - im Sinne des Verlusts von Ganzheitsformeln für die Vielfalt sozialer Phänomene.[2]
Gesellschaftstheoretische und soziologische Zeitdiagnose sieht sich als spezifische Form der Kritik des Bestehenden, die unter anderem zeigen will, dass die Verhältnisse auch anders sein sollten, mit Problemen konfrontiert, die sich als solche der Begründung von Bewertungsmaßstäben in auch normativ zunehmend differenzierten Gesellschaften zusammenfassen lassen. In den hierfür einschlägigen und viel zitierten >Streit<-Debatten des Fachs wurden die dahingehenden Ideenbestände umfangreich und ausgiebig behandelt, wenngleich die kontinuierliche Erneuerung der in diesem Zusammenhang aufgebrochenen Differenzen - etwa zwischen >kritischer Soziologie< und >Soziologie der Kritik<[3] - eine Konstante disziplinärer Selbstverortung zu bilden scheinen. Für den vorliegenden Band und die in ihm verfolgten Fragen ist eine Weichenstellung maßgeblich, die auch gegenwärtig nach wie vor erfolgen muss, wenn das Ziel soziologischer beziehungsweise sozialwissenschaftlicher Analysen die >Diagnose< sein soll. Entweder werden Fragen der normativen Beurteilung dann nämlich als extern beziehungsweise als Addendum zur eigentlichen Analyse des Gegenstands betrachtet und gegebenenfalls an hierfür zuständige Disziplinen delegiert - etwa in der Gegenüberstellung von Soziologie und Sozialphilosophie[4] - oder Normativität wird konträr hierzu als ihrerseits notwendige Bedingung einer vollständigen Analyse angesehen, 15weil vorausgesetzt wird, dass das >Nichtstimmen< der Verhältnisse Bestandteil der Erklärung ist.
Die von Hartmut Rosa vorgelegte »Soziologie der Weltbeziehung«[5] wählt ausgehend von den beiden damit skizzierten Grundproblemen des Seins und Sollens einen Weg, der dezidiert an die Tradition der Kritischen Theorie anschließt, wie sie insbesondere von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer am Frankfurter Institut für Sozialforschung entwickelt wurde, und stellt - im Anschluss an die Spielarten Kritischer Theorie von Jürgen Habermas und Axel Honneth - eine eigene Variante dieses theoretischen Paradigmas dar.[6] Im Hinblick auf die theoretische Reflexion empirischer Einzelbeobachtungen und -phänomene und deren zeitdiagnostische Integration spricht sich Rosa entschieden für die Verwendung eines Begriffs von Gesellschaft aus, der sich auf moderne Gesellschaften bezieht, die von »dynamischer Stabilisierung«[7] und einer Steigerungslogik der »Verfügbarmachung von Natur und Welt«[8] geprägt sind. Dabei wendet er sich gleichzeitig gegen theoretische Verdinglichungen des Sozialen, die die systemische beziehungsweise strukturelle Reproduktion defizitärer Praxisformen wie eine naturgesetzmäßige Unausweichlichkeit darstellen.
In seiner Habilitationsschrift zur Beschleunigung moderner Gesellschaften,[9] die in mehrfacher Hinsicht auch als Grundlage der späteren Weltbeziehungssoziologie gelesen werden kann, findet sich ein abschließender Satz, der die Dialektik dieses Gesellschaftsverständnis pointiert zum Ausdruck bringt. Rosa zitiert ein Sinnbild Pierre Bourdieus: »[D]as Gesetz der Schwerkraft« habe man erst kennen müssen, bevor man »Flugmaschinen baute«.[10] Aus dieser Doppelbewegung, die eben nicht beim Erkennen der Gesetze der Schwerkraft - oder der Beschleunigung - stehenbleibt, sondern Möglichkeiten ihrer Überwindung entwickelt, leitet Rosa seine 16Antwort auf die »Beunruhigung« durch seine (Beschleunigungs-)Analysen ab: »Heute aber besteht die Herausforderung darin, jene Gesetze zu überwinden, welche die Erfindung der Flugmaschinen ermöglichten.«[11] Dass diese Herausforderung Rosa nicht zu einem pessimistischen Theoretiker macht, sondern die Weltbeziehungssoziologie Antworten auf die Frage nach der Möglichkeit gelingenden Lebens und Beschreibung dessen, was es ausmacht, bietet, zeigt den zentralen Einfluss Charles Taylors auf das Werk Rosas, über den Rosa promovierte[12] und dessen Analyse moderner Welterfahrung für diese Variante Kritischer Theorie ein zentraler Bezugspunkt ist.
Bereits hier deutet sich an, dass die in die Weltbeziehungssoziologie eingelassene Normativität komplexer ist als diejenige eines einfachen Sein-Sollen-Vergleichs und eher dem entspricht, was im Kontext der Kritischen Theorie als »immanente Kritik« bezeichnet wurde.[13] Sie zeigt auf, dass bestimmte normative Vorstellungen und Ideale als solche einerseits funktionsnotwendig für den Bestand einer konkreten gesellschaftlichen Ordnung sind (insbesondere als sinngebende Leitbilder, Motivkomplexe und kollektive Werte), andererseits jedoch gerade durch diese Ordnung und ihre Widersprüchlichkeit in der Praxis widerlegt werden können.
Während in Rosas Rekonstruktion der Beschleunigungslogik (spät-)moderner Gesellschaften in diesem Sinne ein eklatanter Widerspruch zwischen Verheißung und Wirklichkeit aufgezeigt wird, da sich das »Hamsterrad«[14] gerade deshalb immer weiter dreht, weil der anvisierte Zeit- und letztlich Freiheitsgewinn nicht nur trotz, sondern gerade wegen der Beschleunigungsprozesse nie erreicht werden kann, stellt die Soziologie der Weltbeziehung dieser Beobachtung die Thematisierung der Wirklichkeit der Weltbeziehungen an die Seite. Ihr allgemeines sozial- und gesellschaftstheoretisches Fundament, ihren normativen Maßstab, namentlich den der Resonanz, gewinnt sie dabei aus phänomenologischen Beobachtungen solcher Erfahrungen und Praktiken, in denen Beziehungen zu anderen und anderem gesucht und eingegangen werden, in denen 17Versuche unternommen werden, Welt zu erreichen und berührt zu werden, und in denen ...
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