Schweitzer Fachinformationen
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Earl Winfield »Win« Spencer war 1916 in ihr Leben geplatzt. Ihre Großmutter war vor Kurzem gestorben, und nach der vorgeschriebenen Trauerzeit beschloss ihre Mutter Alice, dass Wallis ein bisschen Spaß vertragen konnte. Sie schickte sie nach Florida zu ihrer Cousine Corinne, die mit dem Kommandanten eines Luftwaffenstützpunkts verheiratet war.
Spaß hatte sie auf jeden Fall. Wallis hatte noch nie ein Flugzeug gesehen, geschweige denn einen so schneidigen Piloten wie den jungen Leutnant mit dem gestutzten Schnurrbart und dem weltmännischen Auftreten. Sie begegneten sich an ihrem ersten Morgen und trafen sich von da an jeden Tag. Als Win ihr verblüffend schnell einen Antrag machte, sagte sie ja. Sie war neunzehn.
»Mutter vergötterte ihn«, sagte Wallis reumütig zu Ernest. »Das hätte mir eine Warnung sein müssen. Sie hat einen furchtbaren Geschmack bei Männern. Nach dem Tod meines Vaters hat sie noch zweimal geheiratet, und die Männer wurden immer schlimmer.«
»Mich mochte Alice nicht, das steht mal fest.« Ernest zuckte mit den breiten Schultern.
Sicher, Alice hatte Wins Charme und Draufgängertum bewundert. Ihr neuer Schwiegersohn konnte es in ihren Augen nicht mit dem schneidigen Ideal aufnehmen. »Dieser Bowlerhut und der Schnurrbart! Er sieht aus wie ein Amerikaner, der einen Engländer spielt!«
»Aber er ist Engländer, Mutter. Na ja, zur Hälfte.«
Sein Vater hatte englische Wurzeln, und das war Ernest äußerst wichtig. Er mochte zwar in Amerika aufgewachsen und in Harvard ausgebildet worden sein, hatte während des Krieges aber in den Coldstream Guards, einem britischen Regiment, gedient. Er interessierte sich leidenschaftlich für britische Geschichte und hatte Wallis durch die New Yorker Kunstgalerien geführt, ihr Porträts englischer Monarchen gezeigt und deren Herrschaftszeit geschildert.
»Stopp!«, hatte Wallis ihn lachend angefleht. »Ich bin Amerikanerin. Wohlgemerkt, eine Republikanerin. Hätten wir den ganzen königlichen Kram gewollt, hätten wir ihn behalten.«
Doch sein bei Weitem schlimmstes Verbrechen war die Unfähigkeit, Alices Sinn für Humor zu verstehen. Sie hielt sich für geistreich und hatte ihm gleich bei der ersten Begegnung ihre Lieblingsgeschichte erzählt. Sie war im Billigkaufhaus die Treppe hinuntergefallen, und ein Verkäufer war herbeigeeilt und hatte gefragt, ob er ihr helfen könne.
»Und was, denken Sie, habe ich zu ihm gesagt?«, fragte Alice, während Ernest unbeholfen dastand und seinen Hut in den Fingern drehte.
»Das weiß ich nicht, Mrs Warfield. Was haben Sie denn zu ihm gesagt?«
Alice schaute ihre Tochter, die ängstlich danebenstand, hämisch an. »Erzähl du es ihm, Wallis! Erzähl ihm, was ich gesagt habe, als ich im Billigkaufhaus hingefallen bin!«
Wallis wandte sich an ihren Verlobten und sagte tonlos: »Mutter hat gesagt, er soll ihr die Billigsärge zeigen.« Während Alice in hysterisches Gelächter ausbrach, verzog Ernest keine Miene. Davon hatte sich ihre Beziehung nie erholt.
Wallis wusste nur zu gut, dass ihr Mann ihre Mutter für wahnhaft hielt. Ihr selbst ging es nicht anders. Sie war froh gewesen, der schwierigen Beziehung zu Alice zu entfliehen. Dann wandte sie sich wieder ihrer ersten Ehe zu.
Sie und Win hatten in Baltimore geheiratet; Wallis in weißem Samt und einem Unterrock aus Spitze, einem Erbstück. Die Brautjungfern trugen ausladende Florentinerhüte. Sie war wahnsinnig verliebt, das glaubte sie jedenfalls.
In der Hochzeitsnacht holte Win eine Flasche Gin aus seinem Koffer und stellte ihr damit die dritte Person in ihrer Ehe vor. »Das Trinken wurde schlimmer, als der Krieg anfing«, fuhr Wallis fort. »Win wollte unbedingt Kampfeinsätze fliegen, hat es aber nie geschafft.«
Sie hielt wieder inne.
»Sprich weiter«, forderte Ernest sie auf.
»Eines Tages schleppte er mich ins Badezimmer, nachdem er getrunken hatte. Er . hat mich vergewaltigt. Dann ging er raus und schloss die Tür ab. Ich habe den ganzen Tag da gelegen .«
Sie verstummte. Der Abend brach herein. Das Licht der untergehenden Sonne schien korallenfarben auf die verblichene Tapete. Sie erinnerte sich, wie sie auf dem kalten Fliesenboden gelegen hatte, den Messinggeschmack von Blut im Mund, von heftiger Angst erfüllt. Der Sonnenstrahl, der durch das kleine, hohe Fenster fiel, hatte sich im Laufe der Stunden an der Wand entlangbewegt. Draußen hörte sie Leute vorbeigehen. Doch um Hilfe zu rufen, war ausgeschlossen.
»Warum?«, fragte Ernest.
Sie saß vorgebeugt auf der Bettkante, die Arme schützend um den Körper geschlungen. Hob eine Hand und bedeckte die Augen. »Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Genau das hätte ich tun sollen. Aber es war ein kleiner Ort. Jeder kannte jeden. Und Win war beliebt. Die Leute wären überrascht gewesen. Vielleicht hatte ich Angst, sie könnten mir nicht glauben. Oder vielleicht .«
»Vielleicht was?«
»Vielleicht habe ich gedacht, es sei meine Schuld. Vielleicht habe ich mich geschämt.«
Ernest stöhnte auf. »Oh, Wallis.«
Sie ließ die Hand sinken und sah ihn an. Seine Basset-Hound-Augen schimmerten feucht und funkelten zugleich wütend.
»Dann, viel später, kam Win zurück. Ich hörte, wie er die Badezimmertür aufschloss .«
Sie machte die Augen zu, doch das Bild, wie sie verschreckt vor der Badewanne kauernd die nächste Tracht Prügel erwartete, hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. »Er ist aber nicht reingekommen. Er hat die Tür offen gelassen und ist ins Bett gegangen. Ich habe noch ein paar Stunden da gelegen. Den Rest der Nacht habe ich auf dem Sofa verbracht und bin am nächsten Tag gegangen.«
»Du hast die Scheidung eingereicht?« Ernest runzelte die Stirn, schien den Zeitablauf zu überschlagen.
»Wir haben uns getrennt. Ich bin zu meiner Mutter zurückgegangen. Sie war gegen die Scheidung. Warfields und Montagues taten so etwas nicht.« Während ihrer von Armut geprägten Kindheit hatte man Wallis immer wieder daran erinnert, dass sie den besten Familien Baltimores entstammte, als wäre sie eine moderne amerikanische Version der Tess von den d'Urbervilles.
»Natürlich nicht.« Ein frostiges Lächeln huschte über Ernests Züge. Man hatte ihm nur zu oft von der illustren Familiengeschichte erzählt. Sie war, neben dem berühmten Sinn für Humor, Alices Lieblingsthema.
»Dann ging Win zur US-Flotte in den Fernen Osten. Er hat mir immer wieder geschrieben und mich allmählich davon überzeugt, dass die Stationierung in Shanghai ein Neuanfang wäre.« Noch einer. Wie viele Neuanfänge hatte sie denn schon gehabt?
Die Schatten sammelten sich im Raum. Im Fenster gegenüber war eine rote Glühbirne angegangen. Ihr Schein erinnerte Wallis an einen anderen Raum, dunkel und säuerlich riechend, mit einer roten Papierlaterne. Eine Frau in schmutzigem Überwurf mit zynischen Augen. Matten auf dem Boden. Ein zerwühltes Bett.
»Darum warst du also in China«, sagte Ernest. »Ich erinnere mich, dass du es bei einer unserer ersten Verabredungen erwähnt hast. Aber du hast nie erzählt, was du dort gemacht hast.«
Sie hatte ihn vorletzten Winter in New York kennengelernt, er war ein Freund von Mary Raffray, einer alten Schulfreundin. Als unverbesserliche Kupplerin wollte Mary sie beide unbedingt zusammenbringen, doch Wallis war nicht interessiert. Nach dem Grauen mit Win kam eine Ehe nicht infrage, außerdem war Ernest Simpson nicht ihr Typ. Er war angenehm, aber schwerfällig. Und schrieb schreckliche Gedichte. Das erste erhielt sie nach einem Spielabend.
Ich bin wohl nur ein Joker, Jedenfalls beim Poker. Und ich gäbe alles, Wär ich nur wie Wallis.
»Seine Gedichte sind furchtbar«, beklagte sie sich bei Mary.
»Ich glaube, sie sind absichtlich so schlecht. Er will, dass du dich amüsierst.«
»Ich will mich aber nicht amüsieren.«
Doch Ernest blieb hartnäckig. Genau wie Mary, die ihm ständig Stichworte lieferte. »Wallis war einmal in einem Zug, der von Banditen angehalten wurde!«
»Banditen!« Ernests dichte Augenbrauen schossen bis zum niedrigen Haaransatz hoch.
»Das war, als ich in China gelebt habe«, sagte Wallis mit zusammengebissenen Zähnen. »Alles ging gut.«
Am nächsten Morgen erhielt sie ein weiteres Gedicht.
Sollte ich Banditen sehen, Werde ich zu Wallis flehen, Damit sie sie geschickt In die Wüste schickt.
»Nun«, sagte sie jetzt, »genau das habe ich dort getan. Versucht, meine Ehe zu retten. Anfangs funktionierte es, aber bald fing alles von vorn an, das Trinken und die Gewalt, und noch Schlimmeres .«
Sie hielt inne und schaute zu Boden, konnte nicht weitersprechen.
»Schlimmer?«, fragte Ernest.
Sie sah ihn flehend an, doch er musste es erfahren. Denn darum ging es letztlich: dass Shanghai, eine Stadt, die für ihren Sexhandel...
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