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Die Post kommt seit einiger Zeit immer sehr spät, meist erst am frühen Nachmittag. Seit Joachim tot ist, bekomme ich nicht mehr sehr viele Briefe. Überwiegend Werbung, manchmal auch Rechnungen, sofern die nicht per E-Mail geschickt werden. Nur Versicherungen und das Finanzamt versenden ihre Dokumente immer noch altmodisch per Briefpost.
Heute war etwas Unerwartetes dabei. Das Bayerische Wirtschaftsministerium, genauer gesagt der Ministerialdirigent, in dessen Abteilung Joachim früher gearbeitet hat, lädt zu einem Festakt anlässlich der diesjährigen Verleihung des Bayerischen Förderpreises für innovative Start-Ups ein. Von Joachim weiß ich, dass die Ministerialräte und alle höheren Beamten der Abteilung zur Teilnahme an dieser alljährlich stattfindenden Preisverleihung verpflichtet sind. Weshalb ich eine solche Einladung erhalten habe, ist mir allerdings nicht klar. Wahrscheinlich soll damit demonstriert werden, wie sehr man sich im Ministerium auch um die Witwen und Witwer von verstorbenen Abteilungsmitgliedern kümmert - zumindest, wenn es sich um gehobenere hierarchische Positionen handelt, wie im Falle von Joachim. Er ist da immer gerne hingegangen, weil man dort viel Neues erfahren und interessante Menschen kennenlernen kann, hat er gemeint Den kulturellen Rahmen, so entnehme ich der Einladung, bildet die Ausstellung von Gemälden und Skulpturen eines aufstrebenden, jungen bayerischen Künstlers. Das könnte interessant sein! Außerdem soll es dort angeblich ein sehr leckeres Büffet geben. Zumindest früher war das so. Davon hat Joachim immer geschwärmt.
Ich beschließe, hin zu gehen. Weniger wegen der Preisverleihung - diese jungen Unternehmer und Unternehmen sind mir eigentlich egal und davon verstehe ich auch nichts. Aber die Kunstausstellung und das Büffet, die könnten mir gefallen. Vor allem, und das ist, wenn ich ehrlich zu mir bin, der eigentliche Grund: Wenn ich dort hin gehe, dann bin ich Joachim besonders nahe. Ich nehme an seiner Stelle teil, als seine Vertretung. Ich lebe quasi sein Leben. Ich weiß, das klingt verrückt, aber es berührt mich innerlich. Ich fühle, ich muss da hin!
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Für dieses Ereignis habe ich mich in Schale geworfen und bin mit einem Taxi gekommen. Da die Schranke zum Parkplatz vor dem Ministerium für die Besucher geöffnet ist, kann der Taxler bis zum pompösen Hauptportal des Wirtschaftsministeriums vorfahren. Das Ministerium stellt schon etwas dar. Das wuchtige und ausladende Gebäude aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstreckt sich über einen Viertelkilometer südlich an der Prinzregentenstraße entlang. Seine prominente Lage wird noch hervorgehoben durch sein berühmtes Gegenüber, dem von Gabriel von Seidel erbauten Bayerischen Nationalmuseum auf der anderen Straßenseite.
Ein freundlicher Angestellter führt mich zum großen Festsaal. Jetzt sitze ich inmitten der vielen anderen, festlich gekleideten Besucher und Teilnehmer am Festakt und warte auf den Beginn der Veranstaltung. Ich schaue mich um. An den Wänden des Saals hängen großformatige, farbenfrohe Gemälde, wie auch schon draußen in dem weiträumigen Korridor. Das soll vermutlich die in der Einladung angekündigte Kunstausstellung sein. Ich werde mir das später genauer anschauen, denn jetzt tut sich auf dem erhöhten Podium etwas. Der Minister nimmt Platz, neben ihm ein mir unbekannter Mann, ebenfalls im schwarzen Anzug. Wahrscheinlich der Leiter der für Innovation und Start-Ups zuständigen Abteilung. Immer mehr Menschen füllen das Podium.
Vier Musiker eines Streichquartetts neben der Bühne ergreifen ihre Instrumente. Das Stimmengewirr im Saal verstummt und es erklingt ein Musikstück, etwas Modernes. Mir gefällt es nicht. Für meinen Geschmack ist es zu wenig harmonisch. Ich mustere die Honoratioren auf dem Podium. Bis auf eine Frau in einem roten Kleid sitzen dort nur Männer in dunklen Anzügen. Mein Blick geht in die erste Reihe des Auditoriums. Dort sitzen wohl die Preisträger, die Chefs der Start-Ups, die heute geehrt werden. Weit überwiegend junge Leute, Männer und Frauen. Ihre meist legere Kleidung hebt sich deutlich von dem strengen Schwarz auf dem Podium ab.
Der Mann neben dem Minister geht zum Rednerpult. Er sagt etwas zum organisatorischen Ablauf. Erst müssen wir uns Reden anhören, vom Minister, vom Präsidenten der Industrie und Handelskammer sowie vom Sprecher der heute zu ehrenden jungen Unternehmen. Nach der Preisverleihung wird uns der Künstler durch die Ausstellung seiner Werke führen und anschließend wird das sich in den Nebenräumen befindliche Büffet eröffnet.
Die nun folgenden Reden finde ich quälend langweilig. Vielleicht hätte ich doch nicht kommen sollen. Die preisgekrönten Unternehmen interessieren mich nicht. Eher schon die ausgestellten Kunstwerke - große, abstrakte Bilder mit durchaus ansprechenden Farben. Ich bin gespannt, was der Künstler nachher dazu sagen wird. Ich döse also etwas vor mich hin und lasse die Reden an meinem Ohr vorbeiziehen.
Dann beginnt die Ehrung mit der Verleihung der Innovationspreise. Das ist schon etwas abwechslungsreicher. Die jeweiligen Vertreter der Unternehmen werden auf das Podium gerufen. Kurz wird über die Tätigkeit ihres Unternehmens berichtet und die innovativen Produkte werden vorgestellt. Dann überreicht der Miniaster eine Urkunde und einen Scheck und der nächste wird auf das Podium gebeten.
Es geht um die unterschiedlichsten Gebiete, von der Medizintechnik, Prozessoptimierung, wirtschaftliche Prognosemodelle, Entwicklung von Kleinstkraftwerken et cetera, et cetera. Viele Namen werden genannt. Ich vernehme sie und habe sie schon wieder vergessen.
"Als nächstes bitte ich die Vertreter der SSD-GmbH aufs Podium", höre ich die Stimme des Organisators. Es interessiert mich eigentlich nicht die Bohne, wer das ist und wofür die geehrt werden. Stattdessen schaue ich mir das Foto des Malers in dem kleinen Programmheft an, das jedem Besucher beim Betreten des Festsaals überreicht worden ist. Nur am Rand und aus den Augenwinkeln bekomme ich mit, dass zwei Männer auf das Podium eilen.
"Ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt der Software-Systems-Development GmbH ist die Entwicklung einer spezifischen KI und ihre Integration in Modelle der regionalen Verkehrsplanung und -lenkung", erklärt der Organisator und fährt dann fort. "Und nun wird Ihnen der Herr Minister den Innovationspreis überreichen."
"Herr Dr. Jan Knaus, Inhaber des Unternehmens und Herr Christian Hochstetter, Chefprogrammierer des Start-Ups", leiert dieser die Namen herunter. So wie es klingt, liest er sie von einem Manuskript ab. "Ich beglückwünsche Sie persönlich und im Namen meines Hauses zu ihrem Erfolg und darf Ihnen Urkunde und Scheck als Anerkennung ihrer bahnbrechenden, innovativen Leistung auf dem genannten Gebiet überreichen."
Ich zucke zusammen, glaube mich trifft der Schlag. Oder ist das ein Traum? Diese Namen! Ich blicke auf.
Unter dem Applaus des Auditoriums tritt der Minister auf die beiden Männer zu, gibt jedem die Hand und lässt sich von einem Mitarbeiter die Urkunde und den Scheck geben, die er an die beiden Männer weiterreicht.
Ich bekomme das alles nur wie durch einen dichten Nebel mit. Dr. Jan Knaus und Christian Hofstetter - Knaus und Chris.
"Der Knaus schmeißt mich hochkant raus, wenn er das erfährt! . Jetzt komm zu dir Chris! Was schert uns dein Chef? Du hast zwei Menschen totgefahren."
Die Namen! Genau die Namen aus meinem Albtraum. Ist das Zufall? Oder war ich gerade eben eingenickt und dabei hat mich mein Albtraum wieder eingeholt? Aber das Umfeld, der Minister, sein Adlatus, das Beifall klatschende Publikum? Das ist real, das kann ich nicht geträumt haben. Also sind auch die Personen und ihre Namen real. Mir wird schlecht. Ich schaue wieder zum Podium, aber die beiden sind nicht mehr da. Eine Frau steht jetzt dort. Der Minister schüttelt ihr gerade die Hand. Ich suche mit den Augen die erste Reihe im Auditorium ab. Wer von den vielen Männern, die dort sitzen, sind die beiden? Knaus und Chris? Ich habe ihre Gesichter vorhin nur kurz als helle runde Flecken wahrgenommen, als die beiden auf dem Podium standen. Genaueres konnte ich nicht erkennen. Die Bühne ist zu weit von meinem Platz in einer der hinteren Reihen entfernt. Ich hätte besser aufpassen und mich nicht so in das Programmheft vertiefen sollen.
Ich muss hier raus!
Mit einem wiederholten "Entschuldigung" dränge ich mich an den Besuchern vorbei zum Rand der Stuhlreihe. Ich verlasse den Raum, eile durch lange Korridore zum Ausgang und steige draußen in eines der wartenden Taxis. Heftig schnaufend lasse ich mich im Fond in die Polster sinken.
"Nach Solln bitte! Ludwig-Werder-Weg!"
Dr. Jan Knaus, Christian Hochstetter - diese beiden Namen dröhnen in meinem Kopf. Dieser Christian Hofstetter - Chris - hat Joachim totgefahren!
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Heute Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Die ganze Zeit musste ich an diesen Chris denken. Hätte ich nur besser aufgepasst! Und mich vor allem in eine der vorderen Stuhlreihen gesetzt, und nicht ganz hinten. So weiß ich nicht einmal, wie er genau aussieht. Ich muss ihn treffen, ihn zur Rede stellen. Aber wie finde ich ihn. München ist riesengroß. Über diesem Problem bin ich dann wohl doch eingeschlafen.
Jetzt ist es früh. Mein Handy zeigt 8:07 Uhr. Ich liege noch im Bett und fühle mich wie gerädert. Wie komme ich an diesen Chris ran? Sofort nach dem Aufwachen quält mich diese Frage. Sie beherrscht mein ganzes Denken. Ich stehe auf, wanke unausgeschlafen in die Küche und schalte die Espressomaschine ein. Vielleicht über sein Unternehmen? Aber wie heißt das? Bei der...