Ein seltsamer Fund
Donnerstag, 13. August
„Das darf niemand finden! Wo kann ich es nur verstecken?“, grübelte Amélie Perronet. Sie blickte auf das Tagebuch, dem sie gerade ihre Gefühle anvertraut hatte, las ihre pathetisch-kindlichen Formulierungen wieder und wieder. In ihrem Kopf erlebte sie das heimliche Treffen mit Simon, dem hübschen Hotelpagen, aufs Neue. Das war gestern Nacht. Ihre Eltern hatten sich mit einem Urlauberehepaar angefreundet und in der Hotelbar die neue Bekanntschaft gefeiert und ausgiebig mit Champagner begossen, während sie Amélie in ihrer Suite friedlich schlafend gewähnt hatten. Wenn die wüssten!
Immer noch schwebte Amélie in einer anderen Sphäre, weit über allen prosaischen Alltagsproblemen. Diese hatten sie aber schnell wieder eingeholt und fest im Griff. Eine Katastrophe, wenn ihre Eltern das Tagebuch fänden. Sie musste ein Versteck finden, wo es absolut sicher war – vor allem vor ihrer Mutter.
Die zwölfjährige Amélie bewohnte mit ihren Eltern ein Ferienappartement im Luxushotel L’Étoile de l‘Île auf der Insel Porquerolles. Sie schaute sich in der Hotelsuite um, suchte nach einem geeigneten Platz. Ihr Blick wanderte von ihrem kleinen Arbeitstischchen zur Sitzgruppe mit den bequemen Sofas und Sesseln. Sollte sie das Buch unter einem der dicken Polster verstecken? Nein, die Gefahr, dass es dort entdeckt wurde, war zu groß. Sie suchte weiter. „Vielleicht auf dem Balkon?“, rätselte sie. Vor der schmiedeeisernen Brüstung stand seitlich rechts und links je ein riesiger länglicher Trog aus weißem Marmor, auf dem mehrere dichte Oleanderbüsche Sichtschutz vor neugierigen Menschen auf den Nachbarbalkons boten. Nach vorne fiel der Blick kaum behindert durch das Balkongitter hinab auf den Strand. Nein, auch hier war kein Versteck. Oder sollte sie das Tagebuch in der Erde neben den Büschen vergraben? Aber das war ihr zu schmutzig. Und außerdem – wenn es regnete, dann würde alles kaputt gehen. Sie suchte weiter. Das Bad? Nein, dort war alles glatt, weiß gefliest, ohne geheime Nischen, in die man das flache Büchlein zwängen könnte. Im Schlafzimmer ihrer Eltern wollte sie das Buch nicht verstecken. Da käme sie nachts nicht daran, genau in der Zeit, in der sie ungestört mit ihren Aufzeichnungen Zwiesprache halten konnte. Heute war ein Ausnahmetag. Ihre Eltern hatten mit den neuen Freunden einen Ausflug aufs Festland nach Toulon gemacht und würden erst abends mit dem letzten Schiff zurückkommen. Es hatte sie viel Betteln und Flehen gekostet, im Hotel bleiben zu dürfen. Schließlich hatten ihre Eltern nachgegeben. Sie durfte bleiben. Es wurde ihr aber streng verboten, das Hotelareal zu verlassen. Vor allem durfte sie keine Spaziergänge machen, weder in das etwa eine halbe Stunde entfernte Dorf Porquerolles, noch an den Strand, und schon gar nicht auf die crêtes, die steilen Klippen, über die die Insel nach Süden ins Meer abstürzte. Vor allem ihre Mama war überängstlich. Was konnte ihrem kleinen Mädchen nicht alles passieren – sie könnte von den Felsen abstürzen, oder beim Schwimmen ertrinken, oder von Kriminellen entführt werden. Amélie hatte hoch und heilig versprochen, sich strikt an alle Verbote zu halten. Dies war ihr überhaupt nicht schwer gefallen, denn sie wollte gar nicht weg, sondern im Hotel bleiben und sich mit Simon treffen, wann immer sein Dienst als Page ihm dies erlaubte.
Amélie ging suchend in der großen, aus zwei Schlaf-, einem Wohnzimmer, einem Bad und einem Vorraum bestehenden Suite umher. Der Heizkörper in der Eingangsdiele zog ihren Blick an. Unter einem weißen Marmorsims und hinter einer Verkleidung aus dunkel-rötlichen Mahagonilamellen schimmerten grau die Rippen des Radiators. Sie schob das daumendicke Büchlein zwischen die Lamellen. Doch das war nichts, man konnte es von außen sehen. Als sie es wieder herauszog, merkte sie, dass das Mahagonigitter sich bewegte. Sie rüttelte daran und plötzlich fiel es ihr entgegen.
„Ein cooles Versteck!“, murmelte sie und schob ihr Tagebuch von oben hinter den kalten Heizkörper. Doch es ließ sich nicht weit genug hinunterschieben. Irgendetwas war im Weg. Sie nahm ihr Buch wieder heraus und griff hinein. Nur wenige Zentimeter unter der Oberkante spürte sie ein Hindernis. Sie betastete es mit den Fingerspitzen. Es fühlte sich wie weicher Stoff an. Aber dahinter war etwas Festes – hart und lang, deutlich mehr als ihre Handspanne. Sie nahm ihre zweite Hand zu Hilfe und schob es langsam hoch. Es rutschte oben über den Heizkörper und fiel mit lautem Knall auf den Steinfußboden. Amélie schreckte zurück. Vor ihr lag matt-schwarz glänzend und hart mit dem weißen Marmor kontrastierend, eine Pistole. Ein braunes flauschiges Tuch glitt langsam über die Lamellen und landete sanft auf dem Boden.
Ängstlich nahm sie die Waffe, hob sie mit zitternden Fingern hoch, trug sie ins Wohnzimmer und legte sie vorsichtig auf den Couchtisch. Was sollte sie jetzt tun? Simon holen? Aber der müsste das der Direktion melden. Die würden ihn dann fragen, was er in ihrer Suite zu suchen hatte. Nein, ihn wollte sie nicht hineinziehen. Wer weiß, was er für Probleme mit der Hotelleitung bekäme. Die Rezeption anrufen? Die Polizei?
„Nein, ich warte auf maman und papa! Die wissen bestimmt, was zu tun ist!“, überlegte sie laut. Sie wollten mit dem letzten Schiff um 19.00 Uhr zurückkommen. Bis sie dann mit der navette de l’hotel, dem kleinen Minibus, mit dem das L’Étoile de l’Île die Hotelgäste vom Hafen abholte, bei ihr wären, würde es halb acht sein. Amélie beschloss, auf der Couch im Wohnzimmer sitzen zu bleiben und die Pistole zu bewachen, bis ihre Eltern zurück waren.
„Mein Tagebuch!“ Erschrocken blickte sie sich um. Es lag noch vor dem Heizkörper. Sie trug es in ihr Zimmer und versteckte es unter der Matratze ihres Bettes. Jetzt hatte sie keine Nerven, nach einem besseren Versteck zu suchen.
* * *
„Chérie, es war wunderschön. Schade, dass du nicht mitkommen wolltest!“ Mit lautem Gepolter stürmte Frau Perronnet in das Appartement. Sie stoppte abrupt, als sie ihre Tochter bewegungslos vor dem Couchtisch sitzen sah. Das Kind wirkte irgendwie verstört. Sein Blick war auf den Tisch vor ihm gerichtet.
„Mein Schatz, geht es dir nicht gut? Fehlt dir etwas?“
Sie machte ein paar Schritte in das Zimmer, dicht gefolgt von ihrem Mann. Ginette Perronnet schaute ihrer Tochter besorgt in die Augen.
„Da, das hab ich gefunden!“
Jetzt erst sah die Mutter die Waffe auf dem Glastisch. Zuerst glaubte sie, Amélie hatte eine Spielzeugpistole gefunden, die Kinder früherer Hotelgäste vergessen hatten. Sie merkte ihren Irrtum jedoch sofort, als sie das Ding aufhob. Schwer und kalt lag es in ihrer Hand.
„Claude, die ist echt!“, rief sie erschrocken zu ihrem Mann. Neugierig nahm Perronnet seiner Frau die Waffe aus der Hand und betrachtete sie voller Interesse, während die Mutter sich neben Amélie auf die Couch setzte und ihr Kind beschützend in die Arme nahm.
„Wo hast du die her?“
Claude Perronnet, immer noch fasziniert von dem Fund, denn er hatte noch nie eine echte Pistole in der Hand gehabt, schaute seine Tochter fragend an.
Amélie deutete auf den Vorraum.
„Da, hinter dem Holzgitter.“
Aller Augen richteten sich auf den Durchgang zur kleinen Diele und auf die rotbraune Mahagoniverkleidung des Heizkörpers. Amélie hatte es nicht geschafft, sie wieder richtig in der Wandnische zu befestigen. Das hölzerne Gitter war schräg gegen den Radiator gelehnt.
„Aber was hast du dort zu suchen gehabt?“
Was sollte sie darauf antworten. Sie konnte doch unmöglich sagen, dass sie nach einem Versteck für ihr Tagebuch gesucht hatte.
„I… i… ich bi… bin gestolpert und dagegen gefallen. Da ist das Ding rausgegangen und die Pi… Pistole ist mir entgegengefallen.“
Gott sei Dank war ihr diese Notlüge gerade noch rechtzeitig eingefallen.
„Mein armer Liebling! Hast du dir wehgetan? Dich verletzt?“
Besorgt drückte Ginette ihre Tochter fester an sich.
Claude Perronnet hatte inzwischen die Inspektion des Fundes abgeschlossen. Gerne hätte er weiter daran herum manipuliert, den Schlitten bewegt und den Abzug berührt. Aber das traute er sich nicht. Was, wenn sich ein Schuss gelöst hätte? Eine innere Unruhe erfasste ihn. Wie kam diese Waffe in ihre Hotelsuite? Hatten hier vorher Gangster gewohnt? Womöglich kamen die wieder, um die Pistole zu holen. Vielleicht waren sie in Gefahr – Ginette, Amélie und er. Noch nie war er in einer derartigen Situation gewesen – weder privat, noch in seiner Funktion als stellvertretender Bürgermeister von Bordeaux, obwohl er dort weiß Gott viel erlebt hatte. Er wurde zusehends nervöser. Aber das konnte er sich doch nicht anmerken lassen. Deshalb verkündete er mit gespielter Souveränität:
„Darum soll sich das Hotel kümmern. Ich rufe den concièrge an.“
Wenige Minuten später klopfte es. Der Empfangschef und der Hoteldirektor standen vor der Türe. Claude Perronnet bat die beiden herein. Dann überreichte er die in das braune Tuch gehüllte Pistole dem Hotelchef.
„Das ist meiner Tochter entgegengefallen, als sie im Vorraum gestolpert und gegen das Heizungsgitter gefallen ist. Nehmen Sie das Ding und machen Sie damit, was Sie für richtig halten. Aber sorgen Sie dafür, dass wir damit nicht belästigt werden. Schließlich wollen wir uns hier in Ruhe erholen.“
„Bien sûr monsieur le maire!...