Freitag, 7. Oktober
Obwohl der Nachmittag schon weit fortgeschritten war und alle seine Mitarbeiter bereits nach Hause gegangen waren, hatte für Guillaume de Montagne der Feierabend noch nicht begonnen. Ein Kunde hatte um ein persönliches Beratungsgespräch um diese Uhrzeit gebeten. Natürlich hätte es der Bankchef lieber gesehen, wenn er diesen Termin auf die nächste Woche verschieben und früher hätte nach Hause fahren können. Aber der Kunde, ein sehr wohlhabender Privatmann, war zu wichtig für die Bank. Also hatte er zähneknirschend nachgegeben und seine eigentlich geplante Freizeitbeschäftigung hintan gestellt. Zum Glück waren die Tage im Oktober noch ausreichend lang, so dass er sich seinem Hobby, dem Mountainbiking, auch später noch bei Helligkeit widmen konnte.
Das Gespräch stellte sich als langwierig und entnervend heraus. Der Informationsbedarf des Kunden war schier unbegrenzt. Nachdem der Bankchef unzählige und ermüdende Fragen zu Aktienfonds, ETFs, Immobilienfonds und anderen Anlageformen beantwortet und den Kunden mit einem umfangreichen Paket von Broschüren und Informationsblättern ausgestattet hatte, war er seinen Besuch endlich los, konnte das zur Straße führende Zugangstor verriegeln und die Bank durch die dem Personal vorbehaltene Hintertüre verlassen - nicht ohne vorher die Alarmanlage zu aktivieren.
Es war schon nach achtzehn Uhr, als er in seinen Landrover stieg und sich auf den Weg zu seinem draußen auf dem Land, mitten zwischen Weinbergen und Olivenhainen gelegenen Haus machte.
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Nach der langen Arbeitswoche, die er fast ausschließlich mit sitzenden Tätigkeiten verbracht hatte - mit Aktenstudium, mit Arbeiten am Computer oder in Beratungsgesprächen - lechzte sein Körper nach sportlicher Bewegung.
"Merci ma chérie, aber erst, wenn ich wieder zurück bin", lehnte er den Aperitif ab, den Marie-Claire, seine Frau auf der Terrasse der Villa vorbereitet hatte. "Ich muss mich jetzt erst bewegen, körperlich auspowern. Nach dieser Arbeitswoche brauche ich das ganz dringend."
"Wirst du lange wegbleiben?", fragte sie. Als er nickte, seufzte sie: "Erfahrungsgemäß kann das Stunden dauern. Ich glaube, das wird mir zu spät. Mon chéri, ich bin heute etwas kaputt - meine Migräne. Du kennst das ja. Bist du mir böse, wenn ich nicht auf dich warte, sondern mich schon vorher schlafen lege?"
"Aber ganz gewiss nicht, ma chouchoute! Leg dich bald hin und schlaf dich aus, damit es dir morgen wieder gut geht. Nimm vielleicht ein Valium, damit du nicht aufwachst, wenn ich spät heimkomme."
Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und enteile ins Obergeschoß. In dem zwischen Schlafzimmer und Bad gelegenen Umkleideraum warf er seinen Businessanzug auf den Boden und schlüpfte in seine Radfahrmontur - eine enge, dunkelblaue Radfahrerhose und ein grellrotes Trikot mit der blauen Aufschrift CCC - Club Cycliste de Cabanosque. In der Garage hob er sein Mountainbike aus der Wandhalterung, setzte den Helm auf, zog seine Fahrradhandschuhe an und fuhr los. Von den vielen Streckenvarianten, die sich von Cabanosque aus für Mountainbiker anboten, hatte er eine zu seinem Lieblingsparcours auserkoren. Er war abwechslungsreich und sehr anspruchsvoll. Wann immer ihm sein Job und seine Frau Zeit dafür ließen, tobte er sich auf dieser seiner Standardstrecke sportlich aus. Wie stets, wählte er auch jetzt diese Route.
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Marie-Claire de Montagne blickte ihrem Mann nach, wie er sich auf sein Rad schwang, die gekieste Zufahrt zu ihrem Grundstück hinunter fuhr und dann links in die asphaltierte rue communale einbog. Sie ging zurück ins Haus und überlegte, ob sie sich wirklich hinlegen oder lieber die Gelegenheit nutzen und Claude anrufen sollte. Sie entschied sich für Letzteres.
"Claude, jetzt bin ich allein. Guillaume ist weg, er braucht seinen Abendsport, hat er gesagt. Mit seinem Mountainbike. Jetzt haben wir Zeit und können in Ruhe alles besprechen. Kommst du .?"
"Und wenn er zurückkommt? Du weißt ja, er rastet aus, wenn er sieht, dass ich zu euch ins Haus komme. Bist du sicher, dass er lange genug weg bleibt? Weißt du, wohin er gefahren ist?"
"Keine Ahnung, das interessiert mich nicht besonders. Aber normalerweise ist er immer so zwei bis drei Stunden unterwegs." Vielleicht war er aber auch zu seiner Geliebten gefahren, dieser Gastwirtin, dachte sie. Das hinge allerdings davon ab, ob deren Mann zuhause war oder nicht.
"Also, was ist? Kommst du?"
"Lieber nicht. Das ist mir zu riskant. Ich kenne seine Touren. Da ist auch eine kürzere dabei. Wenn er die fährt, dann ist er bald zurück. Und wenn er mich dann bei dir sieht ."
"Du weißt, wo er fährt?"
"Ja, früher hatten wir doch zusammen solche Mountainbiketouren gemacht. Daher weiß ich das. Aber seit einiger Zeit ist das passé. Wir beide wissen, warum."
"Also kommst du nicht?"
"Nein! Sonst gibt es Mord und Totschlag!"
Natürlich war es auch Marie-Claire klar: Ein Zusammentreffen ihres Mannes Guillaume mit ihrem Bruder Claude würde nicht friedlich verlaufen, sondern in Streit und in Handgreiflichkeiten ausarten, wenn nicht sogar in eine brutale Schlägerei. Zu ungestüm waren deren Charaktere und zu gravierend der Grund für ihre Feindschaft.
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Froh, dem Büro und dem beengenden Zuhause entkommen zu sein, trat Guillaume de Montagne in die Pedale. Zuerst ging es ein paar Kilometer eben auf der Landstraße dahin. Die Ernte in den Weingärten rechts und links der Straße war bereits seit Längerem vorüber. Das Grün der dichten Blätter auf den Rebstöcken begann schon in herbstliches Gelb umzuschlagen. Die tiefstehende Sonne überflutete die Landschaft mit ihrem goldenen Licht und ließ die Farben besonders kontrastreich leuchten. Als die Gegend hügeliger wurde, verließ er die Teerstraße und kämpfte sich einen steilen Schotterweg bergan. Hier änderte sich die Vegetation. Die kultivierten Weingärten und Olivenhaine lagen hinter ihm. Stattdessen säumte hartlaubige und teils stachelige garrigue den Weg. Rosmarin, Thymian, vereinzelt ein wilder Lavendelbusch, weiß und rosablühende Zistrosen mit ihren blassgrünen, behaarten Blättern und immer wieder Ginsterbüsche prägten das Bild. Guillaume de Montagne nahm dies allerdings nicht wahr. Weder sah er die zarten Blüten, noch roch er den würzigen Duft, den der ausgetrocknete Boden und die wilden Pflanzen verströmten. Er quälte sich verbissen den steilen Hang hinauf, den Blick stur auf den steinigen Weg vor sich gerichtet. Er fing zu schwitzen an, spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Langsam fielen die Anspannung und der Stress der Arbeitswoche von ihm ab und er fühlte sich frei. Mit noch mehr Kraft trat er in die Pedale und freute sich über das Geräusch, das die von seinem vorantreibenden Hinterreifen wegspritzenden Steine verursachten.
Bald hatte er die erste Höhe erreicht. Der sich zu einem Pfad verengende Weg führte den nur noch leicht ansteigenden Bergrücken entlang. Jetzt konnte er etwas nachlassen, sich von der Anstrengung erholen. Nun hatte er auch wieder einen Blick für seine Umgebung übrig, für die Schönheit der Landschaft. Rechts, nach Osten, ersteckte sich das hügelige, baumbestandene Land soweit das Auge reichte. Läge nicht das Massif des Maures als breite Barriere dazwischen, dann könnte man von hier oben aus das Meer sehen, dachte er. Guillaume hielt an, stieg ab und setzte sich auf einen Felsbrocken am Wegrand. Links unter ihm lag das Städtchen Cabanosque. Die Dämmerung war schon so weit fortgeschritten, dass die Stadtverwaltung die Straßenlaternen bereits angeschaltet hatte. Die verwinkelten Dächer mit ihren typischen provenzalischen Ziegeln grüßten herauf. Der von einem schmiedeeisernen Käfig bekrönte Turm der alten Kirche war im Scheinwerfer-Spotlicht gut zu erkennen. Daneben das Hôtel de Ville, das Rathaus, am von alten Platanen beschatteten Platz. Dort konnte er das rosafarbene Haus ausmachen, dessen gesamtes Erdgeschoß von seiner Bank eingenommen wurde. Weiter hinten, wo die route départementale am kleinen centre commercial vorbeiführte, ein kurzes Stück weiter, lag der Sportplatz mit drei Tennisplätzen, dem Fußballplatz mit der umlaufenden blauen Tartanbahn für die Leichtathleten, sowie dem großen Rugbyfeld seines CRC, des Club de Rugby de Cabanosque.
Was sich Toto nur einbildete! Als könnte er ihm, dem erfolgreichen und mächtigen Präsidenten des CRC das Wasser reichen! Aber dem hatte er es gegeben. Ihn in seine Schranken verwiesen. Ihm klar gemacht, wer hier das Sagen hatte. Der brauchte sich nicht mehr sehen zu lassen. Zufrieden nahm Guillaume de Montagne die Trinkflasche aus der Halterung und trank einen tiefen Schluck von dem immer noch erfrischend-kalten isotonischen Powerdrink. Er verstaute die Flasche, schwang sich wieder auf sein Mountainbike und setzte seine Tour fort. Seine Standardroute führte ihn zum nächsten Berg. Hier war der Anstieg länger und steiler als beim ersten, kleineren Auftakthügel vorhin. Aber die Mühen würden sich lohnen, dachte er, während er sich im kleinsten Gang den holprigen Pfad hinauf quälte. Oben, auf der Kuppe des Berges, würde er auf einen DFCI-Schotterweg treffen, eine der Pistes de Défence de la Forêt Contre les Incendies, Wegschneisen, die die Forstbehörde zur Brandbekämpfung durch die Wälder gezogen hatte. Auf dieser piste ging es mehr als fünf Kilometer bergab. Dort würde er seinem Mountainbike die Zügel freigeben und die lange, kurvenreiche und...