Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Gestern war noch alles anders gewesen.
Gestern stand ich noch in der Küche und rollte Teig aus, neben mir standen fünf Schalen Erdbeeren, im Ofen schmorte Bouf Bourguignon, in einer Pfanne briet grüner Spargel mit Estragon, aber nur ganz kurz, denn er sollte noch auf die Quiche. Dabei schaute ich The Big Sleep. Ich schaute beim Kochen immer Filme. Oder Serien. Und ich konnte schon immer gut kochen. Wenn du irgendwas gut kannst, mach es nicht für umsonst, hatte meine Mutter immer gesagt, sie feuerte viele Weisheiten raus, aber das war eine von den sehr wenigen, die nicht so verkehrt waren. Genauso wie: Triff keine wichtige Entscheidung nach zwei Uhr nachts. Ich vermute allerdings, dass sie ein paar wichtige Entscheidungen genau dann getroffen hat.
Ich konnte Entscheidungen nicht ausstehen und versuchte, sie, wenn es irgendwie ging, zu vermeiden, nachts oder wann auch immer.
Mein Telefon klingelte.
Ich warf dem Hund eine Erdbeere hin. Er aß gerne Erdbeeren. Eigentlich aß er alles gerne.
»Was machst du jetzt mit dem Haus, Mama?«, sagte Lucie.
»Mit welchem Haus?«
Ich bewegte die Pfanne mit Spargel hin und her.
»Kochst du schon wieder?«
»Nein, keine Sorge«, sagte ich.
»Doch, ich höre es doch, Flora!« Wenn meine Tochter streng wurde, nannte sie mich bei meinem Vornamen. »Ich dachte, du hättest damit aufgehört, nach dieser Geschichte. Ich will nicht, dass wieder was passiert.«
»Ach komm, das war ein einziges Mal.« Ich lachte.
Vor Kurzem ist mir der Ofen in Flammen aufgegangen, irgendwie hat Backpapier Feuer gefangen oder so, was genau war, weiß ich nicht, und dann hatte ich mal vergessen, den Herd auszumachen, und ich musste mit einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus, also eigentlich nur vorsichtshalber, eigentlich war gar nichts. Missgeschicke, die ständig und jedem passierten. Aber seitdem machte sich Lucie unentwegt Sorgen.
»Das ist nicht witzig. Und wahrscheinlich kuckst du dabei auch noch einen Film.«
»The Big Sleep. Ich mache gerade eine Film-noir-Retrospektive. Mach dir keine Sorgen wegen dem Kochen, ich bin doch ein Profi.«
Tatsächlich hatte ich mal eine Kochausbildung begonnen, weil ich mit meiner Schwester ein Restaurant aufmachen wollte. Als wir jung waren. Sehr jung.
»Kochen hilft dir gerade auch nicht weiter. Mir ist lieber, du übersetzt einfach nur Bücher, da kann weniger passieren. Zum Kochen bist du einfach zu schusselig.«
Das war Lucies Wahrnehmung. Nicht meine.
Außerdem fand ich, dass Kochen immer half. Genauso wie Karate.
»Sei froh, dass ich dir nicht erzählt habe, dass ich grade meinen Pilotenschein mache.«
»Ja, haha, sehr lustig.«
Ich machte tatsächlich gerade meinen Pilotenschein. Ich wollte meine Flugangst bekämpfen und mochte solche Sachen. Ich machte auch Karate. Aber heimlich, Lucie würde sich sonst ja noch mehr Sorgen machen.
»Also, die Frage war, was machst du jetzt mit dem Haus?«
»Nächste Frage!«
»Mama!«
Ich seufzte und fischte die Markknochen aus dem Bouf Bourguignon.
»Keine Ahnung.«
»Du musst dich jetzt langsam mal kümmern. Wie lange sind deine Eltern jetzt tot? Ich krieg schon dauernd Anrufe, das Haus gammelt vor sich hin. Und wenn's vergammelt ist, kauft es am Ende niemand.«
»So lange ist es nun auch wieder nicht her. Ein Jahr oder so.« Ich wusste natürlich genau, wie lange es her war. Es war wirklich ein Jahr oder so. »Von wem kriegst du denn Anrufe?«
»Von Anne zum Beispiel.«
Anne war die Nachbarin meiner Eltern. Gewesen. Gewissermaßen war sie es auch jetzt noch. Falls man Nachbar von jemandem sein kann, der gestorben ist.
»Wieso ruft sie denn nicht mich an?«
»Tut sie ja, hör mal deine Mailbox ab!«
»Welche Mailbox?«
Ich hörte, wie sie etwas sagen wollte, es aber nicht tat.
»Mama, ich versuche, über ernste Sachen mit dir zu sprechen. Hast du denn was von deiner Schwester gehört?«
»Meine blöde Schwester? Du weißt doch, dass wir keinen Kontakt haben.«
»Sie ist nicht blöd. Weiß sie denn überhaupt Bescheid? Wie die Lage ist?«
»Du kennst sie doch gar nicht gut genug, um zu wissen, ob sie blöd ist oder nicht. Oder wie blöd.«
Natürlich wusste meine blöde Schwester, »wie die Lage ist«. Natürlich hatte ich ihr mehrere Nachrichten hinterlassen und Briefe geschrieben. Als unsere Mutter gestorben war. Als unser Vater gestorben war. Sie hatte sich nie gemeldet. Wie schon all die Jahre davor. Vielleicht mal an Weihnachten mit nichtssagenden Weihnachtspostkarten.
»Vielleicht hat sie die Nachrichten aus irgendwelchen Gründen nicht bekommen.«
»Oder sie ignoriert sie.«
»Dann wird sie ganz sicher ihre Gründe haben. Kein Mensch ignoriert den Tod seiner Eltern einfach so.«
»Was weiß ich. Es ist nicht immer alles im Leben nachvollziehbar. Ganz besonders bei ihr. Meine blöde Schwester hatte nicht immer Gründe für ihr unmögliches Verhalten.«
»Sag nicht dauernd >meine blöde Schwester<, das ist irgendwie würdelos, ich meine, sie ist immer noch deine Schwester. Ihr müsst das irgendwie wieder hinkriegen, das gibt's doch wohl nicht.«
»Sie ist blöd, sie lacht nicht bei Harry und Sally.«
Lucie seufzte.
»Warum habt ihr noch mal keinen Kontakt mehr?«
»Ich hab übrigens auch Pralinen gemacht. >Eine Praline zu essen, ist, wie wenn dir eine Geschichte erzählt wird<, das hast du als Kind immer gesagt. Daraufhin hab ich angefangen, Pralinen zu machen, weißt du noch? Denn Geschichten erzählen konnte ich nicht so gut.«
»Deine Pralinen sind wirklich gut.«
Ich hörte, wie Lucie schlucken musste. Sie musste immer schlucken, sobald man ihr von Essen erzählte.
»Du lenkst vom Thema ab.«
»Was war die Frage?«
»Mama, echt.«
»Das weißt du doch. Es ist kompliziert.«
Das sagte ich immer.
»Das sagst du immer, wenn du über irgendwas nicht reden willst. Erzähl noch mal.«
»Sie hat . wir haben . Du kennst doch alle Geschichten.«
Ich hatte keine Lust, darüber zu reden, und keine Lust, mich überhaupt damit zu beschäftigen. Und ich wusste auch nicht mehr, welche Geschichten ich schon erzählt hatte. Welche Geschichte es überhaupt war, die meine Schwester davon abhielt, sich zu melden. Und ob es überhaupt eine Geschichte gab. Ehrlich gesagt wusste ich es selber nicht. Ich wusste nicht, weshalb meine Schwester und ich keinen Kontakt mehr hatten.
»Du hast mir das nie erzählt. Ich hab dich schon so oft gefragt. Ich hätte nämlich gern eine Tante gehabt.«
»Du hast viele Tanten.« Ich zählte meine Freundinnen auf.
Lucie ging nicht darauf ein.
»Was ist denn gewesen? Warum habt ihr keinen Kontakt mehr? Und warum hat sie die Verbindung zu euren Eltern gekappt?«
»Es ist alles so lange her, dass ich eigentlich gar nicht mehr weiß, was genau passiert ist. Warum genau wir uns zerstritten haben. Haben wir das überhaupt? Haben wir uns nicht einfach aus den Augen verloren, wie alle normalen Geschwister? Die meisten meiner Freunde haben keine enge Beziehung zu ihren Geschwistern. Oder überhaupt keine. Manche sehen sich fast nie, ohne dass es ein Drama ist. Manche reden seit Jahren nicht mehr miteinander. Es sind wenige, die sich wirklich mögen und sich auf irgendeine Weise nahe sind.«
»Aber was ist passiert?«
»Lucie, ich weiß es nicht. Vielleicht nur eine Anhäufung von Kleinigkeiten. Meistens sind es ja nur die Kleinigkeiten. Wie in einer Ehe. Die meisten Ehen zerbrechen durch eine Anhäufung von Kleinigkeiten. Und plötzlich ist es ein Riesenberg.«
»Du warst doch nie verheiratet, Mama, du kannst da überhaupt nicht mitreden.«
»Man kann auch bei Dingen mitreden, die man selbst nicht erlebt hat.«
»Ich verstehe das nicht, Geschwister sind doch die Menschen, die man am besten auf der Welt kennt. Denen man am nächsten ist. Weil man sie seit immer kennt.«
»Du hast doch gar keine Geschwister. Du kannst das gar nicht wissen.«
»Ja, eben. Deswegen denk ich das. Außerdem hätte ich gerne welche gehabt.«
»Ich weiß auch nicht, ob das stimmt, das mit den Geschwistern. Ich hab jedenfalls das Gefühl, dass meine besten Freundinnen mehr meine Schwestern sind als meine richtige Schwester. Fremder als sie könnte mir niemand sein, zumindest niemand, den ich so lange kenne. Man braucht gar keine leibliche Familie. Die wahre Familie findet man unterwegs.«
Davon war ich überzeugt.
»Mama, mich hast du auch nicht unterwegs gefunden. Diese Diskussion läuft ins Leere. Außerdem lenkst du vom Thema ab.«
»Welches Thema? Ich muss gleich los.«
»Hör auf, du musst nicht gleich los. Das sagst du nur, wenn dir was unangenehm ist. Du hast dann dringende Termine oder willst ganz schnell verreisen.«
»Ich hab wirklich einen Termin.«
»Du musst dich jetzt endlich mal um das Haus kümmern. Überlegen, was du damit machst: verkaufen, behalten, vermieten - oder selbst dort einziehen.«
»Bist du irre, wieso sollte ich da hinziehen?«
»Ich wollte nur testen, ob du zuhörst. Du musst eine Entscheidung treffen, du kannst es nicht einfach vergammeln lassen. Egal, was du damit machst, du musst es langsam mal ausräumen. Und dann verkaufen, dann kannst du im Alter davon leben.«
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.