Schweitzer Fachinformationen
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Am nächsten Morgen ging ich in aller Früh in meine Praxis, um eine Begegnung mit Paul zu vermeiden.
Ich hatte an diesem Tag keine Patienten, ein paar Tage in der Woche waren zum Schreiben meines neuen Buches reserviert, Erfolgreich Beziehungen beenden. Zu viele Paare, die über ihre zerrüttete Beziehung sprachen, waren in Schreibphasen nicht gut, zu wenig allerdings auch nicht.
Es war ein strahlender Frühlingstag, und meine Ehe ging den Bach runter.
Natürlich nicht erst seit gestern. Aber ich hatte es nicht sehen wollen. Oder nicht sehen können. Oder beides. Doch jetzt war der Moment da, an dem es mir schlagartig klar wurde. Der Moment, an dem ich es sehen konnte.
Es war schon richtig warm, sogar um diese Zeit, und ich beschloss, laufen zu gehen, um besser nachdenken zu können.
Am Abend hatte ich eine Lesung aus meinem letzten Buch Erfolgreich Beziehungen beginnen in einer Buchhandlung im südlichen Teil der Stadt und musste meine Gedanken sortieren und mich vorbereiten. Ich lief den Fluss entlang, und die Stadt erschien mir so mild und ruhig und ländlich, wie sie mir selten vorgekommen war. Ich lief an den Enten und Gänsen vorbei, deren Junge noch vor ein paar Wochen kleine Federknäuel gewesen waren und bald kaum mehr von ihren Eltern zu unterscheiden sein würden.
Aus irgendwelchen Gründen, die ich selbst nicht verstand, war ich gut gelaunt. Vielleicht nicht euphorisch, aber zumindest nicht verzweifelt.
Hüpfen statt heulen, sagte ich mir.
Ich dachte beim Laufen über die Schlüpfersache nach. Mich schmerzte diese Ungewissheit nicht mehr, die Tatsache, nicht zu wissen, wem er gehörte. Ich dachte immer, ich will die Wahrheit kennen, aber wenn ich sie dann höre, was bringt es mir? Wenn die Wahrheit so eine Bedeutung bekommt, ist sie meistens nicht schön. Zumindest ist es nicht die, die man hören will. Wenn alles gut ist, besteht man auch nicht auf der Wahrheit. Mehr als das Bedürfnis, die Wahrheit zu kennen, verspürte ich eine Mischung aus Resignation und Zermürbung. Und gleichzeitig eine winzige Regung, tief in mir drin, wie ein kleines Flattern. Etwas, das sich beinahe wie eine Aufbruchstimmung anfühlte.
Ich hatte ziemlich lange gedacht, das sei alles gewesen in meinem Leben.
Das hatte sich nun geändert.
Ich wollte noch was vom Leben.
Mal sehen, was es noch für mich bereithielt.
Irgendwann. Nicht jetzt. Aber irgendwann.
Denn vorerst würde ich nichts tun. Ich hatte immer alles getan, und es hatte nichts gebracht. Jetzt würde ich die Zeit für mich arbeiten lassen.
Dumme Ausreden, Nora! Du lässt nicht die Zeit für dich arbeiten, du verschwendest sie einfach!, hörte ich Lous Stimme im Ohr.
Als ich nach Hause kam, lag ein Zettel von Paul auf dem Tisch.
Muss nach Rom, drehe dort eine längere Reportage. Hab alles so organisiert, dass ich ein paar Monate weg bin. Ist dir vermutlich recht. Aber irgendwann müssen wir reden.
P.S. Ich hab meinen Schlüssel dagelassen.
Es war mir recht, sogar sehr recht. Ich hätte ihm sein Schweigen natürlich vorwerfen können. Aber ich redete selbst nicht gerne. Was fast niemand wusste. Lou wusste das, natürlich.
Pauls Wohnungsschlüssel lag neben dem Zettel auf dem Tisch.
Ich wusste die Geste zu schätzen.
Die Lesung war gut gelaufen, ich hatte mich an die Zeit gehalten, und das Publikum war freundlich und interessiert, und ich unterhielt mich noch mit ein paar Leserinnen, denen ich ein Buch signierte. Danach fing ich an, meine Sachen einzupacken. Ich wühlte in meiner Tasche, die auf dem Boden stand.
»Verstecken Sie sich vor mir?«
Ich kannte die Stimme, aber ich konnte sie nicht zuordnen. Ich schaute auf. Der Typ aus dem Supermarkt, mit dem Joghurtglas. Er hielt mein Buch in der Hand.
»Wie haben Sie mich so schnell wiedergefunden?«, fragte ich, so lässig es ging.
»Die ganze Stadt ist plakatiert. Unmöglich, Sie zu übersehen.«
Er zog mich auf.
Ich mochte sein Lachen und seine vollkommen einnehmende jungenhafte Art. Warum war mir das im Supermarkt nicht aufgefallen?
»Haben Sie das ernsthaft gekauft?«, fragte ich und zeigte auf mein Buch. »Glaub nicht, dass das was für Sie ist.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Sie sind zu jung und ein Mann.«
»Ich hab es für meine Mutter gekauft.«
Man hätte sagen können, das Eis sei gebrochen, aber da war ja nie Eis gewesen. Nur Joghurt.
»Soll ich es dann für Ihre Mutter signieren?« Ich lächelte.
»Wenn Sie mit mir essen gehen, dürfen Sie es signieren«, sagte er. »Und zwar für mich.«
Es war eine komplett unvernünftige Idee, so was von unvernünftig. Und bescheuert.
Ich dachte an Lou und überlegte, was sie sagen würde.
Was soll's, würde sie sagen. Mach es.
»Allons-y«, sagte ich und sah ihn an.
Er hieß Gregory, und der Akzent war ein neuseeländischer, es war erstaunlich, wie witzig und überhaupt nicht langweilig der Abend wurde. Wir saßen bei einem Italiener, den ich nicht kannte, mit rot karierten Tischdecken und Kerzen in leeren, dickbauchigen Chianti-Flaschen, wir tranken Wein aus Karaffen und aßen Pizza mit scharfer Salami und danach Zabaione mit nur einem Löffel.
Und als er sich die Rechnung bringen ließ, kramte er in seinem Portemonnaie nach Geld und fand keins und zuckte sehr charmant mit den Schultern. Ich lachte und zahlte, und es störte mich nicht. Sowas von nicht.
So einen Abend hatte ich lange nicht mehr gehabt. Es war wie in einer romantischen Komödie. Und zwar in einer guten. Der Abend war ein einziges ungebrochenes Klischee. Für so einen Abend hätte ich alles getan.
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und wusste nicht, wo ich war.
Ich lag in zerwühltem Bettzeug auf einem Futon und hatte Kopfschmerzen. Neben dem Bett lagen Hanteln. Und ein Zettel: Bin Croissants holen, Kaffee steht in der Küche.
Wie süß, dachte ich. Wie man sich das wünscht.
Ich stand auf, stolperte über meine Schuhe und suchte eine Kopfschmerztablette in meiner Handtasche. Dann ging ich ins Badezimmer und ließ das Wasser laufen, bis es richtig kalt war. Ich ließ es lange auf meine Handgelenke laufen und nahm die Tablette. Ich schaute in den Spiegel, schaute mir in die Augen, als sei ich eine andere. Ich schminkte mich so gut es ging, so wie man sich eben schminken kann, wenn man sich am Abend davor nicht abgeschminkt und zu viel Wein getrunken hat. Ich machte ein paar Grimassen und lächelte mein Spiegelbild an. Dann zog ich mich an und ging nach Hause.
Lou sagte immer, erst ins Bett und dann verlieben.
Das Erste hatte ich schon mal geschafft. Für das andere war es noch viel zu früh.
Aber man kann nie wissen, wie die nächste Szene aussieht.
Als ich nach Hause kam, machte ich Kaffee und ließ mir die Badewanne ein.
Ich fragte mich, ob ich jemals tagsüber gebadet hatte, und kam zu dem Ergebnis: nein. Ich schminkte mich ab und blieb so lange in der Badewanne liegen, bis das Wasser kalt wurde und ich aufgeweicht war. Dann wartete ich, bis das Wasser ganz abgelaufen war und ich anfing zu frieren. Ich beschloss, ab jetzt mehr Dinge zu machen, die ich davor noch nie gemacht hatte. Dann legte ich mich ins Bett und schlief sofort ein.
Ich wachte auf in der Gewissheit, dass etwas vorbei war. Ich war es nicht gewohnt, dass etwas durch meine Entscheidung vorbei war. Ich hatte damit keine Erfahrung. Ich hatte mich noch nie getrennt. Ich fand das schwierig und hatte es deswegen immer dem anderen überlassen.
In meiner Praxis konnte ich meinen Patienten erklären, wie sie damit umgehen, was sie machen konnten. Was half. Aber ich wusste nicht, was ich selbst tun könnte. Was mir helfen würde. Bei mir selbst scheiterte ich. Bei mir scheiterte mein gesunder Menschenverstand. Meine Vernunft.
Ich wusste nur, ich musste umfühlen.
Den Rest des Tages verbrachte ich arbeitend, ich schrieb an dem Kapitel darüber, welche Anzeichen bestätigen, dass man eine Beziehung beenden sollte. War Betrug ein Grund, eine Beziehung zu beenden? Sollte man nach einem Betrug eine wichtige, langjährige Beziehung beenden? Wäre die Beziehung dann überhaupt noch wichtig? Und nach mehrfachem Betrug? Wäre es dann überhaupt noch eine Beziehung? Würde einen das alles nicht total bedrücken, sich in einen eindrücken, wäre man nicht irgendwann eine zerbeulte Blechdose, und ließe sich das je entbeulen?
Ich beschloss, das Kapitel erst mal zu verschieben.
Ich wusste es ja selbst nicht.
An diesem Abend regnete es, obwohl es gar nicht angekündigt war. Es schüttete regelrecht. Ich lag auf meinem Bett in dem riesigen Schlafzimmer, in unserer wunderschönen großen Wohnung, vier Zimmer, Altbau mit Stuckdecken und glänzendem alten Parkett und dem Balkon, der die ganze Stadt überblickte, und telefonierte mit Lou.
Sie lebte in der Nähe von London und leitete ein Yogastudio, sie war vor Jahrzehnten dorthin gezogen, zu ihrem damals neuen Mann, der immer noch ihr Mann war, aber das war eine andere Geschichte.
Sie war viel zu weit entfernt und doch so nah.
»Ich wünschte, du wärst hier«, sagte ich ihr.
»Was ist los? So bist du doch sonst nicht.«
»Das Leben«, sagte ich.
»Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Gin Tonic draus«, sagte sie.
»Ich dachte, Limonade«, sagte ich.
»So einen Unsinn hab ich noch nie gehört«, sagte Lou, und ich...
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