Schweitzer Fachinformationen
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Die dicke Bäckerin mit dem hellblauen Kopftuch und dem schmuddeligen Kittel stützt sich auf ihren Schrubber und sieht mir zu, wie ich an der Gstadter Uferstraße mit dem Fuß nach dem Boden fische, um aus Olivers Porsche auszusteigen. Ich fahre mit dem Swiffer über das Armaturenbrett, schließe mit einem satten »Wopp« die Fahrertür und betrachte kurz den Autoschlüssel in meiner Hand. Auch wenn er eigentlich nur ein Stück Metall mit Plastik dran ist: Für mich ist er schön wie ein Brillantcollier.
»Bekomme ich bei Ihnen schnell einen Kaffee? Und zwar to go?«, rufe ich der Bäckerin zu.
»Kaffä Togo? Momenterl!«, bellt sie, kruscht auf einem überfüllten Regalbrett herum, das auf zwei Baumarktwinkeln über einer Kaffeemaschine hängt, und hält mir eine Dose mit Schnappverschluss hin.
»Tut mir leid. Schaugns her, der is ned aus Togo, der Kaffä, der ist vom Eduscho. Basst des?«
Sie pumpt an einer röchelnden Thermoskanne herum, ohne meine Antwort abzuwarten. Es hat angefangen zu regnen, und ich flüchte zu ihr an die Theke.
»So ein Auto ist wie ein Rennpferd, das muss bewegt werden, sonst fängt es an zu zicken«, hatte ich Oliver vorgestern über meinen Laptop hinweg erklärt, »und außerdem fülle ich gerade dein Visum für eine Reise aus, auf die du mich erst einmal gar nicht mitnimmst. Meinst du nicht, dass das Grund genug ist, mich übers Wochenende mit deinem Porsche an den Chiemsee fahren zu lassen?«
Der ganze Quatsch mit »muss bewegt werden« war natürlich nur ein Vorwand. Aber ich kann ja schlecht mit dem Regionalzug anreisen. Welchen Eindruck würde das machen? Sicher nicht den, dass ich es geschafft habe, die Provinz weit hinter mir zu lassen und gerade zur Verkaufsleitung von Auto König befördert worden bin.
»Des macht zwei Euro bittschön. Kannst ruhig alles einischütten von der Bärenmarke, ich sperr jetzt eh gleich zu.«
Mit spitzen Fingern nehme ich ein Haferl und eine angerostete Dose mit zwei bräunlich verklebten Löchern entgegen. Die Bäckerin klemmt mit einem resoluten Fußtritt einen Keil in die Tür, um die Bistrotische von draußen in den Laden zu verfrachten. Ich nippe an dem lauwarmen Kaffee, sehe ihr zu, wie sie mit einem grauen Lumpen Regentropfen von den Tischplatten abwischt, und frage, mehr damit ich überhaupt etwas sage: »Wann geht denn das nächste Schiff?«
»Wie meinst, Schiff?«, fragt sie und stellt drei übereinandergestapelte Plastikstühle mit so viel Schwung in die Ecke, dass die Tropfen nur so spritzen. »Eini oder aussi?«
»Na ja«, erwidere ich leicht verärgert, »was heißt eini oder aussi, ich möchte auf die Fraueninsel.«
»Ah so. Eini also. Morgen wieder.«
»Wie bitte? Aber es ist doch noch nicht einmal halb sieben!«, protestiere ich und gehe wieder hinaus unter die Markise. Ich meine mich genau daran zu erinnern, dass die Chiemseeschiffe bis in die Nacht hinein verkehren. »Und was ist das?«
Ich zeige auf die Lichter eines Schiffes, das sich eindeutig auf den Dampfersteg zubewegt, aber im selben Moment fällt die nicht mehr ganz moderne Ladentür aus Messing und Rauchglas scheppernd ins Schloss, und zwei Sekunden später gehen im Laden die Lichter aus.
WINTERPAUSE steht auf der Tafel, die mit einem Gummisaugnapf an der Scheibe festgepappt ist. Und darunter hat jemand in krakeliger Schreibschrift gekritzelt: »Ab 1. März wieder geöffnet.«
Während das Schiff mit der Längsseite an den dicken Holzstempen entlangquietscht und zur Ruhe kommt, renne ich zur Anlegestelle, so schnell es mir Schuhe und Gepäck erlauben, und falle beinahe dem einzigen Fahrgast in die Arme, der nicht nur aussteigt, sondern auch die Landungsbrücke hinter sich auf den Steg zieht.
»Ist das das nächste Schiff auf die Fraueninsel?«, keuche ich, während mir die kalten Regentropfen hinten in den Trenchcoatkragen rinnen.
»Wieso, dadsd du jetzt einifahren wollen?«, fragt der Mann, der bei näherem Besehen kein Fahrgast, sondern der Uniform nach eindeutig der Kapitän ist.
»Ja! Die Schiffe gehen doch bis um zehn, oder?«
»Im Sommer vielleicht, aber im Winter ned. Bei mir ist jetzt Feierabend.«
»Wieso Winter? Es ist gerade mal November!«
Aber das hört der Chiemseeschifffahrtsangestellte schon nicht mehr, und ich sehe nur noch, wie ihm hinten an seiner schwarzen Uniformhose die Drecktropfen bis in die Kniekehle hochspritzen, als er sich eilig davonmacht. Aber weil sich ein Mädel aus der Stadt von derartigen Widrigkeiten des Alltags nicht einschüchtern lässt, beschließe ich die Lechner Anneliese anzurufen. Schließlich weiß sie, dass ich heute ankomme.
Ich krame in meiner Laptoptasche, die mir an dem nassen Mantel permanent nach unten rutscht. Dabei merke ich, dass die Tasche offen steht und es wahrscheinlich schon die ganze Zeit munter hineingeregnet hat. Ich zerre den Reißverschluss zu, um weiteren Schaden zu verhindern, und schreie gleichzeitig »Anneliese?« ins Telefon.
»Hallo? Anneliese?«, rufe ich noch einmal, vergeblich. Nichts, nur ein ersterbender Dreiklang. Kein Akku mehr. Und auch kein Schiff. Ich starre böse auf den See, zu den kleinen Lichtern, die sich irgendwo mitten im See abzeichnen. Das geht ja schon mal gut los. Es kann doch nicht so schwer sein, auf diese Scheißinsel zu kommen, oder? Und wie kann man nur so verrückt sein, ausgerechnet dort zu wohnen? Freiwillig?
Das Dorf hier heißt sicher Gstadt, weil es in seinen Straßen so mücksmäuschenstaad1 ist, dass ich mich frage, ob hier überhaupt noch Menschen wohnen und in welchen Bau zum Beispiel die Bäckerin zum Winterschlaf verschwunden ist. »Gästehaus« steht auf jedem der großen Häuser am Ufer entlang, mit verschiedenen Zusätzen: Annabell, Rudi, Irmgard, alles Namen, die vor ein paar Jahrzehnten total die Bringer waren, als die Häuser wahrscheinlich noch neu waren mit ihren wuchtigen schwarz gestrichenen Balkonen, den Fensterläden und dem scheußlichen Strukturputz. Schick ist anders. Und dass nirgendwo Licht brennt und meine Schuhe sich anfühlen, als hätte ich mir nasse Schwämme hineingestopft, macht die Sache nicht gerade einladender. Nur weiter hinten, wo das letzte Tageslicht in totale Schwärze übergeht, an der Grenze zwischen Dorf und Wald, beleuchtet ein Scheinwerfer ein Hausdach. Ich versuche mich zu erinnern. War da nicht das Café Ruderboot, in dem der Kaiserschmarrn fast so gut war wie der von der Lechner-Oma?
Fünf Minuten Fußweg sind es bis dorthin am Ufer entlang, und allmählich kann ich erkennen, worauf das helle Licht gerichtet ist: auf eine rote Fahne mit FC-Bayern-Logo. Aber obwohl ich eine Minute später vor der Kneipentür stehe, um sie aufzustoßen, zögere ich einen Moment, von meinem Spiegelbild in der Kuchenvitrine rechts daneben abgelenkt.
Ich habe optisch praktisch nichts mehr mit dem Mädchen zu tun, das drei Teenagersommer auf der Fraueninsel verbracht hat. Damals war ich eine unsportliche Strebergurke gewesen, mit fusseligen Haaren bis zum Hintern, weil meine Mutter mir nicht erlaubte, sie abzuschneiden. Aber das »Fetthenderl« ist - bis auf meine hartnäckig runde Kehrseite - Vergangenheit. Heute gehe ich zweimal in der Woche ins Training und einmal im Monat zum Friseur. Meine kurzen Haare sind weiß blondiert und in einer dicken Locke aus dem Gesicht geföhnt. Mein Gesicht ist blass, der dicke Lidstrich schwarz, die Lippen knallrot, und zu meinen Pumps trage ich meistens Kleider von teuren Designern, die noch wissen, wie man gescheite Abnäher setzt.
Im Ruderboot ist überraschenderweise der Teufel los, und zwar in rein männlicher Gestalt. Jede Menge Typen hängen an einer Theke rum, über der ein gewaltiger Flachbildschirm schwebt. Gesichter drehen sich zueinander, aufgeregtes Kopfschütteln überall. Es ist anscheinend gerade Halbzeit, vier Männer kommen mir entgegen, jeder eine Schachtel Kippen und ein Bierglas in den Händen. Ich bereite mich innerlich auf meinen Auftritt vor, denn gleich werden sie stehen bleiben, mich mit großen Augen ansehen und fragen: »Kann ich Ihnen helfen, schöne Frau?«
Dachte ich jedenfalls. Aber mein Empfang verläuft anders als erwartet.
»Dem Schiri hamms doch ins Hirn gschissen!«
»Der Müller hat doch seinen linken Hax nur, damit's ihn nicht umhaut!«
Es ist nicht so, dass sie mich nicht sehen. Zwei nicken sogar mit dem Kopf und nuscheln »Sers« und »Hawedehre«2, aber das war's dann auch. Diese Jungs sehen nicht so aus, als hätten sie darauf gewartet, während eines Bayernspiels für mich Wassertaxi zu spielen. Meine Mundwinkel rutschen nach unten, ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt, und wenn ich mir nicht vollends blöd vorkommen will, muss ich jetzt da rein, anstatt die Tür zu blockieren wie eine bockige Dreijährige am ersten Kindergartentag.
»Griasdi«, kommt drinnen gleich eine weibliche Stimme von rechts, wo eine freundlich aussehende Person mit mütterlicher Oberweite und einer Kellnerschürze an der Kasse lehnt und mich besorgt von der Seite anschaut. »Bist nass worden, ha?«
»Nass ist gar kein Ausdruck.« Ich versuche erst gar nicht noch einmal zu lächeln. »Dabei will ich eigentlich nur auf die Fraueninsel.«
»Auf die Insel? Jetzt?«
Ich versuche einen ortskundigen Eindruck zu machen und meine: »Ja, ich weiß, die letzte Fähre ist weg. Hab ich verpasst. Ich war früher immer nur im Sommer hier.«
»Na, jetzt ist Winterfahrplan, da ist alles anders. Willst du ins Kloster?«
Kloster? Seh ich so aus? Ich...
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