Der Wind heulte uns ein eisiges Willkommen entgegen, als wir auf den Bahnsteig herabtraten, und meine erste (und wie sich zeigen sollte, durchaus typische) Erfahrung mit Brandersgate war, dass eines der morschen Bretter des Bahnsteiges unter meinem Gewicht nachgab und ich jählings bis über den Knöchel in den morastigen Boden darunter versank.
Mit einem zornigen Fluch stellte ich meinen Koffer ab, zog den Fuß behutsam aus den morschen Planken heraus und betrachtete missmutig den Morast, der an meinem Hosensaum klebte und meinen Schuh besudelte. Ich hatte die Schuhe erst vor drei Tagen gekauft, und sie hatten annähernd vierzig Pfund gekostet.
Hinter mir erscholl ein halblautes Lachen. Erbost fuhr ich herum und starrte Cohen an, aber das schadenfrohe Grinsen verschwand nicht von seinem Gesicht, sondern wurde eher noch breiter.
»Sie sind zu ungestüm, Robert«, sagte er spöttisch. Er schüttelte den Kopf. »Das ist typisch für euch Amerikaner. Sie werden noch eine Menge lernen müssen, wenn Sie länger in England bleiben wollen. Dies hier ist ein altes Land und viele von unseren Dingen sind ebenso alt. Aber sie sind nicht so alt geworden, weil wir grob mit ihnen umgehen.« Er trat an meine Seite, ergriff wortlos und ungefragt meinen Koffer und konnte sich nicht verkneifen, mit einem spöttischen Glitzern in den Augen hinzuzufügen: »Ihr Bruder hätte das gewusst.«
Ich bemühte mich, ihn mit Blicken aufzuspießen, während er an mir vorüberging, aber mir wurde auch schnell klar, dass mein Zorn nur Wasser auf seine Mühlen war, und so beherrschte ich mich, wischte den Schmutz von meinem Schuh, so gut es ging, und beeilte mich, ihm zu folgen. Dabei sah ich mich abermals und sehr aufmerksam auf dem Bahnhof um.
Nicht, dass es sonderlich viel zu sehen gegeben hätte. Der Bahnhof von Brandersgate machte auf den ersten Blick einen heruntergekommenen Eindruck. Der zweite Blick zeigte, dass dieser Eindruck nicht ganz richtig war: Brandersgate war nicht ziemlich heruntergekommen, er war vollkommen verwahrlost, baufällig, schmutzig und allem Anschein nach seit ungefähr einer Generation verlassen. Cohen hatte mich gewarnt und gemeint, dass dieser Ort schon bessere Zeiten gesehen hatte - aber wenn, dann musste das irgendwann vor der letzten Sintflut gewesen sein.
Es begann mit dem Bahnsteig, der aussah, als hätte ihn jemand als Zielscheibe für seine neu erworbene Gatlin-Gun missbraucht; offensichtlich war ich nicht der Einzige, dessen Gewicht zu viel für die morschen Bretter gewesen war. Aber dieser jämmerliche Eindruck setzte sich auch bei dem Haupt- (und zugleich einzigen) Gebäude fort. Die Bretter waren morsch, von Holzwürmern zerfressen, und wenn sie jemals einen Anstrich gehabt hatten, so musste das ungefähr hundertfünfzig Jahre her sein. Sämtliche Scheiben waren entweder blind vor Schmutz oder zerbrochen und mit Pappkarton geflickt, und aus dem Bahnhofsschild waren drei Buchstaben herausgefallen, sodass die Aufschrift nun BRNDRSGTE lautete. Ich vermutete, dass man es auch so ähnlich aussprach. Und was ich von der Stadt (Stadt?!) jenseits des Bahnhofsgebäudes erkennen konnte, das machte einen kaum Vertrauen erweckenderen Eindruck.
Hinter uns setzte sich der Zug wieder in Bewegung, und die Erschütterung ließ den gesamten Bahnhof erzittern. Die wenigen Scheiben, die noch in ihren Rahmen verblieben waren, klirrten hörbar. Ich betete, dass der Zugführer nicht etwa auf die Idee kam, seine Pfeife schrillen zu lassen. Vermutlich hätte das die ganze Bruchbude zum Einsturz gebracht.
Ich hatte Cohen endlich eingeholt. Er grinste noch immer über das ganze Gesicht und hielt mir meinen Koffer entgegen. Ich ignorierte es geflissentlich. »Wo bleibt Ihr Kollege?«, fragte ich. »Wollte er uns nicht am Bahnhof abholen?«
Cohen zuckte nur mit den Schultern. »Offensichtlich ist er nicht da«, antwortete er. »Dabei war der Zug doch pünktlich, oder?« Er warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr, stellte fest, dass der große Zeiger fehlte und der kleine verbogen und auf der Zwölf stehen geblieben war, und setzte das Gepäck ab, um seine Taschenuhr aus der Weste zu ziehen.
»Auf die Minute«, sagte er, nachdem er den Deckel aufgeklappt und einen Blick auf das Zifferblatt geworfen hatte. Er klappte die Uhr wieder zu und ging weiter. Meinen Koffer ließ er stehen. »Vermutlich hat er sich nur verspätet. Aber das macht nichts. Schließlich ist die Stadt nicht so groß. Wir werden die Polizeiwache schon finden.«
Er hatte gut reden. Schließlich hatte er nur eine kleine Reisetasche in der Hand, während ich einen fast zentnerschweren Koffer mit mir schleppte. Cohen hatte schon während der fast achtstündigen Bahnfahrt hierher einige entsprechende Bemerkungen gemacht, und ich begann zu befürchten, dass er damit Recht gehabt hatte.
Allerdings muss ich zu meiner Ehrenrettung an dieser Stelle sagen, dass wir tatsächlich beide damit gerechnet hatten, am Bahnhof von einem seiner Kollegen abgeholt zu werden.
Cohen hatte eigens am Morgen noch einmal ein Telegramm an Constabler McGillycaddy - den zuständigen Polizeibeamten für diesen Bezirk - geschickt, in dem die genaue Ankunftszeit des Zuges gestanden hatte. Warum McGillycaddy nicht gekommen war, um uns wie erwartet abzuholen, war mir ein Rätsel.
Wenigstens so lange, bis wir das Bahnhofsgebäude umrundet hatten und Brandersgate zum ersten Mal zur Gänze sehen konnten. Ich war mit einem Male gar nicht mehr sicher, dass Telegramme hier auch pünktlich ausgeliefert wurden. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob es hier so etwas wie eine Post gab; und wenn ja, ob die Bediensteten dort wussten, was ein Telegramm war.
Das mit Abstand beeindruckendste an Brandersgate war sein Name. Der Rest dieses gottverlassenen Kaffs bestand aus einer einzigen ungeteerten Straße, die sich bei jedem heftigen Regen in einen Sumpf verwandeln musste, einem knappen Dutzend windschiefer, hässlicher Häuser, deren Zustand sich nicht wesentlich von dem des Bahnhofes unterschied, und einer Kirche, der jemand den Turm gestohlen hatte; zurückgeblieben war nur ein hölzernes Skelett, das ganz so aussah, als würde es beim nächsten heftigen Windzug einfach umfallen.
Nun, dachte ich, zumindest in einem Punkt hatte Cohen Recht: Wenn es hier so etwas wie eine Polizeiwache gab, dann würden wir sie schnell finden.
Cohen trat auf die schlammige Straße hinunter und steuerte ein Gebäude auf der anderen Seite an, bei dem es sich wohl um eine Art Gemischtwarenladen handeln musste, denn hinter den schmuddeligen Scheiben stapelten sich Waren aller Art, und neben dem Eingang waren eine Anzahl Säcke und großer Holzkisten aufgetürmt.
Ich wartete vor der Tür, dass er zurückkam, und nutzte die Zeit, die kleine Ortschaft an der nördlichen Küste Schottlands einer zweiten, sehr viel eingehenderen und zumindest etwas objektiveren Musterung zu unterziehen.
Sehr viel mehr als vorhin gab es allerdings noch immer nicht zu sehen. Es war zu kalt für die Jahreszeit, und der böige Wind, der von der nahe gelegenen Küste her über die Ortschaft fauchte, tat ein Übriges, um die Menschen in die Häuser zurückzutreiben. Trotzdem spürte ich die neugierigen Blicke, die mich trafen. Das Auftauchen gleich zweier Fremder musste so etwas wie eine kleine Sensation bedeuten. Der Zugschaffner hatte uns verraten, dass nur äußerst selten Fahrgäste in Brandersgate ausstiegen; seit drei oder vier Jahren überhaupt so gut wie niemand mehr. Meistens hielt der Zug nicht einmal an. Wenn ich mich hier so umsah, konnte ich das auch gut verstehen. Ich wunderte mich sogar ein bisschen, dass ein Kaff wie dieses überhaupt einen Bahnhof hatte. Aber ich wunderte mich auch genauso darüber, dass ich überhaupt hier war. Zwar hatte ich keinen Grund, an Cohens Behauptung zu zweifeln, wonach Crowleys Spur direkt hierher führen sollte, aber wenn ich mich in dem gottverlassenen Kaff so umsah . Es passte einfach nicht.
Andererseits - wie gesagt - hatte ich keinen Grund, an Cohens Worten zu zweifeln. Scotland Yard arbeitete vielleicht manchmal ein wenig langsam, aber dafür mit gewohnter englischer Präzision. Und dieser düstere Hinweis war auch alles, was wir hatten. So hatten Cohen und ich kurz entschlossen den nächsten Zug bestiegen, der nach Norden ging, und waren hierhergekommen. Wenn ich bedachte, dass wir nicht einmal hundertprozentig sicher sein konnten, dass dieser Crowley auch tatsächlich unser Crowley war, dann hatte unser Vorgehen schon etwas von einer Verzweiflungstat an sich. Aber unsere Situation war auch ziemlich verzweifelt; vorsichtig ausgedrückt.
Seit Crowleys heimtückischem Anschlag auf mein Leben war etwas mehr als eine Woche vergangen, und ich hatte in dieser Zeit weder eine Spur von Howard noch von Gray, Rowlf oder Sill el Mot gefunden; und das, obwohl mir Harley, Grays Kutscher und Hausdiener, beim Leben seiner Mutter versichert hatte, alle vier in das niedergebrannte Haus am Ashton Place gehen gesehen zu haben. Und zusammen mit dem, was ich von Cohen erfahren und nach unserer Rückkehr aus den Kellern selbst in dem verwüsteten Haus gesehen hatte, ergab sich ein erschreckendes Bild: Howard und die anderen mussten erfahren haben, dass mich meine Schritte zu den Resten meines ehemaligen Zuhauses gelenkt hatten. Vielleicht hatten sie es sich auch einfach an den Fingern abgezählt, denn schließlich gab es nicht sehr viele Orte, zu denen ich gehen konnte. Gleichwie, sie waren mir gefolgt und offensichtlich in die gleiche Falle gegangen wie Matt, Thomas und ich. Harley hatte erzählt, dass irgendetwas mit dem Garten plötzlich nicht mehr in Ordnung gewesen sei, und dann...