Die Luft schmeckte nach Schnee und Frost. Kleine weiße Flocken wirbelten durch die zerbrochene Glastür ins Zimmer und ließen sich, einem hauchzarten Teppich gleich, auf den hölzernen Dielen nieder.
Der junge, hochgewachsene Mann blieb einen Augenblick stehen und blickte hinaus in den Garten. Der Mond hatte die graue Wolkendecke für einen kurzen Moment durchbrochen und verwandelte die sorgsam angelegten Kaskaden und die knorrigen Obstbäume im fahlen Zwielicht dieser Neujahrsnacht in drohende, schemenhafte Riesen, die ihre dürren Geisterfinger nach ihm ausstreckten.
Er jedoch sah eine ganz andere Welt dort draußen: grüne, mit saftigen Früchten beladene Bäume. Seltsam anmutende Pflanzen in reicher Blütenpracht. Flirrende, silberfarbene Libellen und Vögel, die den azurblauen Himmel bevölkerten.
Und Menschen; lachende, fröhliche Menschen, fast Kinder noch, in weite, farbige Gewänder gehüllt, die ihm entgegeneilten und die Arme nach ihm ausstreckten. Vorneweg sie, das blonde Haar im Winde flatternd, die großen blauen Augen voller Freude über seine Rückkehr, wie sie auf ihn zulief und seinen Namen rief .
»George!«
Die Stimme war nicht allein in seiner Traumwelt erklungen, in die er sich für Sekunden geflüchtet hatte, und nun wurden hinter ihm, jenseits der Türe zum Flur, Schritte laut; polternde, schwere Schritte, die schnell näher kamen.
Mit einem Ruck vertrieb der junge Mann die trügerischen Visionen, fuhr herum und drehte den Schlüssel im Schloss. Er würde sich nicht aufhalten lassen; jetzt nicht mehr.
Sie hatten ihre Chance gehabt. Er hatte ihnen nichts verschwiegen, nicht einmal den Zeitpunkt, an dem sein bester Freund umkommen würde, in jenem furchtbaren Krieg Mitte des nächsten Jahrhunderts. Und was war der Dank gewesen? Nicht nur, dass sie ihm nicht geglaubt hatten, nein. Sie hatten über seine Erfindung gelacht, hatten ihm allen Ernstes empfohlen, die nächsten Wochen auszuspannen, um wieder zu Sinnen zu kommen!
Vielleicht hatte von den vieren allein David Filby einen kleinen Teil dessen geglaubt, was er ihnen in den vergangenen Stunden erzählt hatte, und er war sich in diesem Moment fast sicher, dass es auch David sein musste, der nun doch zurückgekommen war.
Aber es war zu spät. Er würde gehen, und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten.
Die drei dicken Folianten, die er unter der Armbeuge trug, rutschten zur Seite, als er sich wieder umwandte und entschlossen in den Raum hineinschritt. Er nahm sie in beide Hände und legte sie behutsam auf den ledernen Sitz seiner Maschine.
Groß und dunkel und majestätisch stand sie im Raum, unbeweglich und doch von unsichtbarem, geheimnisvollem Leben erfüllt, das nur er allein wahrnehmen konnte. Das große Schwungrad an ihrem Heck stand still, und die drei farbigen elektrischen Leuchten, die über den Armaturen thronten, waren erloschen. Und doch - mit einer einzigen Handbewegung - konnte er beides wieder zum Leben erwecken.
Noch aber war es nicht so weit. Von dieser Stelle aus konnte er seine Reise nicht beginnen. Der Platz, an dem er stand, war eine gigantische Falle (auch dies etwas, was nur er sehen konnte). Er musste die Maschine hinausschaffen in den verschneiten Garten, wollte er den Fehler der ersten Reise nicht noch einmal begehen.
Während die Schritte im Flur immer lauter wurden und schließlich hinter der Tür verharrten, trat er an die Rückfront seiner Maschine, maß mit raschem Blick die Stellung der stählernen Kufen ab und begann mit aller Kraft zu schieben. Es ging leichter, als er gedacht hatte; fast mühelos glitt das Gestänge über die Dielen und hinterließ schorfige Narben im schneebedeckten Holz.
»George!«, klang es von der Türe her. »George, bist du dort drinnen?«
Er drehte sich nicht einmal um, als die Klinke niederfuhr, zaghaft erst, dann, als der Mann auf der anderen Seite merkte, dass die Tür verschlossen war, wild und fordernd.
»George! Ich bin es, David! Um unserer Freundschaft willen .« David Filby brach ab, als er merkte, wie schal die Worte selbst in seinen eigenen Ohren klangen. Hatte er denn seine Freundschaft bewiesen in den letzten drei Stunden?
Eine andere Stimme kam hinzu: »Bitte machen Sie doch auf, Sir, ich bitte Sie!« Das war Mrs. Watchett, die Haushälterin; eine alte, treue Seele, die ihm stets zur Seite gestanden und zu ihm gehalten hatte. Obgleich auch sie nicht an seine Erlebnisse hatte glauben wollen .
Er hielt nicht in seiner Arbeit inne, bis die Maschine an der Schwelle zur gläsernen Gartentür stand. Nein, er hatte bereits Abschied genommen. Warum den Schmerz aufs Neue entfachen, indem er nun wankelmütig wurde und die Freunde einließ?
Es dauerte nur wenige Sekunden, die Kufen über die Schwelle zu heben und das bizarre Gefährt vollends ins Freie zu schieben. Trotzdem keuchte er vor Anstrengung und innerer Erregung, als er endlich das Zentrum des kleinen Gartens erreichte und das Monstrum aus Messing und Eisen und Ebenholz herumdrehte, sodass seine Spitze in die Richtung wies, aus der er gekommen war.
Es gab zwei Gründe, warum er dies tat; einen rationalen . und einen höchst sentimentalen. Zum Ersten hatte er so den Feind nicht im Rücken, wenn er seine Reise beendete (ein Umstand, der über Leben und Tod entscheiden konnte). Und er konnte während der Fahrt ein letztes Mal sein Heim betrachten, das er wohl nie mehr wiedersehen würde.
Noch während er das gewundene Geländer der Maschine zurückklappte, um auf dem Polster neben den drei Büchern Platz zu nehmen, hörte er dumpfe Schläge aus seinem Labor herüberhallen. David hatte damit begonnen, die Türe einzuschlagen. Er würde zu spät kommen.
Fast fiel es ihm schwer, den letzten Schritt zu tun und die Maschine in Gang zu setzen. Andächtig glitten seine Finger über den funkelnden Steuerkristall, der wie ein gläserner Dorn aus den Armaturen ragte. Zarte Schneeflocken schwebten herbei, legten sich über das Messingschild, in das die Zahlenfenster eingebettet waren, und rannen als winzige Tropfen von seiner Hand herab. Seine Finger zitterten leicht, doch es war nicht allein der Kälte wegen, die sich mit frostigen Stacheln durch seinen Mantel und in die Haut bohrte. Es war die gewaltige Macht, die in dieser Maschine steckte und die sein genialer Geist nutzbar gemacht hatte, die ihn schaudern ließ. Ein sanfter Druck nur, und die Reise würde beginnen .
Ein lautes Knirschen riss ihn aus seinen Gedanken, gefolgt von infernalischem Poltern, als sich die Tür zur Werkstatt endlich aus ihren Angeln löste und zu Boden krachte.
Er konnte nicht länger warten. Entschlossen beugte er sich vor, schob gleichermaßen mit dem gestreckten Arm den Kristall nach vorn - und erweckte den geheimnisvollen Motor zu neuem Leben.
Langsam begann sich das große Schwungrad in seinem Rücken zu drehen. Das Gestänge erbebte unter der plötzlichen Bewegung, ächzte in den Schweißnähten, als das Rad mehr und mehr an Fahrt gewann und sich anschickte, die Gesetze der Natur zu seinen Gunsten zu verändern. Das blaue Licht an der Spitze der Armaturen glühte sanft auf und begann im Rhythmus des Schwungrades zu pulsieren. Die kleinste der fünf Zeitanzeigen sprang um eine Einheit nach vorn - eine Minute.
Plötzlich standen zwei Gestalten vor der Maschine. David Filby und Mrs. Watchett waren wie aus dem Nichts aufgetaucht.
Wieder sprang der Zeitmesser um.
Die beiden Menschen wechselten die Positionen von einem Augenblick zum nächsten. Und jetzt konnte der Mann im Sessel der Maschine auch Wortfetzen von dem verstehen, was sie ihm verzweifelt zuriefen.
»George, bleib -«
»O mein Gott, was -«
»- bitte dich, um -«
»- mit Ihnen, Mr.Wells?«
Dann sprang die nächstgrößere der Anzeigen um eine Stelle vor - eine Stunde -, und die Gestalten verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Das Rad hinter dem einsamen Mann rotierte nun immer schneller und schneller. Längst hatten sich die kunstvollen Gravuren darauf verwischt und in einen grauen, wirbelnden Schleier verwandelt, und auch das Schwungrad selbst schien mit jeder Sekunde durchscheinender und unwirklicher zu werden.
Herbert George Wells atmete tief ein und schob den Kristall nun vollends bis zum Anschlag nach vorn. Ein heftiger Ruck ging durch die gesamte Konstruktion, als die Zeitmaschine sich wie unter einem Schlag aufbäumte. Der Stundenmesser übersprang gleich drei Einheiten auf einmal, und die Finsternis der Winternacht, die eben noch die Maschine wie einen schützenden Mantel umhüllt hatte, fiel so plötzlich von ihr ab, dass der Mann in den Lederpolstern geblendet die Augen schloss.
Der Schnee war in diesen wenigen Sekunden zu einer dicken Schicht angewachsen, die nun wie Zuckerwatte auf den Mauern und Ästen thronte - und im nächsten Moment wieder verschwunden war. Der gleißende Ball der Sonne stieg am östlichen Horizont auf, zog in wilder Hast seine Bahn über den Himmel und verschwand hinter dem Schieferdach des Hauses.
Und wieder Dunkelheit.
Und wieder Tag.
2. Januar 1885
3. Januar . 4. Januar . Das blaue Licht am Armaturenbrett erlosch, und die gelbe Lampe glühte auf. Das Schwungrad verschwand in einem Wirbel grauer Nebel. Der Wechsel von Tag und Nacht war nur mehr ein stetiges Flackern in der Wirklichkeit, die Sonne ein glühender Ring, der wie ein Reifen aus Licht um die Erde lag.
Februar . März . April .
Der Frühling währte nur Sekunden. Das Aufblühen der Natur war eine Eruption: Weißen Rauchwolken gleich stoben die Blüten aus den Kirsch- und...