Der Bug des Schiffes deutete ins Nichts. Zeit und Raum hatten ihre Bedeutung verloren, seit ich das steil aufragende Achterkastell der DAGON betreten und das Gesicht in den Wind gedreht hatte, um zu sehen, wohin wir fuhren. Hinter und neben uns war die ölglatte See nördlich des englischen Kleinkontinents, aber vor dem Schiff, dort, wo eigentlich Norden sein sollte, war - nichts.
Es war mir unmöglich, einen anderen Ausdruck dafür zu finden, ein anderes Wort für die wirbelnden grauweißen Schemen, die dort tobten, wo der Himmel und das Meer sein sollten.
Es hatte begonnen, nachdem die DAGON die Küste verlassen und Kurs auf das offene Meer genommen hatte. Zuerst war es nicht mehr als eine dünne, mit bloßem Auge kaum sichtbare Linie gewesen, wie ein Haar, das senkrecht über den Horizont gelegt worden war, so dünn, dass es sich dem Blick zu entziehen schien, wenn man versuchte, es genauer zu betrachten.
Dann war es gewachsen.
Aus dem Haar war eine klar erkennbare Linie geworden, aus der Linie eine Schlucht, die in der Wirklichkeit klaffte, und zum Schluss ein gewaltiges, alles verschlingendes Maul, das ein Viertel des Horizontes einnahm. Brodelnde weiße Nebelschwaden quollen wie wolkiges Blut aus dieser Wunde, die allein düstere Magie geschlagen hatte, und mit ihnen wehte ein Hauch unheimlicher Kälte heran, der durch meine Kleider und meine Haut drang und irgendetwas in mir zum Erstarren brachte.
Es fiel mir schwer, den Blick von dem Etwas zu lösen, auf das die DAGON zusteuerte. So sehr mich der Anblick erschreckte, so sehr faszinierte er mich zugleich.
Vor uns lag eine andere Welt.
Vielleicht nicht direkt, sondern nur der Weg dorthin, die Bresche, die Dagon mit seiner erschreckenden Magie in die Barriere zwischen den Wirklichkeiten geschlagen hatte, um sich und den seinen den Weg zu ebnen.
Mit aller Gewalt riss ich mich von dem Anblick los und stieg die steile Treppe zum Hauptdeck hinunter. Ich habe Schiffe niemals besonders gemocht, und das, was ich auf der NAUTILUS und jetzt auf ihrem schrecklichen Gegenspieler erlebt hatte, trug nicht dazu bei, meine Abneigung gegen alles, was schwimmt, zu verringern. Dazu kam, dass ich mich alles andere als wohl fühlte, unabhängig von der Furcht, die der Anblick des Dimensionsrisses in meine Seele gepflanzt hatte. Ich hatte während der letzten fünf Tage so viel Schlaf bekommen wie ein ehrlicher Christenmensch normalerweise in einer Nacht, und obwohl ich eine alles andere als schwächliche Konstitution habe, begann mein Körper nun nachhaltig die Ruhe zu monieren, die ich ihm vorenthalten hatte. Ich hätte meinen rechten Arm für eine Stunde Schlaf gegeben. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass ich keine Ruhe finden würde - wie konnte ich auch!
Müde machte ich ein paar Schritte, blieb stehen und blinzelte aus entzündeten Augen über das Deck. Die DAGON war groß, das mit Abstand größte Schiff, das ich jemals gesehen hatte, wahrscheinlich das größte Schiff, das jemals auf den Weltmeeren gefahren war, und ihr Hauptdeck erstreckte sich wie drei aneinander gelegte Fußballplätze vor und unter mir, unterbrochen von zahllosen Aufbauten, deren Bedeutung ich nur zum allergeringsten Teil kannte, und auf mehreren neben- und übereinanderliegenden Ebenen angeordnet. Die gigantischen, erdfarbenen Segel blähten sich über mir, obgleich die See noch immer fast windstill war, und das Gewirr aus Kabeln und Drahtseilen, das sie hielt, war so straff gespannt, dass ich das Summen des belasteten Materials hören konnte.
Trotzdem war ich allein auf Deck.
Die knapp zweihundert Männer und Frauen, die zusammen mit Dagon an Bord des gleichnamigen Schiffes gekommen waren, waren irgendwo in seinen unergründlichen Tiefen verschwunden, und ich hatte wenig Lust, mit einem von ihnen zusammenzutreffen. Mit Ausnahme Jennifers hatte ich mit niemandem mehr geredet, und mir stand auch nicht der Sinn danach, denn es wäre ein Gespräch gewesen, das ohnehin keinen Sinn hatte. Die Menschen, die Dagon folgten, waren Fanatiker, und es hat noch niemals zu irgendetwas anderem als Zorn und Kopfschmerzen geführt, mit einem Fanatiker diskutieren zu wollen. Außerdem hatte ich keine sonderliche Lust, mit McGillycaddy zusammenzutreffen - wer unterhält sich schon gerne mit einem Mörder?
Trotzdem bereute ich meinen Entschluss, an Deck zu kommen, in diesem Moment schon fast wieder. Die unnatürliche Kälte war unter Deck zwar genauso unangenehm zu spüren wie hier und die DAGON war groß genug, trotz der sicherlich zwanzig Knoten, mit der sie die Wellen pflügte, ruhig wie ein Stein im Wasser zu liegen, sodass mich sogar die Seekrankheit verschonte, unter der ich normalerweise schon litt, wenn ich nur Wasser rauschen hörte. Aber es war etwas anderes, das mich erschreckte.
Es war die Einsamkeit.
Ich habe sie normalerweise nie gefürchtet; im Gegenteil. Ich schätze das Alleinsein sehr, aber die Stille an Deck der DAGON hatte etwas Unheimliches. Es war keine wirkliche Stille; keine Stille der Geräusche. Das Schiff war voll von Lauten - dem Knarren der Maste und Spieren, dem gelegentlichen Flappen der Segel, das sich anhörte wie das langsame Schlagen gigantischer lederner Flügel, dem Sirren und Singen der straff gespannten Kabel und Taue, dem Klatschen der Wellen, die an den haushohen Flanken des Schiffes zu weißem Schaum zerbarsten - und trotzdem, so absurd es mir selbst in diesem Moment vorkam, war das Schiff still. Es war eine Stille jenseits des Hörbaren, ein Schweigen, als wäre ein Stück der Wirklichkeit um mich herum erloschen. Dafür war etwas anderes da. Etwas, das weder mit Worten noch mit Gedanken zu beschreiben war und das mich tief erschreckte. Es war, als wisperten die Schatten, als erzählten die Dunkelheit und das Schweigen düstere Geschichten; Geschichten von verbotenen Dingen und verfluchten Orten, an denen dieses Schiff gewesen war und zu denen es wieder fuhr .
Mühsam schüttelte ich den Gedanken ab, drehte mich auf dem Absatz herum, um nun doch wieder nach unten zu gehen - und erstarrte.
Am Fuße der Treppe lag ein Mann.
Ich war absolut sicher, dass er vor wenigen Augenblicken noch nicht dort gelegen hatte - schließlich war ich vor weniger als einer Minute selbst die steile Holztreppe hinuntergestiegen -, ebenso wie ich vollkommen sicher war, keine Schritte gehört zu haben.
Aber jetzt war er da.
Und er war tot.
Ich hätte die dunkle Blutlache, die sich langsam unter seinem Körper ausbreitete, nicht einmal zu sehen brauchen, um das zu wissen. Man erkennt einen Toten, wenn man ihn sieht.
Der Mann lag verkrümmt da, mit dem Gesicht in der größer werdenden Pfütze seines eigenen Blutes, die rechte Hand um den Griff eines armlangen Säbels geschlossen und die andere zu einer Kralle verkrümmt, als hätte er in seinen letzten Sekunden versucht, sich an die harten Planken des Schiffsrumpfes zu klammern.
Zehn, fünfzehn Sekunden lang stand ich vollkommen reglos da und starrte den Toten an. Es war nicht der Anblick der Leiche, der mich so erschreckte - der Anblick eines Toten, der noch dazu auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen ist, ist niemals sehr erbaulich, und er gehört wohl zu den wenigen Dingen, an die man sich nie gewöhnen kann -, aber es war etwas an ihm, was diesen Schrecken überdeckte und mich mit schierem Entsetzen erfüllte.
Seine Kleidung.
Der Mann trug einen schwarzen Umhang, bestickt mit dünnen, silbernen Fäden, die die Umrisse eines stilisierten Drachen abbildeten, darunter ebenfalls schwarze Hosen und eine Art lose fallender Bluse in der gleichen Farbe, dazu Stiefel und Handschuhe und eine turbanähnliche Kopfbedeckung, an der ein Tuch befestigt war, das sein Gesicht bis auf einen knapp fingerbreiten Streifen über den Augen bedeckte. Alles an ihm war schwarz.
Ich kannte diese Kleidung. Ich war Männern wie ihm begegnet, vor nicht einmal sehr langer Zeit; die mir trotzdem vorkam, als läge sie Ewigkeiten zurück. Und ich hatte zu allen mir bekannten Göttern gebetet, sie nie, nie wiedersehen zu müssen.
Einen Moment lang versuchte ich mit aller Gewalt, mir einzureden, dass ich mich täuschte, dass meine Erinnerungen und meine überreizten Nerven mir einen bösen Streich spielten. Aber ich sah rasch ein, dass das nicht stimmte.
Der Gedanke war völlig widersinnig; das Geschehen hier hatte keinerlei Beziehung zu ihnen und selbst wenn, hätten sie nicht hier sein dürfen. Aber der Tote war da, und alles Leugnen brachte ihn nicht fort. Es gab nur eine Gruppe von Menschen auf der Welt, die sich auf diese Weise zu kleiden pflegten.
Necrons Drachenkrieger!
Ich starrte den Toten an, unfähig, irgendetwas anderes zu denken als diese beiden Worte, unfähig, etwas anderes zu empfinden als Erschrecken und Unglauben und Zorn und einen langsam aufkeimenden, immer stärker und stärker werdenden Hass.
Necron.
Wenn es einen Namen auf der Welt gab, der für mich alles Schlechte und Böse und Verabscheuungswürdige versinnbildlichte, dann diesen.
Necron, der geheimnisumwitterte Herr der Drachenburg.
Der Meistermagier, Herr des Bösen und aller dunklen Kräfte.
Und der Mann, der mir den einzigen Menschen genommen hatte, den ich jemals wirklich geliebt hatte .
Meine Priscylla.
Es war wie ein Schlag in den Magen, schnell, warnungslos und so hart, dass ich mich für Sekunden krümmte, als hätte ich wirklich einen Hieb bekommen, der mir den Atem nahm.
Die Vergangenheit hatte mich eingeholt, endgültig und in einem Moment, in dem ich am allerwenigsten damit gerechnet hatte. Der Tote vor mir war mehr als ein Toter, mehr als das Opfer eines heimtückischen Mordes....