»Ratten!« John Penwicks Stimme zitterte in einer Mischung aus Triumph und grimmiger Befriedigung, während er den Stiel seiner Schaufel immer und immer wieder auf die Ratte hinuntersausen ließ.
Das Tier war längst tot, aber Penwick schlug noch fast ein halbes Dutzend Mal zu, ehe er die Schaufel endlich schwer atmend sinken ließ, einen Schritt von dem frisch ausgehobenen Grab zurücktrat und sich kampflustig umsah. Seine schwieligen Hände umspannten den Schaufelstiel viel fester, als nötig gewesen wäre.
»Ratten!«, sagte er noch einmal. »Wie ich diese Biester hasse! Nicht einmal die Toten können sie in Frieden lassen.«
»Ganz besonders die nicht«, sagte Rowland, sein Begleiter und Kollege. »Die haben sie zum Fressen gern, weißt du?«, fügte er spöttisch hinzu.
Wie Penwick war auch er ein Mann jenseits der fünfzig, und wie er war er von kleinem, stämmigem Wuchs, jedoch früher ergraut; sein linkes Bein war etwas kürzer gewachsen als das andere, und auch sein linker Arm wies bei genauerem Hinsehen eine leichte Beeinträchtigung auf. Anders als Penwick hatte er Zeit seines Lebens als Totengräber auf dem kleinen Friedhof von St. Aimes gearbeitet; die einzige Beschäftigung, die ein Krüppel wie er in einem an Arbeit nicht reich gesegneten Land finden konnte, ohne dabei ständig schief angesehen oder verlacht zu werden.
»Verdammte Biester!«, murrte Penwick, spie aus und stieß die tote Ratte mit der Fußspitze über den Rand der zwei Meter langen und ebenso tiefen Grube, die Rowland und er im Laufe des Nachmittags ausgehoben hatten. »Die Vorstellung, dass ich selbst eines Tages da unten liegen und von diesen Viechern angeknabbert werden könnte, macht mich jetzt schon krank.«
»Bloß keine Angst«, erwiderte Rowland grinsend. »So ein Sarg ist ganz schön stabil. Bis sie sich durchgefressen haben, haben die Würmer schon das Gröbste erledigt.«
Er kicherte, als er sah, wie Penwicks Gesicht bei dieser Vorstellung einen deutlichen Ton heller wurde, sah noch einmal zu der toten Ratte auf dem Grund des frisch ausgehobenen Grabes hinab und spähte dann mit schräg gehaltenem Kopf in den Himmel. Es wurde früh dunkel an diesem Abend, und vom nahen Meer trieben schwere, bauchige Regenwolken heran. Es war kalt. Zu kalt für einen August, selbst für die Kummer gewöhnten Bewohner der englischen Kanalküste.
»Machen wir Schluss für heute«, sagte er. »Die Beerdigung ist morgen erst um elf. Den Rest können wir vorher erledigen.«
Penwick schien widersprechen zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren und schwang sich die Schaufel wie ein Gewehr über die linke Schulter.
Nebeneinander gingen die beiden Männer zwischen den verwilderten Grabreihen des kleinen Friedhofes hindurch auf den windschiefen Schuppen zu, der verborgen hinter einer Hecke am jenseitigen Ende des Geländes stand.
Rowland zog einen übergroßen, rostigen Schlüssel aus der Tasche, sperrte die Tür auf und riss ein Streichholz an, mit dem er die Kerze direkt neben dem Eingang entzündete.
Der flackernde Lichtschein enthüllte ein Durcheinander von Eimern, Blumentöpfen, Schubkarren, halbfertigen Grabsteinen und verwitterten Platten, unordentlich übereinandergeworfenen Werkzeugen und grauen Leinensäcken. Rowland runzelte die Stirn. Das tat er immer, wenn er den Schuppen betrat.
Irgendwann, dachte er, würde er diesen Raum, der ihnen gleichzeitig als Umkleideraum wie Werkzeugkammer diente, aufräumen. Aber das nahm er sich schon seit Jahren vor.
Die beiden Männer zogen sich schweigend um, verstauten ihre Werkzeuge und verließen den Schuppen wieder. Die Dämmerung begann sich wie ein graues Leichentuch über das Land zu senken, als sie das Friedhofstor durchschritten und sich auf der Landstraße nach Osten wandten, dem wenige hundert Schritte entfernten Ortseingang von St. Aimes zu.
Plötzlich blieb Rowland stehen, klopfte suchend mit der Hand auf die Tasche seiner groben schwarzen Jacke und zog eine Grimasse.
»Was ist los?«, fragte Penwick.
»Mein Tabaksbeutel«, knurrte Rowland. »Ich muss ihn im Schuppen gelassen haben.« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich und wurde ärgerlich. »Ich gehe zurück und hole ihn.«
»Soll ich mitkommen?«, erbot sich Penwick.
Rowland wehrte mit einer Handbewegung ab. »Nicht nötig. Warum gehst du nicht vor in den Pub und trinkst ein Glas für mich mit? Ich komme nach.«
Plötzlich verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Du brauchst keine Angst um mich zu haben, John«, sagte er. »Die, die da auf dem Friedhof liegen, sind äußerst ruhige Mieter, weißt du? Außerdem kenne ich die meisten.«
Sein Spott rief einen Ausdruck plötzlicher Sorge auf dem Gesicht Penwicks wach. »Versündige dich nicht«, sagte er ernst. »Niemand sollte die Toten verspotten. Und gib auf die Ratten Acht.«
Rowland lachte gutmütig, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück, den er gerade erst gekommen war.
Es wurde schnell dunkel jetzt, als die Sonne untergegangen war und der Seewind die Wolken rascher vor sich her über das Land trieb. Der Kies knirschte sonderbar unter seinen Schuhen, und die Schatten zwischen den regelmäßig dastehenden Grabsteinen schienen an diesem Abend ein wenig tiefer als sonst.
Rowland ging unwillkürlich schneller, und für einem Moment war es ihm, als höre er noch einmal Penwicks Worte, die ihm zuflüsterten, mehr Respekt vor den Toten zu haben und sich besonders vor den Ratten in Acht zu nehmen.
Rowland vertrieb den Gedanken, zog fröstelnd die Schultern zusammen und lief mit gesenktem Kopf die letzten zwanzig, dreißig Schritte zu dem kleinen Werkzeugschuppen. Er hatte Schwierigkeiten, im Dunkeln das Schloss zu öffnen, und die drei Streichhölzer, mit denen er die Kerze entzünden wollte, brachen nacheinander ab, sodass er es schließlich aufgab und fluchend im Dunkeln herumtastete, bis er seine Arbeitsjacke und den Tabaksbeutel darin gefunden hatte.
Als er sich aufrichten wollte, verspürte er einen scharfen, reißenden Schmerz in der rechten Hand. Mit einem Fluch fuhr er auf, steckte instinktiv den Finger in den Mund und schmeckte frisches, salziges Blut.
Einen Moment lang überkam Rowland die bedrückende Vorstellung, dass da irgendetwas vor ihm in der Dunkelheit hockte und nach seiner Hand geschnappt hatte, aber dann siegte sein logisches Denken. Es gab hier drinnen nichts, was ihn beißen konnte. Nicht einmal Penwicks Ratten, fügte er spöttisch in Gedanken hinzu. Der Schuppen war zwar alt und heruntergekommen, aber ringsum abgedichtet, und er achtete streng darauf, dass kein Ungeziefer und Kroppzeug den Weg in sein Inneres fand. Nein - er hatte sich an irgendeinem Werkzeug verletzt, das herumlag. Irgendwann würde er hier drinnen doch einmal für Ordnung sorgen müssen.
Den blutenden Finger noch immer im Mund, wandte sich Rowland um, verließ den Schuppen und schloss die Tür sorgfältig wieder hinter sich ab.
Als er sich herumdrehte, sah er das Licht.
Im ersten Moment glaubte er, einen Schein vom Ort her zu sehen, aber dann wurde ihm klar, dass die Quelle des Scheins ein gutes Stück zu weit im Westen lag, um in St. Aimes zu sein - und vor allem ein gutes Stück zu nahe.
Der Totengräber runzelte verwirrt die Stirn. Das Licht war sehr sonderbar: Es konnte nicht von einer Laterne oder Kerze stammen, denn dazu leuchtete es zu gleichmäßig, und die immer dunkler werdende Nacht verlieh ihm einen beunruhigenden, grünlichen Schein.
Und es schien irgendwo auf dem Gelände des Friedhofes zu entstehen, diesseits der kniehohen, zerbröckelnden Mauer, die den Gottesacker umschloss . Rowland machte einen Schritt und blieb abrupt wieder stehen. Den blutenden Finger hatte er noch immer im Mund, aber er hatte ihn vergessen und saugte nur noch automatisch an dem brennenden Schnitt. Plötzlich fielen ihm die dunklen Geschichten und Legenden wieder ein, die man sich in St. Aimes um diesen Friedhof erzählte. Rowland hatte nie viel darauf gegeben, denn er stand mit dem Tod zu sehr auf du und du, um in ihm noch irgendetwas Mystisches oder auch nur Bedrohliches zu sehen, aber er hatte sie alle gehört.
Man erzählte sich, dass an dem Ort, an dem sich heute der Friedhof der Gemeinde befand, schon einmal Tote beigesetzt worden waren, in vorgeschichtlicher Zeit. Die Kelten, die dieses Land Jahrtausende zuvor beherrscht hatten, sollten ihre Toten hier begraben haben, und vorher sollte dies ein Ort finsterer Beschwörungen und blasphemischer Riten gewesen sein, ein Ort, beherrscht von Wesen oder Dingen, deren Namen nicht vergessen waren, die aber niemand mehr auszusprechen wagte.
Rowland verscheuchte den Gedanken, nahm endlich den Finger aus dem Mund und löste sich von seinem Platz. Trotz der leicht morbiden Art, in der er sein Brot zu verdienen pflegte, war er ein überaus pragmatischer Mensch, der den Dingen auf den Grund ging, die er nicht verstand.
Das Leuchten würde eine natürliche Erklärung haben, und er würde sie herausfinden.
Trotzdem ertappte er sich dabei, immer wieder nach rechts und links zu sehen, während er auf die Quelle des geheimnisvollen Lichtscheines zuging, und das Gefühl, beobachtet und belauscht zu werden, wurde stärker, obwohl er sich dagegen wehrte.
Langsam kam das unheimliche grünblaue Leuchten näher. Rowland sah jetzt, dass es tatsächlich nicht von einem Feuer oder einer Lampe stammte, sondern .
Er blieb abrupt stehen, als ihm klar wurde, woher der unheimliche Lichtschein kam.
Der schwache Glanz hatte sich zu einer mehr als mannshohen, leuchtenden Halbkugel aus giftgrünem Licht gesteigert und im gleichen Maße an Leuchtkraft zugenommen, wie das Tageslicht vollends erlosch und sich die Nacht...