Schweitzer Fachinformationen
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Sie trägt das weiße Kleid. Das Kleid, das sie am ersten Abend getragen hat. Dem ersten Abend mit ihm. Es hat große Taschen, das Kleid.
»Ich schleppe gern Dinge mit mir herum«, sagte sie damals.
»Es gibt doch Handtaschen«, sagte er.
Sie lachte. »Handtaschen mag ich nicht. Ich mag Freihändigkeit.«
Er lachte auch.
Sie haben viel gemeinsam gelacht.
Jetzt hat sie Steine in die Taschen des Kleides gesteckt. Die Steine hat sie am Strand gesammelt.
Sie sieht sich um. Da ist niemand außer ihr. Ein Hahn kräht, als könnte er den kommenden Tag nicht abwarten. Es ist kurz nach vier Uhr am Morgen.
Chiara setzt einen Fuß vor den anderen. Sie ist barfuß. Ihre Fußnägel hat sie korallenrot lackiert. Vorfreudig war sie damals gewesen. Sie wollte schön sein für ihn. Das Damals ist gerade mal zehn Tage her. Es ist kassiert worden vom Gestern. Das Heute ist so dunkel wie das Meer, vor dem sie nun stehen bleibt, und so schwer wie die Steine in den Taschen ihres Kleides.
Als das Wasser ihre Zehen berührt, zuckt sie kurz zusammen.
Nur nicht denken, denkt sie.
Sie nimmt die Arme zu Hilfe, damit sie schneller vorankommt. Sie spürt nun auch Steine unter ihren Füßen. Strauchelt. Geht weiter. Die Wellen sind nicht hoch. Kein Tosen. Vielmehr ein Plätschern.
Chiara schaut zurück. Ein paar Fischerboote liegen am Strand. Bunt lackierte hölzerne Auslegerboote auf schwarzem Sand. Zu dieser Stunde eher Silhouetten, die wie riesige Kraken das Ufer besetzen.
Das Wasser reicht ihr jetzt bis zu den Hüften. Sie taucht die Hände hinein. Der Finger, an dem sie bis gestern den Ring getragen hat, ist nackt. Der Blechring liegt in einem Bananenblatt auf der Terrasse jener Frau, die sie als ihre Rettung gesehen hatte und die .
Sie erlaubt dem Gedanken nicht, wieder Raum in ihr zu besetzen. Sie hat ihn in der letzten Nacht zu oft hin und her gewälzt. Wund gescheuert hat sie sich an ihm, bis sie schweißnass aus ihrem Bett gekrochen ist, sich das weiße Kleid übergeworfen und den Ring vom Finger gezogen hat. Sie benötigte etwas Seife, um ihn zu lösen. Bei der Hitze hier werden die Gelenke schnell dicker. Selbst so dünne Gelenke wie ihre.
Die Tür des Bungalows hat sie nur zugezogen. Den Schlüssel hat sie dagelassen. Sie würde schließlich nicht mehr zurückkommen von dort, wo sie hinwollte. Sie nahm die Hauptstraße, die zu dieser Uhrzeit nahezu unbefahren war. Ein Pritschenwagen kam vorbei, mit einem Schwein auf der Ladefläche. Das Schwein quiekte. Wahrscheinlich hatte es Angst. Schweine bekommen Angst, wenn sie spüren, dass es zu Ende geht. Die Angst zerriss für einen Moment die Stille des Morgens, bis sie mit dem Geräusch des sich entfernenden Dieselmotors verschwand.
In Chiara war keine Angst. Da war nur etwas merkwürdig Taubes. Als seien ihre Gefühle betäubt worden. Unter Narkose wird es still, und in ihr war es jetzt still.
Der Markt hatte noch geschlossen. Erst in etwa ein, zwei Stunden würde hier langsam das tägliche Treiben Anlauf nehmen. Jetzt lagen nur einige von gestern übrig gebliebene Sperrholzkisten und zertretene Kohlblätter am Eingang. Ein räudiger Hund tat so, als würde er die Hinterlassenschaften bewachen. Er hob knurrend den Kopf, als Chiara vorbeikam, doch selbst ein feindseliger Hund machte ihr keine Angst mehr.
Sie brauchte etwa eine Viertelstunde, um auf das Grundstück zu gelangen, das sie am Abend zuvor so überstürzt verlassen hatte. Vorsichtig öffnete sie das große Tor. Es quietschte etwas. Chiara schlich über den Rasen, warf einen Blick zur Terrasse des großen Gebäudes. Auf dem Tisch dort standen noch die zwei Weinflaschen, die sie mit den zwei Frauen geleert hatte. Etwas weiter, im Gästehaus, lag Johanna in ihrem Bett und schlief. Johanna. Allein der Name verursachte Chiara Übelkeit. Laut war es geworden gestern. Irgendwann hatten die aufeinander zurasenden Emotionen einen Totalschaden erlitten. Da gab es nichts mehr zu retten. Danach kam die Stille.
Chiara riss ein Blatt von einer Bananenstaude, legte es vor die Tür des Gästehauses und ihren Ring darauf.
»Ich werde ihn nicht abnehmen, solange ich lebe«, hatte sie Johanna anvertraut, zu einer Zeit, als sie noch Vertrauen zu ihr hatte.
Sie würde nicht mehr lange leben. Diese Frau sollte das wissen.
Das Grundstück von Johannas Freundin lag am Meer. Wie Chiaras Bungalow. Und weil sie nicht wieder auf die Hauptstraße wollte, ging sie am Strand zurück. Stolperte vielmehr, weil die Dunkelheit keine Sicht zuließ. Auf ihrem Weg sammelte sie die Steine und füllte damit die Taschen ihres weißen Kleides.
Jetzt, im hüfthohen Wasser, werden die Steine schwerer. Das sollen sie auch, denn Chiara ist eine gute Schwimmerin.
Nun kommt die Sandbank. Die hat sie einkalkuliert. Danach geht es steil nach unten. Auch das weiß sie, und genau dort will sie sein. Weit unten.
Die Träger des weißen Kleides schneiden ihr in die Schultern. Sie halten das Gewicht der Steine nur mühsam. Es bleiben noch ein paar Schritte. Das würden die Träger schaffen, ohne zu reißen.
Dann geht es schnell. Sehr schnell.
Das Wasser ist plötzlich überall. In ihrer Nase, ihren Ohren, ihrem Hals. Es hat Kraft, das Wasser.
Arme und Beine wollen dagegenhalten, doch die Steine lassen ihnen keine Chance. Sie hat es so gewollt. Nun bekommt sie, was sie gewollt hat. Die Panik hat sie nicht gewollt, aber sie ist plötzlich da. Erfasst sie, will ihr den Brustkorb zerreißen. Es gibt kein Zurück auf ihrem Weg in die Tiefe.
Das Bild von Georg nimmt sie mit. Das Bild seines Lachens.
Es wird still. Noch stiller als ohnehin schon. Lässt sich Stille steigern? Über solche Fragen hat sie gern nachgedacht in ihrem Leben. Doch jetzt bleibt ihr keine Zeit mehr dazu. Das Leben ist angezählt.
Ein letztes Geräusch dringt wie von ferne durch zu ihr. Ein Sonarton in dem Wasser, das sie umgibt und das in sie eindringt. Chiara hört seine Stimme. Ganz klar und deutlich. »Ich will ohne dich nicht sein.«
Dann verliert sie das Bewusstsein.
Ein Ruck geht durch ihren Körper, als der Schwall Wasser aus ihrem Mund schießt.
Chiara öffnet die Augen. Sie sieht in das Gesicht eines Mannes, der über ihr sitzt, beide Hände auf ihrem Brustkorb. Er hat dunkle Haut und dunkle Augen und dunkles Haar. Er riecht nach Tabak. Tabak und Nelken. So riechen die Männer hier. Doch wo ist hier? Hier ist kein Ort, an dem sie sein wollte, sondern einer, von dem sie wegwollte.
»Miss. Are you okay?«
Chiara versucht ein Nicken. Dabei wird ihr übel. Sie dreht den Kopf zur Seite. Wasser läuft in den schwarzen Sand, auf dem sie liegt.
Der Mann erhebt sich und dreht sie nach links. Er hat raue Hände. Sie meint, Risse zu spüren. So viele Risse. Auf ihr. In ihr.
Sie schließt die Augen wieder.
Seine Hand klopft ihr auf die Wange. »Keep awake«, fleht er. Sein Englisch ist weich. Die Konsonanten abgeschliffen wie die Steine am Strand. Steine. Sie hat Steine gesammelt. Die Steine sollten ihr helfen. Die Steine haben versagt.
Sie will nicht wach bleiben. Sie wollte nie wieder aufwachen.
Ob es Sekunden sind oder Minuten, die vergehen, weiß sie nicht. Sie fühlt nur ein wildes Hämmern in ihrem Kopf. Ein hart schlagendes Metronom, das ihr jede Orientierung raubt.
Irgendwann nimmt sie den Geruch von Parfüm wahr. Eine Frau beugt sich über sie. Die Frau nimmt Chiaras Handgelenk. Fühlt den Puls.
»Können Sie mich hören?«, fragt sie auf Französisch.
Chiara nickt. Es geht jetzt besser mit dem Nicken.
»Verstehen Sie mich? Sprechen Sie Französisch?«
»Ja.« Das ist ihre Stimme. Ihre Stimme ist noch da.
»Versuchen Sie, sich aufzusetzen.« Die Frau schiebt ihr einen Arm unter die Schultern und zieht sie vorsichtig hoch.
Erst jetzt merkt Chiara, dass sie nackt ist. Das weiße Kleid, es ist weg. Die Frau legt ihr einen Sarong um die Schultern. Auch er riecht nach Parfüm.
»Ich heiße Cécile«, sagt sie. Sie redet langsam, setzt mit Bedacht ein Wort ans andere. »Ich bin Ärztin. Die Leute hier kennen mich. Der Fischer, der Sie aus dem Wasser geholt hat, hat seinen Freund zu mir geschickt.«
Chiara sieht zu dem Mann mit dem dunklen Gesicht. Er steht nun neben ihr. Hinter ihm haben sich einige Menschen versammelt. Frauen, Männer, Kinder. Barfuß. In Sarongs und Shorts. Sie alle blicken Chiara an. Ernst und Erschrecken in den Gesichtern.
»Wo . wo ist er gewesen?«, stammelt Chiara. »Der Mann? Ich . ich war doch allein. Da war niemand, als .«
»Er hat etwas an seinem Boot repariert. Er wollte wohl fertig sein, bevor es hell wird.« Die Ärztin, die Cécile heißt, sieht zum Himmel. Die Wolken sind nun grau und rosa. Die aufgehende Sonne lässt der Dunkelheit keine Chance mehr. Sie schiebt die Nacht weg. Ein neuer Tag zieht auf.
Ein neuer Tag. Einer, den Chiara nicht mehr erleben wollte.
»Sie können von Glück sagen, dass er da war und sofort gehandelt hat«, sagt Cécile. »Ohne ihn wären Sie jetzt tot.«
Glück? Das gab es mal. Es hat sie verlassen. Ist es ein Glück, das sie nun nackt hier auf dem schwarzen Sand liegt?
Chiara sieht die Frau an. Blaue Augen. Graues Haar, das zu einem losen Knoten im Nacken zusammengebunden ist. Ein rotes Kleid mit weißen Blumen darauf.
»Wo ist mein Kleid?«, fragt sie. Mein weißes Kleid, denkt sie.
»Er hat es Ihnen ausgezogen. Wegen der Steine in den Taschen.« Sie verstärkt den Druck ihres Armes. »Meinen Sie, dass Sie aufstehen können?«
Chiara fügt sich. »Ich versuche es.«
»Na dann . Ich halte Sie fest.«
Sie spürt wieder Boden unter den Füßen, schwankt...
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