Schweitzer Fachinformationen
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Es ist ein leises Knacken, das sie weckt. Fast ein Knistern. Das knackende Knistern trockener Zweige.
Zunächst meint sie zu träumen. Einige Sekunden noch ummantelt der Schlaf die Geräusche unter ihrem Fenster. Traumgeräusche.
Dann plötzlich - Schnitt.
Wirklichkeit tut sich auf.
Jule fährt hoch. Sitzt aufrecht im Bett. Hört jetzt nicht nur die sich brechenden Zweige, sondern auch das laute Klopfen ihres Herzens.
Kein Zweifel. Da bewegt sich etwas im Garten. Ein Tier? Es verirren sich immer mal wieder Hasen auf das Grundstück. Aber nein, dies hier sind keine Hasen. Es sind Schritte, die sich dem Haus nähern. Jetzt, gegen Ende August, ist das Gestrüpp der Garrigue trocken, die Hitze des Sommers hat Rosmarin, Thymian, Zistrosen, Brandkräuter, Lavendel nahezu versengt. Zu dieser Jahreszeit wird die Macchia zu einem Warnmelder.
Jule schaltet kein Licht an. Sie tastet nach dem Stuhl, der neben dem Bett steht. Bevor sie sich schlafen legte, hat sie dort die Strickjacke hingeworfen, die sie am Abend auf der Terrasse getragen hatte.
Es war ein langer Abend geworden, einer, der sich weit in die Nacht hineinbeugte. Selbst hier im Süden schleicht sich irgendwann ein Hauch von Kühle in die Nächte.
Jule und Jo hatten gegessen und Wein getrunken. Sie hatten geredet. Viel über ihn. Wenig über sie. Danach schwiegen sie lange; es war ein behagliches Schweigen gewesen, getragen vom Gesang der Zikaden. Irgendwann suchten sie die Milchstraße, in einem Himmel voller Sterne.
Als die Zikaden in den Olivenbäumen verstummten, begannen Jule und Jo zu frösteln. Er holte die Strickjacke und legte sie ihr um die Schultern. Die Fürsorglichkeit dieser Geste rührte sie. Und mit einem Schlag war die Angst weg. Die Angst, die sie monatelang begleitet hatte. Mal hatte sie ihr im Nacken gesessen wie ein tollwütiger Affe, mal hatte sie sich versteckt, um ihr dann aus der Ferne plötzlich zuzuwinken: Doch, doch, ich bin noch da. Bis sie gestern Abend auf einmal verschwand. Es war, als würde man ein lange eingegipstes Bein mit einem Hammerschlag befreien. Die schwach gewordenen Muskeln zitterten vor Freude. Für einen kostbaren Augenblick herrschte endlich Stille. Stille nach einem langen Sturm.
Doch jetzt ist die Angst zurück. Hinterrücks hat sie sich angeschlichen, hat die Tür der Träume benutzt, um die Wirklichkeit erneut zu besetzen. Ihre Truppen hat sie verstärkt. Die gestrige Ruhe, sie war nur ein Trugspiel. Nun ist der nächste Sturm da. In Orkanstärke diesmal .
Jule zieht die Strickjacke über ihr Nachthemd und setzt die nackten Füße auf den Steinboden. Ihre Schuhe lässt sie unter dem Bett stehen. Schuhe machen Geräusche, und Geräusche könnten sie verraten. Barfuß tastet sie sich bis zur Tür, die sie vorsichtig öffnet. Sie kennt das Haus inzwischen. Weiß, wo sich das Geländer der Treppe befindet, die ins Erdgeschoss führt. Die Steinstufen schlucken jeden ihrer Schritte. In der Diele angekommen, versuchen Jules Augen sich an das Dunkel zu gewöhnen.
Das Knacken draußen hat aufgehört. Er muss auf der Terrasse angekommen sein. Sie weiß, dass er es ist. Fast meint sie, sein Atmen zu hören. Dieses schwere Atmen, das alles ankündigt, was dann folgt. Erst kommt das Atmen, dann kommt die Wut. So ist es immer gewesen. So wäre es auch jetzt.
Sie muss schnell sein. Schneller als er.
Noch schläft Jo, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis er ebenfalls aufwacht. Sein Schlafzimmer liegt im Erdgeschoss, gleich hinter dem Wohnraum, von wo aus sich die großen Schiebetüren zur Terrasse hin öffnen.
Neben dem Hauseingang befindet sich die Tür zur Garage. Jule schlüpft hinein. Sie greift nach der Taschenlampe, die an einem Haken rechts hängt. Hier drinnen wird man das Licht nicht sehen; der Raum hat kein Fenster.
Das Gewehr liegt im Regal, hinter ein paar alten Farbdosen und eingetrockneten Pinseln. Sie hat es dort deponiert. Sie hat es auch geladen, so wie Nicolas es ihr vor einigen Wochen gezeigt hatte. Nicolas, der mit seiner Frau Sophie in der Nähe lebt. Der immer nach dem Rechten sieht und Jule mit allem hilft, was ansteht.
Damals ist sie noch allein gewesen. Ohne Jo.
»Ich sollte wissen, wie das Ding funktioniert«, hatte sie zu Nicolas gesagt, nachdem die Angst zurückgekommen war und Jule sich an die verstaubte Flinte in der Garage erinnert hatte. Sie hatte Nicolas von einem Mann erzählt, der sich in letzter Zeit auf der Straße herumtrieb und sie beobachtete. Einem Mann, den es nicht gab. Es gab nur ihre Angst - vor einem anderen Mann. Doch davon wollte sie ihm nichts erzählen.
Er schien zu verstehen. Eine Frau allein in einem frei stehenden Haus, nur umgeben von Garrigue, Olivenbäumen und Weinstöcken. Da bot eine Waffe Sicherheit. Er inspizierte und ölte das Jagdgewehr und erzählte ihr dabei, wie sein Vater und Jos Vater früher Fasane und Hasen und Wildschweine geschossen hatten. Als kleiner Junge schon war er dabei gewesen, hatte die Tiere gerupft oder ihnen das Fell über die Ohren gezogen. Heute jagt er manchmal noch an Wochenenden, mit Freunden aus dem Dorf. An jenem Tag half er Jule, das Gewehr zu laden; er hatte extra Patronen mitgebracht.
Sie übten draußen hinter dem Haus, schossen auf Blechbüchsen, die Nicolas auf eine halb eingefallene Mauer stellte. Die Eidechsen verließen fluchtartig ihre sonnigen Plätze auf den warmen Steinen, während Jule sich zeigen ließ, wie man lud, anlegte, zielte und den Rückstoß beim Abdrücken einkalkulierte. Nicolas stand hinter ihr, führte die Bewegungen zunächst mit ihr gemeinsam aus. Er war ihr so nah, dass sie seinen Atem spüren konnte. Er roch nach Knoblauch, wie fast alle hier im Süden. Sie mochte das. Ihn mochte sie auch. Er machte ihr keine Angst. Im Gegenteil. Er war ein Angstvertreiber.
Schließlich ließ er sie allein schießen.
»Du bist gut«, sagte er und nickte anerkennend.
Am Schluss drückte er ihr eine weitere Schachtel Patronen in die Hand. Sie verstaute alles hinter den Farbdosen und Pinseln. Die Schachtel legte sie daneben.
»Danke«, sagte sie und fragte, ob er noch einen Wein mit ihr trinken wollte. Gemeinsam saßen sie auf der Terrasse, und Nicolas erzählte, wie das damals war, vor über vierzig Jahren, wenn Jo mit seinen Eltern in den großen Ferien kam. Der Junge aus Deutschland, der sein Freund geworden war.
»Er ist ja in der letzten Zeit selten hier gewesen«, sagte Nicolas. Jule entnahm seiner Stimme Bedauern.
»Warum eigentlich?«, fragte sie. Eine Frage, die sie bereits seit Längerem stellen wollte.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke, seine Frau mag das alles nicht so sehr. Sie ist nicht der Typ fürs . na ja, Ländliche. Er hat sie nach dem Tod seiner Eltern ein paarmal mitgebracht, dann kam er nur noch allein. Ich hab mich oft gefragt, ob er das Haus nicht eines Tages verkaufen wird, aber immer, wenn ich ihn darauf angesprochen habe, hat er abgewinkt. Er hat seinen eigenen Kopf, musst du wissen. Aber wahrscheinlich weißt du das sowieso schon.«
Sie verneinte. Sie wusste fast nichts von Jo. Sie lebte in dem Haus eines Mannes, den sie so gut wie nicht kannte.
»Du bist so ganz anders als sie«, sagte Nicolas. Er sprach noch immer von der Frau. Jos Frau.
»Wie meinst du das?«, fragte Jule.
»Sie würde nie ein Gewehr in die Hand nehmen«, sagte er und verzog dabei seine Mundwinkel. Ein klein wenig nur, aber genug für sie, um den Spott zu erkennen. »Und auch sonst .«, fuhr er fort.
Jules Stirnrunzeln forderte ihn zum Weiterreden auf.
»Sie hat Sophie mal abgelegte Kleider von sich schenken wollen«, sagte er. »Sie meinte das sicher nett, und es waren wirklich teure Kleider, aber Sophie war gekränkt. Sie hat ihren Stolz, musst du wissen. Ich brauche keine Almosen, hat sie damals gesagt. Nina war eingeschnappt, und .«
»Nina?«
»Ja, so heißt Jochens Frau. Du hast noch nie von ihr gehört?« Er sah sie erstaunt an.
»Nicht wirklich. Er hat sie nur nebenbei mal erwähnt.«
»Na ja, wir sind eigentlich froh, dass sie nicht mehr kommt. Du dagegen . Nun, bei dir haben wir das Gefühl, du passt hierher. Du hast dieses Haus auf eine ganz besondere Weise wiederbelebt.«
»Danke, Nicolas. Dabei habe ich mich wie abgestorben gefühlt, als ich hier ankam.«
»Das haben wir gesehen, Sophie und ich.«
Sie lächelte.
Das mochte sie an den beiden. Sie bemerkten etwas, aber sie stellten keine unnötigen Fragen. Sie stellten lieber eine Schale mit Kirschen vor die Tür. Oder luden Jule zum Essen mit Freunden ein, damit sie sich nicht so allein fühlte. Ohne die zwei wären ihre Monate hier anders verlaufen. Sie sind einfach da gewesen, von Beginn an. Seit sie Anfang April mit nichts als einer Reisetasche in diesem Haus angekommen war. Gestrandet. Eine Schiffbrüchige.
Als Nicolas an diesem Abend mit seinem alten Lieferwagen davonfuhr, sah Jule ihm nach. Sie hatte nun ein Gewehr, mit dem sie schießen konnte. Und sie hatte eine Schachtel mit Patronen.
Jetzt in der Garage, im Schein der Taschenlampe, tut sie das, was sie in Gedanken bereits Hunderte Male geprobt hat. Sie lädt das Gewehr, spannt den Lauf und schleicht damit zurück in die Diele. Die Taschenlampe knipst sie kurz zuvor aus und hängt sie zurück an den Haken.
Sie steht wieder im Dunkeln, das Gewehr eng an sich gepresst. Die Kälte der Fliesen kriecht in ihre nackten Füße, zieht die Beine hinauf, ergreift ihre Brust, in der das Herz laut pocht.
Sie zittert.
Ganz ruhig, befiehlt sie sich. Konzentrier dich! Auf dich allein kommt es jetzt an. Niemand wird dir helfen.
Das Geräusch von springendem Glas...
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