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Utes Vorwürfe hallten in seinem Kopf nach, sobald er das leere Zimmer betrat. Ein Stapel Romane verstellte den Weg. Einmal hatte T. Lust, die Bücher mit dem Fuß beiseitezustoßen, ein andermal, sie ins Regal einzuräumen. Er unterließ beides. Er wartete ab.
Auf dem Schreibtisch lahmte ihr Alpenveilchen an weichen Stengeln, und ringsum häuften sich Berge ungelesener Fachliteratur, welche an seinen demnächst zu haltenden Vortrag über »Veränderungen des mathematischen Realitätsbegriffes in der Neuzeit« gemahnten. Auch der Ordner mit der Habilitationsschrift lag unberührt. Er war in letzter Zeit mit nichts weitergekommen. Seit er mit Ute zusammenlebte, genaugenommen. Stets hatte er sich damit vertröstet, daß diese Geschichte ja nicht ewig dauern konnte. Er war nicht der Mann dafür, war ein Denker, die Liebe Nebenfach. Doch Ute hatte sich sich immer tiefer eingenistet in seiner Wohnung und in seinem Leben.
Natürlich liebte er sie. Wenn sie ihn nicht gerade mit ihren Fällen vom Sozialamt behelligte oder verlangte, daß er ihre Bücher lese. Erzählungen! Romane! Wie, wenn er ihr seine wissenschaftlichen Problemstellungen vorgelegt hätte? T. hielt nicht viel von erfundener Wirklichkeit, und die »allgemeinmenschlichen Probleme«, welche Ute ständig zitierte, erschienen ihm allzu unberechenbar. Einzig in der Mathematik gab es halbwegs klare Lösungen. Das hatte wiederholt Anlaß zu Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben. »Wären alle wie du, würde sich am heillosen Zustand der Welt nie etwas ändern!« warf sie ihm bei solchen Gelegenheiten regelmäßig vor. T. dagegen fand, daß es um die Welt bedeutend besser stünde, wenn die Menschen weniger handelten und mehr dächten. Sagte er das, wurde Ute jedesmal wütend: »Mit dir kann man nicht reden!« So endeten die meisten Debatten.
Auch diesmal wieder. T. konnte sich jedoch beim besten Willen nicht an die Ursache der letzten Auseinandersetzung erinnern. Wenn er die Angel nach Erinnerungen auswarf, zog er nur zusammenhanglose Satzfetzen hervor. Dabei hatte das Gespräch harmlos angefangen. Weit weg von ihm. In einem Roman. Ute neigte dazu, Fiktion und Wirklichkeit durcheinanderzubringen. Ließ sich dann kaum richtigstellen. Warf ihm plötzlich, zwischen zwei Bissen Apfelstrudel, mangelnde Anteilnahme vor. Er gleiche aufs Haar irgendeiner Hauptfigur, einem Menschenfeind!
Hätte sie nicht immer wieder versucht, ihn solcherart in falsche Kategorien hineinzuzerren, würde er sich mit ihrer Leidenschaft für schöne Literatur und schlechte Gesellschaft vielleicht abgefunden haben. Ja, wahrscheinlich hatte er sich vor drei Jahren gerade in ihren Jungmädchen-Enthusiasmus verliebt, wenn nicht in ihre Augen und ihre kleinen Brüste. So aber war er beständig vor ihr auf der Hut.
Diesmal hatte er sie schweigend gewährenlassen, als sie ihm die neueste Geschichte auftischte. Trank Kaffee und dachte über den Aufbau der kommenden Vorlesung nach. Zu spät bemerkte er, daß sie das Thema gewechselt hatte. Daß sie auf einmal über ihn sprach. Über seine Arbeit. Unverständliches Mathematikergerede! Alles eine Flucht! Egoismus! Er kam gar nicht mehr mit. Nur tote Zahlen in seinem Kopf, auch sie so eine Nummer … T. entsann sich nicht, was er geantwortet hatte. Wahrscheinlich war er ins Schweigen oder in den Zynismus geflüchtet, wie immer, wenn sie ihn in die Enge trieb. Es tat ihm ja leid. Es war ein Mißverständnis. Bei ihr bewirkte jedes Wort und jede Geste stets das Gegenteil dessen, was er beabsichtigte. Es war schon komisch: Da liebte man jemanden und verstand ihn trotzdem nicht. Lebte verständnislos jahrelang mit einem Menschen zusammen, nur weil man irgendetwas an ihm liebte. Mit dem Rest konnte man nicht das geringste anfangen.
Er ertappte sich dabei, daß er die Wohnungstür vergaß abzusperren. Ging schon kaum mehr aus dem Haus. Wenn sie zurückkäme, würde er vielleicht vorschlagen, das Zusammenleben ein wenig zu lockern. Er hatte sich bereits zurechtgelegt, wie man ihr das beibringen könnte. Und er würde ihr natürlich großzügig bei der Anschaffung einer Garconniere unter die Arme greifen. T. stellte sich vor, wie er manchmal am Abend dann zu ihr gehen würde. Aber sie ließ ihm keine Chance. Sie blieb einfach weg.
Unschlüssig steht er vor dem Alpenveilchen; er hat Blumen nie gemocht. Sie sind so unselbständig. Wahrscheinlich ist die Pflanze eingegangen. Ein ums andere Mal setzt er sich an den Stapel Examensarbeiten. Dann vor das unfertige Vortragsmanuskript. Sein Kopf hämmert. Er müßte sich endlich konzentrieren. Vernünftig arbeiten. In Ruhe nachdenken über das eine wie über das andere. Aber da ist irgendein fehlender Parameter, eine falsche Ausgangsoder Rahmenbedingung …
Es schmerzt nun überdeutlich. Die Verlassenheit des Zimmers dehnt sich mit dem Klumpen im Hals. Die übliche Angina, wie immer in Übergangszeiten. Morgen wird er keine Stimme mehr haben und die Vorlesung absagen müssen. Niemand hätte mit einem nochmaligen Wintereinbruch gerechnet, der Hausmeister hat die Heizung längst abgedreht. T. fröstelt. Er versucht sich nicht ablenken zu lassen, genau zu denken. Warum ist sie weggegangen? Hat sie mir das gesagt? Die Erinnerung spielt mit ihm Verstecken. Wahrscheinlich ist sie zu den Eltern gefahren. Sollte man dort anrufen? Es wäre ihm peinlich. Was könnte er schon sagen? Es schien tatsächlich das beste, hierzubleiben und abzuwarten. Sich für die nächsten Tage krankzumelden.
T. war immer überfordert gewesen, wenn er mehrere Dinge gleichzeitig hätte tun oder denken sollen. Auch jetzt konnte er sich vornehmen, was er wollte, alle Gedanken liefen in Utes unergründlichem Verhalten zusammen. Und dahinter blitzte ständig die noch dunklere Frage, ob er ohne Ute oder mit Ute würde weiterleben können. Zuviele Unbekannte!
Bei schwierigen Aufgaben an den Anfang zurückgehen, erinnert er sich einer Mathematikerregel. Von vorne beginnen, bei der einzig bekannten Größe. Es würde ihm nichts übrigbleiben, als das Buch doch zu lesen. Immer brachte Ute ihn dazu, Dinge zu tun, die er gar nicht wollte!
T. sucht das Buch aus dem Stapel und legt sich ins Bett. Seine Glieder fühlen sich schwer an, wie die einer Marionette an lahmen Schnüren. Er ist krank. Tanzt nach ihrem Willen. Und wenn sie ihn hängenließ? Er zieht die Decke über sich. Die Schultern schmerzen, man weiß kaum, wie man sich betten soll.
Jetzt ist alles durcheinandergeraten. Das Fieber. Ute. Das Buch. Er muß geschlafen haben. Das schweißnasse Leintuch klebt am Körper, daß er sich kaum rühren kann. Er hat nicht rechtzeitig angerufen. Sich nicht krankgemeldet. Hat den Zeitpunkt verschlafen, wo er noch jemanden hätte erreichen können. Nun weiß keiner, was los ist.
Ich muß dieses Buch durchsehen, fällt ihm ein. Ute hatte gesagt, er müsse es unbedingt lesen. Mit kalten Fingern blättert er durch die Seiten. Beginnt einmal von vorn, dann weiter hinten. Nichts läßt sich daraus ableiten. Ohne Zusammenhang. Es scheint in tausend verschiedene Geschichten zu zerfallen, und man weiß nicht, worauf es hinausläuft. Keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Leben. Vielleicht ist es das falsche Buch, und das, was ihn angeht, steht auf einem anderen Blatt?
Er muß es systematisch angehen. Vorne beginnen. Der abgegriffene Umschlag mit einem Bild von Escher hängt zerfleddert herab. Überdies verkehrt umgelegt. Oder liest T. das Buch verkehrt? Irgendetwas hat er übersehen. So viele Sätze, die in Schleifen durch sein fiebriges Gehirn ziehen, von denen keiner weiß, was sie in Wirklichkeit bedeuten. Im Nachdenken rutscht er weiter in die Tiefe. In eine ungesunde Stille. Hält bald nichts, bald alles für wahr. Er hat Worten nie getraut. Zu unbestimmt, zu willkürlich ist das, was sich daraus konstruieren läßt: eine Liebe oder ein Abschied, nach Belieben. Und auf einmal stürzt man aus der sicher vorausberechneten Existenz haltlos ins Leere. Verfällt ins verwirrende Dasein eines Möglichkeitsmenschen. Immer tiefer in sein Krankheitsbild.
So weit ist es also mit ihm gekommen. Da liegt er auf dem Rücken. Angestrengt unter der hängenden Stirnlocke, die im Dämmerlicht nicht zwischen blond und grau zu unterscheiden ist, ein schmales, blasses Krankengesicht. Und über diesem Gesicht, in den zitternden Händen, fast drohend, das Buch. Es kann jeden Moment, wenn seine Kräfte nachlassen, auf ihn herabstürzen.
Tillmann ist untergetaucht, und man kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob es in diesem oder in einem anderen Roman geschehen ist. Hat sich in seiner Geschichte verkrochen, in einem makellos weiß lackierten Metallbett. Einem leeren Raum. Tillmann hat Ordnung gemacht.
Die Zurückgezogenheit des Krankenzimmers erlaubt ihm endlich, sich der reinen Wissenschaft zu widmen. Er will nicht länger mit Geschichten behelligt werden, die ihn nichts angehen. Er ist trotzig verstummt und wurde für krank erklärt. Handlungsunfähig. Er hat nicht widersprochen....
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