KAPITEL 1
ALTE UND NEUE BLICKWINKEL ZWISCHEN GESTERN UND HEUTE
WIESO WERDEN HUNDE MISSVERSTANDEN?
Tatsächlich kenne ich kaum ein Thema auf der Welt, das so sehr von Missverständnissen geprägt ist, wie unser Umgang mit Hunden. Okay, außer vielleicht die dank eines unseligen Nachkommafehlers jahrzehntelange irrige Annahme, dass Spinat ausgesprochen eisenhaltig sei, weshalb Generationen von Menschenkindern vollkommen umsonst gepeinigt wurden, die grüne Pampe in sich reinzuschaufeln, um groß und stark werden. Obwohl der Irrtum längst aufgeklärt wurde, hält sich dieses alte Ammenmärchen trotzdem beständig - und keiner weiß, warum.
So ähnlich ist es auch beim Thema Hund. Welches Unrecht wir aus Missverständnissen und falschen Interpretationen tausenden Generationen von Hunden angetan haben und noch weiter antun, geht tatsächlich auf keine Hundehaut. Wie viele Hunde aus reiner Unwissenheit unfair behandelt werden und wie viele Verhaltensstörungen wir Menschen verschulden, weil wir veraltetem "Wissen" nachhängen, zeigt auf, dass der Hund zwar paradoxerweise dasjenige Haustier ist, das mit uns am engsten zusammenlebt, in der Regel sogar im Haus, und wir eine enge emotionale Bindung mit ihm eingehen. Aber dennoch wissen wir über sein Wesen, seine Bedürfnisse, seine Körpersprache und seine Emotionen meist nur das, was uns eben jene alten Mythen glauben machen wollen. Eine Katze lebt auch mit uns im Haus und die emotionale Bindung ist sicherlich auch sehr eng, doch ist der Anspruch, den wir an sie haben, ein völlig anderer als an den Hund: Wir erwarten, dass der Hund "brav" ist, dass er "funktioniert". Von einer Katze erwarten wir - nichts. Na gut, sie soll das Sofa nicht zerkratzen und halbtote Mäuse draußen lassen. Eine Katze lebt ihr Leben weitestgehend autark (wenn sie Freigang hat), doch ein Hund lebt sein Leben fast immer nach unseren Wünschen und Vorstellungen, hierfür stehen wir mit ihm in ständiger Kommunikation.
© Anna Auerbach/Kosmos
Was möchte mein Hund mir damit sagen?
Aufgrund also dieser sehr speziellen Verbindung sollten wir unsere Hunde gut kennen, oder nicht? "Moment mal, tun wir doch!", sagt ihr jetzt vielleicht an dieser Stelle. In gewisser Weise stimmt das auch: Wir kennen unseren Hund gut: Wir wissen, wann er bellt oder an der Leine zieht. Wir wissen, wann er sich streckt, gähnt oder schüttelt. Wir wissen, wann er sein Geschäft erledigen will, wann er knurrt oder mit dem Schwanz wedelt. Wir wissen das, weil wir es beobachtet haben. Aber wir wissen häufig nicht, warum er tut, was er tut, bzw. haben da ein paar Erklärungen parat, die nicht unbedingt richtig sein müssen und den Hund häufig in ein sehr negatives Licht setzen. Der Grund dafür liegt in einer Reihe miteinander verketteter Missverständnisse aus dem Reich der Mythen, die sich leider ebenso hartnäckig halten, wie die oben erwähnte unselige Spinatgeschichte.
Vieles, was wir vermeintlich über Hunde wissen, lernen wir schon als Kinder von unseren Eltern und Großeltern:
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"Du darfst keine Angst zeigen und musst dem Hund fest in die Augen schauen!"
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"Der wedelt mit dem Schwanz, der freut sich."
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"Du musst dem Hund den Kopf tätscheln, das mag er."
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"Der Hund will Alpha sein, weil er vom Wolf abstammt."
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"Der Hund will dich dominieren. Du musst ihm zeigen, dass du der Chef im Haus bist."
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"Hunde, die bellen, beißen nicht."
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"Hunde müssen parieren und tun, was wir sagen!"
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Und so weiter und so fort.
Die Wurzel des Übels sitzt also tief. Wir haben den Blickwinkel, aus dem wir unsere Hunde üblicherweise betrachten, bereits von Kindesbeinen eingeimpft bekommen, er erscheint uns in Stein gemeißelt. Untermauert wird er im Internet, in Foren, Fachbüchern, im Fernsehen und auf den Hundeplätzen, wo uns überwiegend viele längst veraltete Informationen vermittelt und zugänglich gemacht werden. Es ist unglaublich schwierig, in diesem Dschungel an Informationen diejenigen herauszufiltern, die wirklich Sinn machen und verlässlich sind. Denn nur, weil etwas tausendfach wiederholt wird, ist es nicht notwendigerweise richtig, wie wir auch beim Spinatbeispiel von oben gesehen haben. Auch Gedrucktes und Experten und Expertinnen können irren. Anhand der Masse an falschen Informationen auf allen Kanälen wird es uns sehr schwer gemacht, überhaupt die Notwendigkeit zu erkennen, dass es unbedingt Sinn macht, unseren sehr eindimensionalen Blickwinkel zu verändern.
© Anna Auerbach/Kosmos
Wir können besser auf unseren Hund einwirken, wenn wir verstehen, was er gerade fühlt.
WIESO RECHTFERTIGEN MYTHEN EINEN GROBEN UMGANG?
Im Laufe der Jahre mit meinen Hunden wurde mir immer wieder verdeutlicht, aus welchem militärischen Blickwinkel wirklich viele Menschen Hundeverhalten betrachten und interpretieren. Wenn ich z.B. meinen Hund auf engen Wegen auf die Seite rufe oder absitzen lasse, weil Spaziergänger oder Jogger vorbeikommen, denen ich kein unangenehmes Gefühl angesichts eines großen schwarzen Hundes vermitteln möchte, höre ich häufig anerkennende Sätze - ganz im Vokabular vergangener Kriegsgenerationen - wie: "Der pariert aber aufs Kommando!" Oder auch: "Respekt, der funktioniert!" Keinem ist vermutlich je aufgefallen, wie eigenartig diese Wortwahl in der heutigen Zeit anmuten könnte. Und keiner hat mich je gefragt, wie ich meinen Hund dazu gebracht habe, dass er sich hinsetzt oder auf die Seite kommt. Die Menschen sehen einen "braven" Untergebenen und lassen sich vom Ergebnis beeindrucken. Ihr Blickwinkel ist ausschließlich auf das Zielverhalten gerichtet, bzw. sie wissen gar nicht, dass viele sehr unterschiedliche Wege zum Ziel führen mögen.
Wenn ich dagegen einen Hund sehe, der ein Signal ausführt, beobachte ich, ob er dabei freudig und entspannt wirkt oder eher angespannt, ängstlich und unter Druck gesetzt. Ich frage mich, wie er wohl trainiert wurde, damit er das Verhalten ausführt. Für mich ist der Weg das Ziel: Mein Hund soll Verhalten, das ich von ihm möchte, mit Spaß erlernen. Er soll es gern ausführen und keine Angst haben müssen, bestraft zu werden, wenn er etwas "falsch" macht oder es (noch) nicht kann. Erziehung über Zwang, Unterdrückung, Ängstigung und Hemmung ist nach heutigem Wissensstand nicht nur unfair und unnötig, sondern auch gefährlich, weil nach alter Schule erzwungenes Verhalten nicht selten in Verhaltensauffälligkeiten münden kann (dazu später noch sehr viel mehr).
Es ist also normal, dass wirklich jeder, der sich mit dem Thema Hund beschäftigt und noch nicht gelernt hat, den richtigen Filter anzuwenden, mit falschen und sogar schadenden Informationen und Anweisungen gefüttert wird.
Das besonders Problematische an Mythen ist nicht einmal unbedingt, dass sie Missverständnisse und falsche Interpretationen weitertransportieren. Viel dramatischer ist, dass sie gewaltsame, ängstigende, strafende Maßregelungen am Hund rechtfertigen, da Hunde angeblich "auch nicht zimperlich miteinander" umgehen würden.
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Grober Umgang ist unnötig, unfair und kann Verhaltensprobleme verursachen.
Die Mutter aller Mythen war die Anfang des 20. Jahrhunderts von Oberst und Polizeihundeausbilder Konrad Most entwickelte Methode, den Hund über Gewalteinwirkung und Unterdrückung zu erwünschtem Verhalten zu zwingen. Für jedes Fehlverhalten wurde der Hund gezüchtigt, erwünschtes Verhalten blieb straffrei (und war Belohnung genug). Most vertrat die Theorie, der Hund werde von einer Art Rudelinstinkt - der instinktiven Unterordnung gegenüber dominanten Individuen - gelenkt. Kalter Kaffee? Leider nein. Mosts "Leitfaden für die Abrichtung des Polizei- und des Sanitätshundes auf wissenschaftlicher Grundlage" 1 von 1917 (also mitten im 1. Weltkrieg!) gilt selbst heute noch als "wissenschaftliche" Basis der Hundeerziehung auf manchem Hundeplatz oder im Schutzdienst, obwohl einige der empfohlenen Maßnahmen offiziell aus tierschutzrelevanten Gründen verboten wurden. Mich wundert immer wieder, wie die teils sehr brutalen, mindestens aber militärischen Methoden heute immer noch so viel Anklang finden können. Ich persönlich wäre doch äußerst erleichtert, wenn ich meinen Hund (egal wie groß und schwer er wäre) nicht mehr schlagen, schütteln, kneifen, treten, anschreien und ihn damit zu einer vor lauter Angst unter sich urinierenden Kreatur herabwürdigen müsste, wenn mir jemand zeigen würde, dass es auch vollkommen gewaltfreie Methoden der Kommunikation und des Grenzensetzens gäbe.
Es gibt viele Gründe, warum Mythen sich so hartnäckig halten, aber einer der wichtigsten ist ganz sicher, dass sie in Bezug auf unsere Hunde sehr einfach zu verstehen sind, während sich die Realität - wie so oft im Leben - weitaus komplexer darstellt. Der Vorteil eines Mythos ist, dass er genau eine Antwort auf viele unterschiedliche Fragen liefern kann. Wie z.B. beim sehr beliebten und gerade oben erwähnten Thema "Dominanz".
Einem Hund wird häufig Dominanz unterstellt, wenn er:
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alles kaputt macht, wenn er allein ist
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als Erster durch die Tür rennt
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an der Leine zerrt
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andere Hunde anrempelt, anbellt oder attackiert
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auf dem Sofa liegt
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aufreitet
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bellt, knurrt oder...