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2. DER ORT EINER ETHIK IM KONTEXT LATEINAMERIKAS
2.1 Der sozial-theologale Ort
Den sozialen Ort seiner Christologie hatte Jon Sobrino seinerzeit noch relativ pauschal mit »die Welt der Armen«4 bezeichnet. Die soziale Realität prägt - ihm gemäß - die Art und Weise, theologisch zu denken. So lässt sich auch eine Ethik nicht entwickeln ohne diesen Blick auf den sozialen Lebensraum. Er zwingt und befähigt zum Nachdenken über das konkrete Leben und die Präsenz Gottes in ihm. Das führt zu einem »epistemologischen Bruch« (60), das heißt, dass erst aus dieser Dialektik von sozialer Realität und der Offenbarung Gottes in ihr sich ethisches Verhalten entwickeln und bestimmen lässt. Wo ist also der Ort Gottes in der sozialen Realität? Sobrino war von der Parteilichkeit Gottes für die Armen ausgegangen und hatte in ihnen den leidenden Gottesknecht (nach Jes 53) und den Gekreuzigten wiederentdeckt. Jesusnachfolge heißt darum für ihn, sich für die »gekreuzigten Völker« (47) einzusetzen oder - zugespitzt formuliert - »die gekreuzigten Völker vom Kreuz zu nehmen«5.
Diese Formulierung zeigt, dass Sobrino den sozialen Ort nicht ohne seine politische und ökonomische Dimension denkt. So wie sich die sozial-politisch-ökonomische Realität verändert, so muss auch eine Ethik die Entwicklungen mitvollziehen und neue Herausforderungen annehmen. Das ist eine theologische Notwendigkeit, solange sich eine Ethik an einem mitgehenden und sogar inkarnierenden Gott orientiert und nach seinem Willen in einer konkreten Situation fragt. So wird der soziale Ort gleichzeitig zum theologalen Ort, d.?h. zu einem Ort, der Gottes Wirken zu erkennen hilft.
Seit 1991, dem Jahr des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des klassischen kommunistischen Systems, haben sich die sozial-politischen und ökonomischen Lebensbedingungen auch in Lateinamerika deutlich verändert und die ethischen Fragestellungen erheblich diversifiziert. Juan José Tamayo fasst sie in seinem Buch Otra teología es posible [Eine andere Theologie ist möglich], das sich umfassend mit dem religiösen Pluralismus, der Interkulturalität und dem Feminismus auseinandersetzt, markant zusammen:
Neue Erfahrungen wurden gemacht und neue kollektive Subjekte der Befreiung sind entstanden: Indigene Gemeinschaften, afroamerikanische und ländlich-bäuerliche Gemeinschaften, Straßenkinder, Frauen, oft zwei- und dreifach unterdrückt, sowie die Ausgeschlossenen der neoliberalen Globalisierung. Es kam zu einem spektakulären Erwachen der indigenen und afro-latinoamerikanischen Religionen und ihrer Theologien . mit ihrer speziellen Sensibilität für Situationen und Phänomene, die in der Theologie der Befreiung der vorigen Jahrzehnte kaum Beachtung fanden, wie die Erfahrungen der Marginalisierung und Ausgrenzung aus Gründen der Ethnie, der Rasse, des Geschlechts, der Kultur, Religion etc.
Als Frucht dieser Neuformulierung in neuen kulturellen Kontexten werden neue Leitlinien des Lebens und der Reflexion entwickelt, die versuchen, die prophetische Dynamik, die methodologische Strenge und den systematischen Charakter der Theologie in Einklang zu bringen. Es seien nur die folgenden Ansätze erwähnt: die Theologie der campesinos, die afroamerikanische, indigene, ökologische, pfingstliche Theologie sowie Theologie aus der Gender-Perspektive und Theologie der Befreiung aus wirtschaftlicher Sicht als Kritik der ökonomischen Religion des Marktes. Es sind keine Genitiv-Theologien, die nur neue Themen in die theologische Reflexion aufnehmen, sondern Fundamentaltheologien, die versuchen, den christlichen Glauben in einem neuen kulturellen Kontext und unter den Bevölkerungsgruppen plausibel zu machen, die mehrheitlich verarmt sind aufgrund der neoliberalen Globalisierung und ihrer perversen Folgen.6
Tamayo nennt hier drei wesentliche Veränderungen im Panorama der lateinamerikanischen Situation und Theologie:
Sie markieren einen neuen kulturellen Kontext. Signifikant ist für ihn der starke Einfluss der neoliberalen Globalisierung und ihrer negativen Folgen.8 Daraus erheben sich zwei zentrale Herausforderungen für das lateinamerikanische Christentum: zum einen der religiöse und kulturelle Pluralismus, zum andern die ökologische Frage.
Zum Zweiten ist das wissenschaftlich-technische Modell der Entwicklung der Modernität zu hinterfragen. Es ist nicht universal gültig und es zerstört die Natur, die wahre Heimat des Menschen. Es braucht den Kampf, um die Rechte der Natur zu verteidigen, die einer irrationalen Ausbeutung durch einen räuberischen Kapitalismus unterworfen ist.9
In dieser kurzen Beschreibung des sozial-theologalen Ortes stechen vor allem die Komplexität der Problemlagen und die Verschränkung ihrer verschiedenen Dimensionen ins Auge. So ist der religiös-kulturelle Aspekt nicht ohne die politisch-wirtschaftliche Verortung und die ökologische Herausforderung nicht ohne die Auswirkung eines global agierenden neoliberalen Kapitalismus zu verstehen.
2.2 Der religiös-spirituelle Ort
Eine zeitgemäße protestantische Ethik darf sich nicht nur im Raum der Kirchen, die den Kontext Lateinamerikas mitprägen, verorten. Die religiöse Landschaft ist auch hier inzwischen viel weiter ist als die kirchlichen Grenzen. Religion hat eben auch eine kulturelle und öffentliche Dimension, die über die Kirchen hinausgeht und in der das protestantische Element durchaus eine Rolle spielt. Die religiöse Landschaft Lateinamerikas hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Das dokumentiert das jährliche Latinobarómetro, eine öffentliche Meinungsumfrage, an der rund 20?000 Interviewpartner in 18 lateinamerikanischen Ländern mit mehr als 600 Millionen Einwohnern teilnehmen.10 Die Ergebnisse weisen drei auffällige Entwicklungen auf:
(1) Der Mitgliederschwund der römisch-katholischen Kirche. Während sie mit 80 Prozent der Bevölkerung noch 1995 die überwiegende Mehrheit der Konfessionen hatte, ist sie bis 2017 auf 59 Prozent geschrumpft. In einzelnen Ländern stellt sich dieser Verlust noch dramatischer dar. In mittlerweile sieben Ländern der Region ist die katholische Religion nicht mehr dominant, also unter 50 Prozent Bevölkerungsanteil gesunken. Die Skala reicht von der Dominikanischen Republik mit 48 Prozent über Chile, Guatemala, Nicaragua, El Salvador, Uruguay bis Honduras mit 37 Prozent. Den stärksten Rückgang mit mehr als 30 Prozentpunkten gab es in Honduras (-38), Nicaragua (-37) und Panama (-34). Es folgt eine Gruppe mit großen Verlusten von mehr als 24 Prozent. Zu ihr gehören Chile (-29), El Salvador (-27), Brasilien (-25) und Costa Rica (-24). Sollte sich der Trend so fortsetzen, wird es in kurzer Zeit in zehn der achtzehn Länder keine katholische Dominanz mehr geben.
Die Gründe für diesen Rückgang sind vielfältig. Eine gewichtige Rolle für den Vertrauensverlust spielen sicher die zahlreichen Missbrauchsfälle von Kindern durch katholische Priester, das Gefühl einer unzeitgemäßen Morallehre und der Anstieg der evangelikalen und pfingstlichen Kirchen.
(2) Deutlich ist im selben Zeitraum von 1995 bis 2017 der Zuwachs der sogenannten evangelikalen Kirchen. Unter diesem Sammelbegriff werden in der Umfrage die historischen protestantischen Kirchen (z.?B. Lutheraner, Presbyterianer, Baptisten, Methodisten, Adventisten), die evangelikalen Kirchen und die pfingst- und neupfingstliche Bewegung (Asamblea de Dios, Iglesia Pentecostal de Dios, Iglesia Evangélica Cuadrangular), die sich zum Teil freilich überschneiden, zusammengefasst. Zu ihnen bekennen sich in der Umfrage 18 Prozent der Bevölkerung. Der oft apostrophierte Massenexodus der lateinamerikanischen Katholiken zu den Evangelikalen oder gar die Ankunft des evangelikalen Zeitalters sind freilich nicht so eindeutig, wenn man das dritte Ergebnis der Umfrage berücksichtigt.
(3) Auch die Konfessionsfreien, die keine Religionszugehörigkeit angeben, weisen ebenfalls 18 Prozent auf. Die Länder, die einen Anteil von mehr als 20 Prozent Konfessionsfreie haben, also mehr als ein Fünftel der Bevölkerung, sind auch diejenigen, die die geringsten Katholikenanteile verzeichnen. So ist auch in Lateinamerika eine zunehmende Säkularisierung zu konstatieren.
Typisch für die religiöse Situation in Lateinamerika ist allerdings auch, dass sich die klassischen Konfessions- und Denominationsunterschiede so nicht durchgängig aufweisen lassen. Die Befragung des Pew Research Center von 2014 »Religión en América Latina« stellte bereits fest:
Viele Menschen aus Lateinamerika - wesentliche Anteile von Katholiken und Protestanten eingeschlossen - geben an, Glaubensinhalte und Praktiken anzunehmen, die oft mit afrokaribiensischen, afrobrasilianischen und indigenen Religionen verbunden sind. Zum Beispiel glaubt mindestens ein Drittel der Erwachsenen aus jedem befragten Land an den »bösen Blick«, also die Vorstellung, dass bestimmte Personen einen Zauber oder...
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