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Prolog
Kanpur, Indien, 25. Juni 1857
Brigadegeneral Hugh Wheeler, Oberbefehlshaber der britischen Garnison von Kanpur, trank einen Schluck von seinem nur noch lauwarmen Kaffee - er konnte trotz all der Jahre in Indien dem hier allgegenwärtigen Tee nichts abgewinnen - und warf einen Blick auf seine versammelten Offiziere. Dann wandte er sich an seinen Stellvertreter, Colonel Peter Wallace, der im Laufe der Ereignisse der zurückliegenden Wochen nicht nur seine rechte Hand, sondern so etwas wie ein Freund geworden war. Dabei versuchte er, sich seine Unsicherheit, ja Angst nicht anmerken zu lassen, da dies eindeutig ein falsches Signal an seine Männer gesendet hätte. »Und, was meinen Sie, Colonel?«, fragte er, so forsch er eben konnte. »Ist das wirklich der richtige Weg - Kapitulation?«
Während der baumlange Offizier mit dem schütteren Haar, ein Soldat von altem Schrot und Korn, der schon fast so lange in Uniform Dienst tat wie der Brigadegeneral selbst, noch überlegte, wie er die Frage beantworten sollte, meldete sich Lieutenant Colonel Swanson zu Wort. Der dürre junge Mann aus Cornwall war wie viele der jüngeren Offiziere erst vor wenigen Wochen als Verstärkung in der Garnison stationiert worden, zu einer Zeit also, als der Sepoy-Aufstand und die Gefahr, die er für das gesamte Empire darstellte, in der Heimat endlich Widerhall gefunden hatte. Obgleich er sich Mühe gab, die Offiziersrolle auszufüllen, war Swanson ein Mensch, dem es nach Wheelers Auffassung besser zu Gesicht gestanden hätte, daheim auf seinem Landsitz auszuharren, bis sich der Pulverdampf gelegt hatte. »Ich denke, wir sollten das Angebot der Aufständischen annehmen, Sir.«
Gemurmel erhob sich unter den versammelten Uniformierten, teils zustimmend, teils verhalten ablehnend. Neun weitere britische Offiziere waren neben Wheeler, Wallace und Swanson in der schwül-heißen Offiziersmesse versammelt. Ein Dutzend Männer, darunter nach Wheelers Einschätzung außer ihm nur fünf erfahrene Militärs, die eine Schlacht schon einmal aus erster Hand erlebt hatten, dazu drei Sesselfurzer und drei mehr oder minder wohlmeinende Grünschnäbel, die ihr Ehrgeiz oder der Einfluss ihrer Familien ausgerechnet in diesem schwülheißen Juni nach Kanpur geführt hatte - oder die schlicht das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Während die Offiziere untereinander mit zunehmend erhitzten Gemütern Swansons Einlassung diskutierten, dachte Brigadegeneral Wheeler an die turbulenten Tage und Wochen zurück, die hinter ihm lagen. Ein schwächerer Mann als Wheeler hätte sie als lebensbedrohlich apostrophiert, der schwer zu erschütternde Ire empfand sie eher als ereignisreich. Er diente seit seinem sechzehnten Lebensjahr bei den Truppen der Britischen Ostindien-Kompanie und zählte mittlerweile zu deren angesehensten Kommandooffizieren. Seit seinem Eintritt ins Militär hatte er fast ausschließlich in Indien gelebt, war seit mehreren Jahrzehnten mit einer Inderin verheiratet und mit den kulturellen Gepflogenheiten seiner Wahlheimat vertraut. Das unterschied ihn grundlegend von den zivilen Vertretern der Ostindien-Kompanie, die sich meist hauptsächlich durch ihre Verachtung für die indische Lebensweise auszeichneten.
Mit seinen nahezu siebzig Jahren hätte Wheeler längst den wohlverdienten Ruhestand genießen können, doch er liebte das Land seiner Gemahlin so sehr, dass eine Rückkehr nach Großbritannien für ihn niemals infrage gekommen war. Dasselbe galt für das Militärleben -Wheeler konnte sich eine zivile Existenz überhaupt nicht mehr vorstellen. Ausgerechnet in dieser Phase, wo seine nur wenige Jahre jüngere Frau und seine drei Töchter, allen voran die jüngste, Eliza, ihn zum Rückzug ins Private drängten und er sich ohnedies mit zahlreichen existenziellen Fragen herumschlug, hatten die indischen Sepoy ihre Meuterei angezettelt. So lautete zumindest die offizielle Bezeichnung der Generalität und der Politiker in der Heimat für das, was um sie herum geschah, doch Wheeler war genau wie viele Briten, die wie er Jahrzehnte auf dem indischen Subkontinent verbracht hatten, klar, dass es sich um viel mehr handelte, nämlich um eine nationale Revolte gegen die Kolonialmacht. Aber natürlich konnte das Empire, wenn es verharmlosend nur von einer Meuterei statt von einem regelrechten Volksaufstand sprach, leichter so tun, als sei in Indien alles in Ordnung und musste sich nicht in seinem Selbstverständnis vom integren Weltreich erschüttern lassen.
Doch es ging um nicht mehr und nicht weniger als einen Unabhängigkeitskrieg. Brigadegeneral Hugh Wheeler sah schlimme Zeiten auf das Empire zukommen.
Aktuell waren drei Armeen der Ostindien-Kompanie in Indien stationiert, eine in Bombay, eine in Madras und eine in Bengalen. Eine Viertelmillion Soldaten, von denen nur etwa vierzehntausend Europäer waren. Gleichzeitig waren allerdings verschiedene Regimenter der britischen Armee mit einer Mannstärke von etwas über dreißigtausend britischen Soldaten auf dem indischen Subkontinent stationiert. Die meisten von ihnen taten in der Region Punjab Dienst, die das Empire vor kurzem erobert hatte.
Die indischen Soldaten hatten schon mehrfach tatsächlich gemeutert, wenn Befehle ihrer britischen Offiziere dazu geführt hatten, dass sie gegen ihre religiösen Verpflichtungen hatten verstoßen müssen. Das erste Mal war es zu so etwas vor über fünfzig Jahren gekommen, als britische Offiziere indischen Soldaten das Anlegen einer Uniform befohlen hatten, bei der Teile aus Leder bestanden, obgleich das Tragen von Rindsleder für Hindus ein Sakrileg war. Außerdem hätten sie im Dienst auf das Tilaka verzichten sollen, jenen gemalten Stirnpunkt, den die Hindus als Segenszeichen genau zwischen den Augen über der Nasenwurzel trugen. Die Niederschlagung jener ersten Meuterei hatte über hundert britische Soldaten gekostet, rund dreihundertfünfzig indische Leben gefordert, und weitere neunzehn Meuterer hatte man nach der Niederschlagung des Aufstandes wegen Befehlsverweigerung hingerichtet.
Der Auslöser der aktuellen Krise, die sich von einer tatsächlichen Meuterei zu einem Flächenbrand ausgebreitet hatte, stand irrsinnigerweise ausgerechnet im Zusammenhang mit der Einführung einer neuen, modernen Waffe für die indischen Truppen, des Enfield-Gewehrs. Die mit Schwarzpulver gefüllten Papierpatronen dieses Vorderladers mussten zum Schutz gegen die hohe Luftfeuchtigkeit mit Fett imprägniert werden. Seit Januar gerüchtete sich durch die britisch-indischen Streitkräfte, das dafür verwendete Mittel sei eine Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz. Dies nun war ein schwerer Affront für Hindus wie Moslems, also Anhänger beider Religionen, denen die einheimischen Truppen des Subkontinents angehörten. Alle vertrauensbildenden Maßnahmen, mit denen die Kommandoebene versucht hatte, das Gerücht aus der Welt zu schaffen, waren ohne Wirkung geblieben, weil die befehlsverweigernden indischen Soldaten auch dem Schimmer der papiernen Patronenummantelung misstrauten, deren Glanz sie ebenfalls auf eine Behandlung mit Fett zurückführten.
Aufgrund dessen war es seit Januar in mehreren Garnisonen Ost- und Nordindiens zu Brandstiftungen in britischen Einrichtungen gekommen. Der erste Gewaltausbruch ereignete sich im März in Barrackpur: Ein Sepoy hatte zwei britische Offiziere angegriffen und schwer verletzt. Er wurde von einem Kriegsgericht zum Tod durch den Strang verurteilt.
Als im vergangenen Monat fast hundert Sepoys der Garnison in Merath eine Schießübung mit den inkriminierten Gewehren verweigert hatten, hatte der befehlshabende Offizier harsch reagiert: Wheelers Pendant hatte die Befehlsverweigerer zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und öffentlich degradiert, indem er sie auf dem Paradefeld der Garnison in Anwesenheit aller dort Stationierten hatte antreten, ihrer Uniform entledigen und in Fußfesseln legen lassen. Die Reaktion war ein offener Aufstand, bei dem die Einheimischen über fünfzig europäische Militärs, Zivilbeamte, Frauen und Kinder massakriert und die Verurteilten befreit hatten.
Innerhalb weniger Tage hatte dieser Aufstand auf Delhi übergegriffen, wo der letzte Großmogul, der über achtzigjährige Bahadur Shah Zafar II., im sogenannten Roten Fort seinen Palast hatte. Beim Einmarsch eines britischen Regiments erschossen aufständische einheimische Kavalleristen vier britische Offiziere. Als die überlebenden Offiziere den ihnen unterstellten indischen Soldaten befahlen, das Feuer zu erwidern, schossen diese lediglich in die Luft und attackierten dann stattdessen ihre britischen Vorgesetzten. Der Großmogul persönlich stellte sich an die Spitze des Aufstands. Noch am selben Tag war Delhi vollständig in den Händen der Rebellen.
Von dort aus hatte sich der Aufstand auf weite Teile Nord- und Zentralindiens ausgebreitet, unter anderem auch auf Kanpur, wo Brigadegeneral Wheeler die britische Garnison befehligte. Er hatte als Kenner des Landes und seiner Bewohner die Woge des einheimischen Widerstandes kommen sehen und sich mit den britischen Militärs, Beamten und in der Stadt ansässigen Zivilpersonen schon vor Wochen, unmittelbar nach den Geschehnissen in Delhi, in der Garnison verschanzt. Kurz nachdem er die Tore hatte schließen lassen, hatte die Belagerung der Garnison durch die aufständischen Sepoy-Soldaten von Kanpur unter dem Oberbefehl Nana Sahibs, des Sohns eines Brahmanen vom Dekkan und Adoptivsohn des letzten Peshwa der Marathen, wie dieses Volk aus der Gegend um Goa seine Herrscher nannte. Als der Peshwa, ein Mann namens Baji Rao II., sechs Jahre zuvor gestorben war, hatte die Ostindien-Kompanie sich geweigert, Nana Sahib zu alimentieren, weil er zwar der rechtmäßige Erbe des verstorbenen...
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