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Prolog
London, Vereinigtes Königreich, 11. Februar 1831
Die Nacht lag wie ein undurchdringlicher Schleier über London, als vier Männer in Mayfair eine Droschke bestiegen und sich auf den Weg ins East End machten. Alle vier trugen Abendgarderobe in Schwarz, Zylinder und Operncapes, und alle vier führten makellose, ausschließlich zur Zierde dienende Gehstöcke aus edlen Tropenhölzern mit ziselierten Messing- oder Silbergriffen bei sich.
Der Besitzer der Kutsche, aus dessen palastartigem Haus die vier in die Nacht getreten waren, um zu ihrem lange verabredeten Ziel aufzubrechen, war der Architekt, eine imposante Erscheinung von beeindruckender Statur und außergewöhnlicher Intelligenz. Hätte er nicht feinste Glacéhandschuhe getragen, man hätte gesehen, dass seine Hände von Jahren harter Arbeit gezeichnet waren. Sein Blick barg das Wissen um die höchsten Weihen der Baukunst und die tiefen Geheimnisse der Brückenkonstruktion. Er war der Hüter der Vision, der die London Bridge aus dem Nichts erschaffen hatte und darauf bedacht war, ihr eine Bedeutung zu verleihen, die weit über eine bloße Verbindung zwischen den beiden Ufern der Themse hinausging.
An seiner Seite saß in Fahrtrichtung der Ingenieur, der bei dem gesamten Unterfangen des Quartetts, das in dieser Nacht seinen Höhepunkt finden sollte, ein stummer Beobachter von eisernem Willen gewesen war. Am Revers trug er eine Goldbrosche, die Zirkel und Lineal darstellte. Seine Gedanken waren stets bei den Kräften, die auf die Steine einwirkten, und den geometrischen Formen, die sie zusammenhielten. Doch auch er wusste um das düstere Geheimnis dieser Kutschfahrt und hatte den Plan der vier in den letzten Wochen und Monaten unaufhaltsam vorangetrieben, ebenso rücksichtslos und zielstrebig wie den Brückenbau. Er war der Meister der Loge, und von ihm stammte die Idee für den Plan, dessen letzte Phase umzusetzen die vier Ehrenmänner im Begriff waren.
Ihnen gegenüber saß der Landvermesser, ein Mann von ruhigem Gemüt und scharfem Blick. Sein Theodolit hatte die exakten Winkel gemessen, die den Bogen der Brücke formten, und seine Kenntnisse über die unsichtbaren Linien des Grundrisses der Brücke, die in den nächsten Tagen eröffnet werden würde, waren unübertroffen. Als einziger der vier war er in dieser Nacht nicht frei von Zweifeln und Ängsten.
Dann war da noch der Bankier, ein Mann der Zahlen und der Geschäfte, der mit seinem Geschick im Umgang mit allem Monetären und den Finanzressourcen der Krone den Bau der Brücke finanziert hatte. Doch seine Beteiligung am Bau der Brücke ging weit über finanzielle Angelegenheiten hinaus. Die Freimaurer hatten ihn schon vor Jahren in ihre Reihen aufgenommen, und er hatte wie die drei anderen den Schwur geleistet, das Geheimnis zu hüten, das die vier Männer in der Kutsche miteinander verband.
Sie waren so kurz vor dem Ziel. Es fehlte nur der letzte Schritt. In dieser Nacht würden sie ihn gehen.
***
Ein Haus in Shoreditch war in jener Nacht das Ziel der eleganten Kutsche. Shoreditch war ein Viertel nordöstlich des Zentrums von London, in dem zumeist hart arbeitende Menschen in heruntergekommenen Gebäuden lebten, in dessen südwestlichem Zipfel man allerdings einige Bauten renoviert hatte, die nunmehr Familien als Behausung dienten, deren Ernährer ein einträglicheres Salär nach Hause brachten. Die vier Männer stiegen vor einem ebenjener Häuser aus, und der Architekt befahl seinem treuen Kutscher halblaut zu warten. Nach insistentem Hämmern gegen die Tür trat aus dem Schatten, die die Front des schmalen Hauses auf die Brick Lane warf, eine Gestalt hervor - Benjamin Thorne. Thorne, der mit seiner hochschwangeren Frau Win hier lebte, war seit Anfang der Konstruktionsarbeiten 1827 Bauleiter der neuen, aus fünf steinernen Bögen bestehenden London Bridge.
Er entstammte einer Familie von Handwerkern mit einem gerüttelt Maß an Organisationstalent. Seine Vorfahren waren Schiffsbauer und Werftmeister in den Docks entlang der Themse gewesen, wo sie den Bau von Überseefrachtern beaufsichtigten. Thorne war ein Mann von robustem Äußeren und eindrucksvoller Erscheinung. Seine Gestalt verriet die Kraft und Ausdauer eines Mannes, der sein Leben dem Arbeitsalltag auf Baustellen gewidmet hatte. In seinem wettergegerbten Gesicht zeichneten sich feine Linien ab, die von Jahren harter Arbeit und unermüdlichen Einsatzes zeugten. Seine Augen, die tief unter buschigen Brauen lagen, strahlten eine Mischung aus Entschlossenheit und Überlegenheit aus, und sein Blick verriet die Intelligenz und das strategische Denken, die ihn zu einem geschätzten Baufachmann machten, obgleich er aus bescheidenen Verhältnissen stammte.
Seine Kleidung war üblicherweise schlicht und aus derbem Stoff, passend für einen Mann, der den größten Teil seiner Zeit auf Baustellen verbrachte. Doch trotz seiner schlichten Erscheinung strahlte er bei der Arbeit eine Aura von Autorität und Selbstsicherheit aus, die ihm Respekt und Anerkennung einbrachte. Benjamin Thorne war ein Mann der Tat, der keine Mühen scheute, um Projekte, die man in seine Hände gelegt hatte, zum Erfolg zu führen. Sein Ruf als zuverlässiger, kompetenter Fachmann war weit über die Grenzen von London hinaus bekannt, und sein Name stand für Qualität und Präzision.
Doch zu dieser späten Stunde war er bereits im Nachthemd, über das er rasch einen reichlich fadenscheinigen Hausmantel geworfen hatte, und seine Miene war gezeichnet von Verwirrung, als er die vier Männer vor seiner Haustür sah. Alle vier gehörten zur oberen Gesellschaftsschicht der Stadt und hatten um diese Uhrzeit ganz sicher nichts in Hackney zu tun. »Was führt Sie hierher, meine Herren? Was bringt Sie zu so später Stunde an meine Schwelle?«, fragte er mit bebender Stimme, während er das Gefühl hatte, dass alle vier ihn unverwandt von Kopf bis Fuß musterten.
Er hatte während der gesamten Bauphase, sieben Jahre lang, sicherlich tausend Ungerechtigkeiten von diesen vier Männern erlitten. Doch er hatte sie mit Gleichmut ertragen und kein einziges Mal, nicht einmal seinem treuen Weib gegenüber, eine Drohung gegen einen der Herren ausgestoßen. Das hatte zweierlei Gründe: Zum einen war Benjamin Thorne ein gläubiger Christ, der in der Überzeugung erzogen worden war, dass Gott, der Herr, jeden Menschen dorthin stellte, wo er hingehörte, und zum anderen bewunderte er die vier. Es war auf der Brückenbaustelle ein offenes Geheimnis, dass die Männer, die nun da mitten in der Nacht im Londoner Nebel vor seiner Tür standen, nicht nur Mitglieder der obersten Gesellschaftsschicht der Hauptstadt waren, sondern auch führende Mitglieder der Londoner Freimaurerei. Er selbst war ein glühender Bewunderer dieses »Bundes freier Menschen«, wie die Mitglieder sich selbst nannten, und wünschte sich (vielleicht einmal abgesehen von Gesundheit für sein erstes Kind, das in wenigen Wochen das Licht der Welt erblicken sollte ) nichts im Leben sehnlicher, als eines Tages selbst zu ihren Reihen zu gehören. Tatsächlich hatte Thorne gegenüber Ebenezer McCubbin, dem Bauingenieur, der von allen vieren am wenigsten einen Hehl daraus machte, der Freimaurerei anzuhängen, im Laufe der letzten sieben Jahre mehrfach schüchterne Andeutungen in diese Richtung gemacht, die dieser aber jeweils entweder gänzlich ignoriert oder mit einem blasierten Lächeln abgetan hatte.
»Dies ist Ihre große Nacht«, sagte der Ingenieur nur.
»Sie meinen .?«, fragte Thorne atemlos.
»Keine Fragen. Kommen Sie«, sagte McCubbin.
»Aber ziehen Sie sich vorher noch etwas an«, ergänzte der Landvermesser mit einem Anflug von Humor.
»Bitte warten Sie draußen, meine Herren, ich werde sofort bei Ihnen sein«, versicherte der robuste Mann seinen vier Gästen. »Ich muss Sie bitten, leise zu sein, Win geht es nicht besonders, und ich möchte sie auf keinen Fall wecken.«
Wenig später rumpelten sie zu fünft, eine Zahl, für die die Kutsche des Architekten nicht mehr bequem ausgelegt war, durch die Nacht in Richtung Fluss. Mehrfach versuchte der Bauleiter zu erfragen, was denn seiner harre, doch seine vier Begleiter schwiegen hartnäckig, bis die Kutsche zum Stehen kam, sie ausstiegen und ihn aufforderten, es ihnen gleich zu tun - und da war sie: die London Bridge.
Sie führten ihn aus dem Licht der Fackeln, die auch bei Nacht die Baustelle der nahezu fertiggestellten Brücke erhellte - auch wenn dieses nur als verwaschene Lichtflecken durch den Nebel drang - die schlammig-steinige Böschung hinab in die finsteren Schatten der Nacht und zum zweiten Brückenbogen, der knapp am Wasser stand.
Die London Bridge, die an dieser Stelle die Themse überspannte, verband die City of London am Nordufer mit dem Stadtteil Southwark im gleichnamigen Stadtbezirk auf der Südseite des Flusses. Drüben am südlichen Ufer ragte die schwarze Silhouette der Southwark Cathedral aus dem Nebel auf, und unweit davon, so wusste Thorne, befand sich die Großbaustelle des nach der Brücke benannten Bahnhofs. Hier am nördlichen Ufer erhob sich ganz in der Nähe das Monument des Großen Brandes von London 1666.
Nahezu an derselben Stelle existierte seit bald zweitausend Jahren eine Brücke über die Themse. Sie ging auf die Zeit der römischen Besatzung zurück und war im Laufe der Jahrhunderte mehrfach niedergebrannt, bis der für ihren Unterhalt zuständige Geistliche Peter de Colechurch nach einer weiteren Zerstörung im Jahre 1136 vorgeschlagen hatte, die Holzbrücke durch eine dauerhaftere Konstruktion aus Stein zu ersetzen. Man setzte seine Idee in die Tat um, und die geringe Größe...
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