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Vor Kurzem war ich in Berlin zu einer Art Klassentreffen führender Journalistinnen und Politiker eingeladen. Einer der regierenden Politiker Deutschlands (und sicherlich einer der besten Rhetoriker) sprach in kleiner Runde davon, dass wir den Menschen die Schwierigkeit der momentanen Lage nicht verschweigen dürfen. Und dass wir auch nicht immer gleich Antworten vorgeben müssen, sondern die Herausforderungen ernst nehmen. Er wollte ehrlich sein und im Gegensatz zu den Populisten nicht mit einfachen Antworten werben. Aber weder er noch die anwesenden Journalisten sprachen darüber, wie Deutschland aussehen könnte, wenn neue, gute Lösungen für die momentanen Probleme gefunden würden. Die Stimmung im Raum war schwer, die Frage, wofür wir uns eigentlich anstrengen sollen, wohin es gehen kann, blieb bezeichnend unbeantwortet. Ich musste an ein Gespräch mit Mitgliedern der «brand eins»-Redaktion denken und an den Vergleich mit Deutschland in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch damals hatte das Land viele Schwierigkeiten, aber auch verschiedenste Utopien - Überzeugungen, wie eine gute Zukunft aussehen könnte, über die gestritten wurde. Heute sind wir wieder in einer Zeit großer Herausforderungen. Aber uns fehlen zu oft die Ideen, wie es morgen sein könnte. Allen Krisen gemeinsam ist, dass eine verklärte Vergangenheit auf ein unklares Zukunftsbild trifft. Wir stecken gefühlt im Niemandsland fest und wissen weder zurück noch vorwärts.
Es ist erstaunlich, wie viele Menschen ein neues, positives Bild der Vergangenheit entwickeln. Nostalgie ist in. Von der Wissenschaft bis zum Pop beziehen sich immer Betrachtungen auf das, was war. Die britisch-albanische Sängerin Dua Lipa schrieb 2020 mit Future Nostalgia eines der Hit-Alben der Pandemie. Der Wissenschaftler Tobias Becker beschreibt in seinem 2023 erschienenen Buch Yesterday sehr unterhaltsam die Geschichte des Begriffs. Der Mediziner Johannes Hofer benannte im späten 17. Jahrhundert mit Heimweh (nostos) und Schmerz (algos) eine Art pathologisches Heimweh. Heute wird Nostalgie oft als sentimentaler Schmerz über den Verlust der Vergangenheit beschrieben. Teil des öffentlichen Diskurses wurde sie vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das Buch und den Film Future Shock. Der Futurist Alvin Toffler definierte im Jahr 1970 einen future shock als Krankheit, «ausgelöst durch immer schneller werdende Veränderungen heutzutage». Klingt nach einer passenden Beschreibung für das Seelenleben vieler im Jahr 2024, oder? Überall um uns herum fordern Menschen eine Rückkehr zu alten Tugenden, nennen Politiker Deutschland wieder den kranken Mann Europas. Nostalgie, so schreibt Tobias Becker über Toffler in seinem Buch, beschreibt die Müdigkeit mit der Menge und Schnelligkeit von Veränderungen. Wenn ich auf die momentane Diskussion blicke, lässt sich die Abkehr von der Idee des Fortschritts beschreiben:
Erstens, als Reaktion auf tatsächlich stattfindenden Fortschritt. Weil wir es mit großen Herausforderungen zu tun haben, ist so ziemlich alles in Bewegung. Einige Lösungen verändern merklich etwas, erzielen auch positive Ergebnisse. Das internationale Umweltabkommen, das seit Ende der achtziger Jahre wieder zur Regeneration der Ozonschicht führt, zum Beispiel. Aber Veränderung ist nicht immer lustig, wir Menschen müssen uns mit ihr verändern, unser Verhalten anpassen. Und es gibt auch immer wieder Verlierer. Ein großer Teil der Rufe nach der guten alten Zeit kann deshalb als Reaktion auf vorangetriebene Veränderungen verstanden werden, die unser Leben immer stärker beeinflussen. Antworten auf die Klimakrise, die Energie- und Mobilitätswende, Wandel der Arbeit und Industrie, Unsicherheit in Europa. Nostalgie entsteht hier als Gegenbewegung zu schnellen Veränderungen, selbst wenn sie notwendig sind.
Zweitens, als Zeichen von Überforderung. Gerade in besonders offenen, liberalen Gesellschaften müssen unterschiedliche Meinungen zu Veränderungen immer wieder neu ausgehandelt werden. Egal ob es um das Recht auf Abtreibung, den Wohlfahrtsstaat oder unser Steuersystem geht. Veränderung muss selbst bei den Themen immer wieder neu verhandelt werden, bei denen der Nutzen für Einzelne, die Gesellschaft und den Planeten offensichtlich erscheint. Die offene Gesellschaft ist nicht immer ihr bester eigener Freund.
Drittens, als Reaktion auf neue Herausforderungen. In unserer heutigen Zeit gibt es große, komplexe Herausforderungen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Selbst wenn einen der Klimawandel auf der Skipiste, im vertrockneten Garten oder durch den Wassermangel im Spanienurlaub sprichwörtlich anspringt, verschließen wir bisweilen lieber die Augen oder suchen uns alternative Wahrheiten aus. Die Menge an großen Herausforderungen, die unsere Art zu leben infrage stellen, ist vermutlich entscheidend dafür, dass sich in den Nachkriegsgenerationen viele zurücksehnen nach einem Leben, das einfacher erschien.
Aber heißt das nun, wir können unsere Probleme lösen, wenn wir nur alle mitnehmen in eine Zukunft, in der auch sie ihre Rolle finden? So einfach ist es leider nicht.
Tobias Becker beschreibt in seinem Buch eindringlich, dass wir oft die als Nostalgiker brandmarken, die nur nicht unseren eigenen Fortschrittsgedanken teilen. Und hier liegt ein bisschen die Krux. Denn der Fortschritt steckt in der Krise - und zwar nicht nur aufgrund der Anfeindungen am rechten Rand oder durch reaktionäre Kräfte. Wir wissen oft nicht mehr, welche Art von Fortschritt wir eigentlich wollen oder wollen sollen. Ich arbeite und reise rund um die Welt, auch in Zeiten von und nach Covid. Und ich nehme größer werdende Unterschiede wahr - nicht nur zwischen den auseinanderklaffenden Kontinenten, sondern auch innerhalb von Ländern, zwischen Generationen. Grob lassen sich drei Arten von Fortschrittsgedanken identifizieren:
Der erste hat seinen Ursprung im Fall der Mauer, dem Ende des Kalten Krieges. Damals wurde das Ende der Geschichte gefeiert - jetzt geht es darum, diesen Fortschritt aufrechtzuerhalten und auf der Welt zu verteilen! Ja, wir müssen uns um den Klimawandel kümmern, um den Krieg, die soziale Ungerechtigkeit. Aber wir müssen vor allem unsere existierenden Systeme gesund halten. Wirtschaftswachstum, Rendite an den Börsen, genügend Lehrerinnen in den Schulen, Pflegerinnen in den Krankenhäusern. Kurzfristige Ziele verdrängen oft große disruptive Gedanken. Die schwarze Null ist der Erfolg, den es zu verteidigen gilt. Aber auch überhaupt erst einmal einen Job zu bekommen, der erste in der Familie zu sein, der zur Schule oder Universität geht. Und in vielen Ländern geht es darum, Volkswirtschaften zu kreieren, die zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit von Kolonialmächten und nach Jahren der Volatilität eine wachsende Mittelschicht schaffen.
Besonders bei jüngeren Menschen in Europa und zum Teil den USA existieren ganz andere Gedanken zum Fortschritt. Fortschritt kann hier degrowth bedeuten, die Einführung eines anderen Wirtschaftssystems, die Lokalisierung von Produktionsketten, die Reduzierung der Arbeit auf 80 Prozent oder weniger und die Minimierung des Konsums. Recycling, Kreislaufwirtschaft und Verantwortungseigentum statt Überproduktion und Börsenkrisen. Ein Anfang Zwanzigjähriger sagte mir vor Kurzem: «Ihr lebt, um zu arbeiten, wir arbeiten so viel wie nötig, um zu leben.»
Eine dritte Idee von Fortschritt ist besonders dort zu finden, wo die Probleme vor Ort mit Unternehmertum zusammentreffen. Dann wird klar, dass es vieler Innovationen und Lösungen bedarf, um die massiven Probleme unserer Zeit zu lösen. Und dass dies ohne große Anstrengung, harte Arbeit, Wachstum und Kapital nicht funktionieren wird. Sozialer Fortschritt und Klimakatastrophe können nicht getrennt betrachtet werden. Der Weltbank-Chef Ajay Banga sprach im Jahr seines Amtsantrittes 2023 eindringlich darüber, dass globale Armut und Klimawandel miteinander verflochten sind und nur gemeinsam gelöst werden können: «Wenn du keine saubere Luft zum Atmen hast und kein sauberes Wasser zum Trinken, dann hilft es auch nicht, die Armut zu beseitigen.» Bei dieser Idee von Fortschritt geht es darum, all die neuen Ideen und Erfindungen einzusetzen: Kreislaufwirtschaft, lokale Wirtschaft, globale Plattformen, die Bildung ermöglichen. Aber im System von Wertschöpfung, Kapitalerträgen und Profit.
Und nun? Bleiben wir einfach im Niemandsland stecken? Der Blick zurück bringt uns nicht weiter. Aber solange wir uns nicht einigen können, welche Art Fortschritt wir wollen, so scheint es, kommen wir auch nicht voran. Über die vergangenen zehn Jahre habe ich die Überzeugung entwickelt, dass es nicht die eine Antwort, den einen Ausweg aus dieser Zwickmühle gibt. Keine Grand Theory. Sondern eine Zukunft, die auf den vielen kleinen Handlungen von Menschen beruht, die sich befähigt fühlen, mit unserer Zeit positiv umzugehen. Menschen, die eine Reihe von Kompetenzen und Haltungen vereint. Ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft entsteht durch das Anwenden, das Handeln auf der Basis von Fähigkeiten, die uns ermöglichen, mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen. Besser noch: In ihr eine positive Rolle zu spielen, für uns selbst und andere.
Um genau diese Fähigkeiten geht es in diesem Buch. Damit wir mitgestalten können. Uns in Probleme verlieben. Geschichten erzählen, die uns helfen, Perspektiven zu wechseln. Uns unsere Unbeschwertheit zu bewahren - und vielleicht sogar in zwei...
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