Schweitzer Fachinformationen
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Seit über zweihundert Jahren wurden die Owens-Frauen für alles Schlechte verantwortlich gemacht, das in der Stadt geschah. Wenn es einen feuchten Frühling gab, wenn bei den Kühen auf der Weide Blut in der Milch war, wenn ein Fohlen an einer Kolik starb oder ein Baby mit einem roten Muttermal auf der Wange zur Welt kam - stets glaubte jeder, diese Frauen in der Magnolia Street müssten zumindest ein wenig am Schicksal gedreht haben. Es war ganz gleich, welches Unglück eintrat - ob der Blitz einschlug, Heuschrecken kamen oder jemand ertrank. Es spielte auch keine Rolle, ob sich die Situation durch Logik, Wissenschaft oder schlichtes Pech erklären ließ. Beim kleinsten Anzeichen von Problemen oder einem Hauch von Unbill zeigten die Leute mit dem Finger auf die Owens und gaben ihnen die Schuld. Bald hatten sie sich eingeredet, im Dunkeln sei es in der Nähe des Owens-Hauses gefährlich, und nur besonders dumme Nachbarn wagten es, über den schwarzen schmiedeeisernen Zaun zu spähen, der den Garten wie eine Schlange umgab.
Im Haus gab es weder Uhren noch Spiegel, aber drei Schlösser an jeder Tür. Unter den Dielen und in den Wänden lebten Mäuse, oft fand man sie auch in den Kommoden, wo sie an bestickten Tischtüchern und den Spitzenrändern von leinenen Platzsets knabberten. Fünfzehn verschiedene Holzsorten waren für die Fenstersitzbänke und Kaminumfassungen verarbeitet worden, darunter Goldeiche, Silberesche und besonderes Kirschholz, das nach reifen Früchten duftete, selbst mitten im Winter, wenn die Bäume draußen kahl und schwarz waren. Wie staubig es auch sonst im Haus sein mochte, das Holz musste nie poliert werden. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man in der Vertäfelung im Esszimmer oder in dem Geländer, an dem man sich auf dem Weg die Treppe hinauf festhielt, sein Spiegelbild sehen. In den Zimmern war es dunkel, selbst mittags, und im heißesten Juli noch kühl. Wer sich auf die Veranda wagte, wo der Efeu üppig rankte, hätte stundenlang versuchen können, durch die Fenster zu spähen, er hätte nichts erkannt. Beim Blick nach draußen war es genauso, die grünlichen Fensterscheiben waren so alt und so dick, dass alles auf der anderen Seite wie ein Traum erschien, auch der Himmel und die Bäume.
Oben auf dem Dachboden wohnten zwei kleine Mädchen, Schwestern, von denen eine nur dreizehn Monate älter war als die andere. Sie wurden nie vor Mitternacht ins Bett geschickt oder daran erinnert, dass sie sich die Zähne putzen sollten. Es störte niemanden, wenn sie zerknitterte Kleider trugen oder auf die Straße spuckten. Und während die kleinen Mädchen aufwuchsen, durften sie ihre Schuhe im Bett anbehalten und in ihrem Zimmer mit schwarzen Stiften lustige Gesichter an die Wände malen. Sie durften zum Frühstück Dr Pepper trinken, wenn ihnen der Sinn danach stand, oder zum Abendessen Marshmallowkuchen essen. Sie durften aufs Schieferdach klettern, sich auf den First setzen und ganz weit zurücklehnen, um den ersten Stern zu erspähen. Dort oben verbrachten sie windige Märznächte und schwüle Augustabende, tuschelten miteinander und diskutierten darüber, ob wenigstens ganz kleine Wünsche einmal wahr werden konnten.
Die Mädchen wurden von ihren Tanten großgezogen, die ihre Nichten nicht fortschicken konnten, auch wenn sie es vielleicht gewollt hätten. Immerhin waren die Kinder Waisen, deren leichtsinnige, verliebte Eltern sie mit einer Babysitterin zu Hause gelassen hatten, um ihre zweiten Flitterwochen zu genießen, und nicht bemerkt hatten, dass in ihren Bungalow nach einem Blitzschlag Rauch gedrungen war. Kein Wunder, dass die Schwestern bei Gewittern immer zusammen in einem Bett schliefen; beide hatten furchtbare Angst vor dem Donner und brachten nicht mehr als ein Flüstern heraus, wenn der Himmel grollte. Wenn sie dann eng umschlungen irgendwann einschliefen, hatten sie oft denselben Traum. Manchmal konnten sie die Sätze der anderen beenden, und wenn sie die Augen schlossen, errieten sie mühelos, welchen Nachtisch sich die Schwester am meisten wünschte.
So nah sich die beiden standen, so unterschiedlich waren sie in ihrem Aussehen und Temperament. Abgesehen von den schönen grauen Augen der Owens-Frauen ließ nichts darauf schließen, dass die Mädchen miteinander verwandt waren. Gillian war blond, während Sallys Haare so schwarz waren wie das Fell der ungezogenen Katzen, denen die Tanten erlaubten, durch den Garten zu schleichen und ihre Krallen an den Vorhängen im Wohnzimmer zu wetzen. Gillian war faul und verschlief gern den ganzen Vormittag. Sie sparte ihr Taschengeld und bezahlte dann Sally dafür, Gillians Mathehausaufgaben zu machen und ihre Partykleider zu bügeln. Sie trank flaschenweise den Schokodrink Yoohoo und aß klebrige Hershey-Schokoriegel, während sie auf dem kühlen Kellerboden lag und Sally dabei zusah, wie sie die Metallregale abstaubte, in denen ihre Tanten Eingelegtes und Marmeladen aufbewahrten. Doch nichts tat Gillian lieber, als auf den Samtkissen der Fenstersitzbank oben auf dem Treppenabsatz zu liegen, wo in einer Ecke neben den Damastvorhängen ein Porträt von Maria Owens, die das Haus vor langer Zeit gebaut hatte, Staub ansetzte. Dort konnte man sie an Sommernachmittagen finden, so entspannt und träge, dass Motten auf ihr landeten, weil sie Gillian für ein Kissen hielten.
Sally war dreihundertsiebenundneunzig Tage älter als ihre Schwester und so gewissenhaft, wie Gillian müßig war. Sie glaubte nichts, was sich nicht mit Zahlen und Fakten belegen ließ. Wenn Gillian auf eine Sternschnuppe deutete, erinnerte Sally sie daran, dass dort nur ein alter Gesteinsbrocken Richtung Erde fiel und beim Sturz durch die Atmosphäre heiß wurde. Sally hatte schon immer gern den Stier bei den Hörnern gepackt; sie konnte ungeregelte Verhältnisse und Unordnung nicht leiden, dabei war das alte Haus ihrer Tanten in der Magnolia Street vom Dachboden bis zum Keller voll davon.
Als sie die dritte und Gillian die zweite Klasse besuchte, schmuggelte Sally das Kochbuch Joy of Cooking ins Haus und fing an, nach Rezepten daraus gesunde Mahlzeiten zuzubereiten, Gerichte wie Hackbraten, frische grüne Bohnen und Gerstensuppe. Jeden Morgen füllte sie Gillians und ihre Brotdosen mit Vollkornsandwiches mit Truthahn und Tomate, Möhrenstiften und Haferkeksen mit Zuckerguss. All das warf Gillian sofort in den Müll, wenn Sally sie in ihrem Klassenzimmer abgeliefert hatte, weil sie lieber die Burger mit Hackfleischsauce und die Brownies aß, die in der Cafeteria verkauft wurden, und sie oft genug das Kleingeld aus den Manteltaschen ihrer Tanten mopste, um sich holen zu können, was sie wollte.
Tag und Nacht, so nannten die Tanten sie, und obwohl die Mädchen über den kleinen Scherz nicht lachten und ihn kein bisschen witzig fanden, erkannten sie doch seinen wahren Kern. Sie verstanden früher als die meisten Schwestern, dass der Mond immer auf die Hitze des Tages neidisch ist, während sich die Sonne nach etwas Dunklem, Verborgenem sehnt. Sie bewahrten die Geheimnisse der anderen; mit der Hand auf dem Herzen schworen sie, die andere nie zu verraten, nicht einmal, wenn es um harmlose Dinge ging. Wenn etwa eine der Schwestern eine Katze am Schwanz gezogen oder aus dem Garten der Tanten Fingerhut gestohlen hatte.
Vielleicht hätten sich die Mädchen wegen ihrer Unterschiede früher oder später in die Haare bekommen, vielleicht wären sie gemein geworden und hätten sich auseinandergelebt, wenn sie Freunde gefunden hätten, aber sie wurden von den anderen Kindern in der Stadt gemieden. Niemand traute sich, mit den Schwestern zu spielen, und die meisten Mädchen und Jungen kreuzten die Finger, wenn Sally und Gillian in ihre Nähe kamen, als könnte sie das schützen. Ein paar besonders mutige und abenteuerlustige Jungen folgten den Schwestern auf dem Weg zur Schule, gerade im richtigen Abstand, damit sie im Notfall weglaufen konnten. Diese Jungen warfen gern Winteräpfel oder Steine nach den Mädchen, aber selbst die besten Sportler, die Stars ihrer Baseballmannschaften, landeten bei den Owens-Mädchen keinen einzigen Treffer. Jeder Stein und jeder Apfel fiel vor den Füßen der Schwestern zu Boden.
Für Sally und Gillian reihte sich im Alltag eine kleine Demütigung an die andere: Kein Kind fasste einen Bleistift oder Buntstift an, den kurz zuvor ein Owens-Mädchen berührt hatte. In der Cafeteria oder bei Schulversammlungen setzte sich niemand neben sie, und wenn die anderen Mädchen den Waschraum betraten, um die Toilette zu benutzen, zu tratschen oder sich die Haare zu kämmen, und dabei unerwartet auf eine der Schwestern stießen, kreischten manche von ihnen sogar laut auf. Wenn im Sportunterricht Mannschaften aufgestellt wurden, wählte niemand Sally oder Gillian, obwohl Gillian schneller lief als alle anderen in der Stadt und einen Baseball übers Dach der Schule bis zur Endicott Street schlagen konnte. Sie wurden nie zu Partys oder Treffen der Pfadfinderinnen eingeladen, und niemand fragte, ob sie Himmel und Hölle spielen oder auf einen Baum klettern wollten.
»Die können uns alle mal«, sagte Gillian und reckte ihr hübsches Näschen hoch in die Luft, wenn sie auf dem Weg zum Musik- oder Kunstunterricht an Jungen vorbeikamen, die unheimliche Koboldgeräusche von sich gaben. »Die sollen Dreck fressen. Warte ab. Irgendwann betteln sie uns an, dass wir sie nach Hause einladen, und dann lachen wir sie nur aus.«
Wenn Gillian besonders gemein aufgelegt war, drehte sie sich manchmal abrupt um und rief: »Buh«, und dann pinkelte sich immer einer der Jungen in die Hose und war viel tiefer gedemütigt als Gillian. Sally dagegen brachte solche kleinen Racheaktionen...
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