Schweitzer Fachinformationen
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Solange ich denken konnte, hatte ich die Sonntagvormittage bei unserer Nachbarin verbracht, einer älteren Dame, Mrs Gertrude Odell. Um acht Uhr ging ich hinunter in die Küche und wartete darauf, dass bei ihr das Licht auf der Veranda anging; das war ihr Signal, dass sie bereit war, mich zu empfangen. Sobald das Licht anging, rannte ich zur Tür hinaus, durch den Vorgarten und die Hintertreppe ihres kleinen Backsteinhauses hinauf. Sie begrüßte mich immer mit einem Lächeln, das dünne weiße Haar auf klitzekleine Lockenwickler gedreht, noch im Nachthemd und einem geblümten Morgenmantel, der an den Ärmeln ausgefranst war.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte sie, wenn ich in ihre Küche trat. »Da wird dieser herrliche Tag gleich noch schöner.«
Ob die Sonne schien oder es regnete, selbst wenn nachts ein halber Meter Schnee gefallen war, für Mrs Odell war jeder Tag schön. Ich glaube, sie war einfach froh, über der Erde aufgewacht zu sein.
Mrs Odell lebte allein. Sie hatte einmal einen Mann gehabt, aber er war schon lange tot. Wir halfen einander oft: Sie machte mir morgens immer ein Schulbrot, und ich half ihr im Garten Unkraut jäten und schwere Sachen tragen.
Unsere Sonntagsfrühstücke waren mir das Allerliebste auf der ganzen Welt. Ich holte das Besteck heraus und deckte den weißen, emaillierten Tisch neben dem Küchenfenster, während sie mit ihren abgetragenen Omaschuhen mit unterschiedlichen Schnürsenkeln auf dem grünen Linoleum herumschlurfte und einen ganzen Stapel Pfannkuchen buk. Dann setzten wir uns und schmausten festlich, während im Radio ein Gottesdienst übertragen wurde. Mrs Odell liebte Chorgesang, deswegen machte sie es immer rechtzeitig an, damit wir nichts verpassten. Meistens erwischten wir noch das Ende der Predigt, die von einem verärgert klingenden Prediger gehalten wurde. Es klang immer, als würde er seine Zuhörer mit erhobenem Zeigefinger ausschimpfen.
Eines Sonntags, ich leckte mir gerade Ahornsirup von den Fingern, fragte ich Mrs Odell: »Warum ist der Prediger so wütend? Er klingt immer so böse.«
Sie trank einen Schluck Tee und dachte kurz nach. »Jetzt, wo du es sagst - stimmt, er klingt ein bisschen griesgrämig. Vielleicht hat er keine Lust mehr, den Leuten dauernd zu sagen, sie sollen nett zueinander sein.«
»Sind alle Priester so griesgrämig?«, fragte ich und biss von meinem Pfannkuchen ab.
Mrs Odell kicherte. »Wahrscheinlich nicht alle, aber ich glaube, viele predigen mit etwas zu viel Nachdruck.«
»Was ich nicht verstehe, ist, warum die Leute sich schick machen und in die Kirche gehen, bloß um sich ausschimpfen zu lassen. Da kann man doch besser gleich zu Hause bleiben, im Schlafanzug Pfannkuchen essen und sich übers Radio anschreien lassen.«
Mrs Odell lachte Tränen. Aber ich hatte das ganz ernst gemeint.
Am folgenden Freitag hörte ich auf dem Heimweg von der Schule ein lautes Tock-Tock-Tock hinter den Bäumen. Vor der Kirche schlug ein Mann ein Schild in den Boden, das ein Wohltätigkeitsfest ankündigte. Unten auf dem Schild stand in leuchtend roten Buchstaben Feiern Sie mit - Alle sind eingeladen! Als ich zu Hause ankam, hatte ich bereits fest beschlossen, am Samstagvormittag hinzugehen und mir selbst ein Bild zu machen, was es mit diesem Kirchendings auf sich hatte.
Bevor ich am nächsten Morgen aus dem Haus ging, setzte ich eine alte Sonnenbrille auf und wickelte mir ein Tuch um den Kopf. Dank Mommas Aussetzern sahen mich inzwischen sogar die Erwachsenen in unserer Stadt mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid an, deswegen verkleidete ich mich immer ein bisschen, wenn ich in die Stadt ging.
Das Fest brummte bereits, und ich schlüpfte in den Schatten der Bäume, um es mir anzusehen. Mein erster Eindruck war, dass Kuchen die Leute sehr viel eher dazu bringt, freundlich zueinander zu sein, als ein schimpfender Prediger. Tatsächlich wurde an den Kuchenverkaufstischen mehr gelächelt als ich es je irgendwo gesehen hatte. Sogar die übellaunigsten, finstersten Männer der Stadt wirkten ganz zufrieden und grinsten wie die Honigkuchenpferde angesichts der langen Tische mit Plätzchen, Kuchen und Strudeln. Sogar Mr Krick, der Inhaber des Eisenwarenladens und muffeligste Mensch der Welt, nahm sich ein Stück Kuchen. Unter dem aufmerksamen Blick einer kleinen, grauhaarigen Frau hielt er es sich unter die Nase und atmete den Duft ein.
»Ida Mae«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen, »da haben Sie ein Meisterwerk geschaffen. Dieses Holundertörtchen hat der Herrgott selbst gesegnet. Das nehme ich.«
Ida Mae errötete und packte das Törtchen in eine Schachtel.
»Und machen Sie sich keine Sorgen wegen dem kaputten Schnapper an Ihrer Fliegentür«, sagte Mr Krick plötzlich fröhlich. »Ich komme morgen mal vorbei und bringe das in Ordnung.« Er reichte Ida Mae einen Fünfdollarschein, sagte ihr, sie könne den Rest behalten, und verschwand in der Menge.
Ich merkte mir, dass ich, wenn ich je die Hilfe eines Mannes benötigen sollte, ihm einen Kuchen backen würde. Ich überlegte, ob das der Grund war, warum mein Dad kaum noch nach Hause kam. Soweit ich wusste, hatte Momma ihm noch nie einen Kuchen gebacken.
Hinter den Gebäcktischen gab es eine Reihe von Spielbuden, aber da traute ich mich nicht hin, weil ein paar Kinder aus meiner Schule dort waren. Ich schaute ihnen aus sicherer Entfernung zu, wie sie Bälle warfen, Kegel abräumten und Preise gewannen.
Als ich genug von dem Fest gesehen hatte, nahm ich eine Abkürzung über den Rasen und ging zur Kirche. Die Tür stand sperrangelweit offen, also stieg ich die Stufen hoch und sah hinein.
Es war fast ganz dunkel. Das einzige Licht fiel durch ein buntes Glasfenster in der hinteren Wand herein. Vor den Reihen polierter Holzbänke stand ein Altar mit einem dunkelroten Tuch, darauf jede Menge brennender Kerzen in kleinen Gläsern.
So leise ich konnte, ging ich den Gang hinunter. In der vordersten Reihe knieten drei Frauen mit Spitzentüchern auf dem Kopf. Sie ließen lange Perlenschnüre durch ihre Finger gleiten, und eine wippte zu einem Rhythmus, den ich nicht hören konnte, vor und zurück. Ich wusste nicht, was Perlenketten mit Beten zu tun hatten, aber ich nahm an, es handelte sich um einen geheimen Code, speziell für Frauen.
Ich betrachtete die Szene vor mir mehrere Minuten lang und fragte mich, ob eine Perlenkette meiner Mutter helfen könnte. Auf dem gesamten Heimweg dachte ich darüber nach.
Als ich zu Hause ankam, sah ich Dads Wagen in der Einfahrt stehen. Ich öffnete die Hintertür und hörte Mommas Stimme donnern. »Nein! Hau ab!«
»Verdammt, Camille, beruhige dich. Ich muss mit dir reden.«
Es gab ein wütendes Durcheinander von Worten, das mit dem Klirren von Glas endete. Ich rannte durch die Küche und versteckte mich im Besenschrank. Über mir hörte ich Schritte, und dann dröhnte Dads Stimme durchs Haus: »Camille, du musst damit aufhören. Jetzt setz dich bitte hin und .«
»Ich hasse dich!«, kreischte Momma.
Das ganze Haus bebte, als ihre Zimmertür zuschlug, kurz darauf hörte ich Dad die Treppe heruntertrampeln. Ich stand stocksteif im Besenschrank und hielt, als er in die Küche kam, den Atem an. Die Fliegentür knallte zu, und ich machte die Schranktür auf, um aus dem Fenster zu schauen. Ich sah meinen Vater in sein Auto steigen und beschloss, es mal mit diesem Beten zu versuchen.
Später am Abend, als Momma auf dem Sofa schlief, durchsuchte ich eine Kommode in ihrem Schlafzimmer nach der Perlenkette, die sie in einem rosa Satintäschchen aufbewahrte. Ich zog ein altes Spitzendeckchen unter einer Lampe weg, nahm mir eine Weihnachtskerze aus einer Kiste im Schrank, ging in mein Zimmer und schloss die Tür. Mit einer Haarnadel steckte ich mir das Spitzendeckchen auf dem Kopf fest, zündete die Kerze an und kniete mich ans Fenster. Ich wusste nicht genau, was ich dann tun musste, und so starrte ich in den Himmel und rieb die Perlen zwischen meinen Fingern, bis sie schön warm geworden waren.
»Hallo. Mein Name ist Cecelia Rose Honeycutt, ich wohne in der Tulipwood Avenue 831. Der Prediger im Radio hat gesagt, wenn wir unser Herz aufmachen und darum bitten, dann werden wir gerettet. Er hat gesagt, so einfach ist das. Also bitte ich dich, kannst du Momma retten? Irgendwas stimmt mit ihrer Seele nicht, und es wird jeden Tag schlimmer. Und wenn du schon dabei bist, kannst du mich auch retten? Mit meiner Seele ist alles in Ordnung, aber ich könnte ein bisschen Hilfe hier unten wirklich gebrauchen. Ich tu auch alles, was du sagst. Amen.«
Ich betete mehrere Wochen lang und zählte für jedes Gebet eine Perle ab. Täglich wartete ich darauf, dass es Momma besser ging, aber es ging ihr nie besser. Es waren einundsechzig Perlen an der Kette, und wenn nicht bald etwas passierte, dann würde ich keine Gebete mehr übrig haben. Eines Tages fand ich, es wäre wohl Zeit, mich direkt an Gott zu wenden. Aber ich wusste nicht, ob das richtig war. War Gott so wie unser Schulleiter, der immer in seinem Büro war und nur mit Lehrern sprach? Würde Gott es frech finden, wenn ich mich direkt an ihn wandte?
Ich war nervös, fand dann aber, ich hätte ja nichts zu verlieren, also legte ich los und betete, bis ich zur letzten Perle an der Kette kam. Aber der Sommer ging in den Herbst über, und in meinem Leben änderte sich nichts außer der Farbe der Blätter an den Bäumen. Entweder Gott hatte mich nicht gehört, oder er hatte Wichtigeres im Kopf.
An einem warmen Oktoberabend saß ich draußen, an einen Ahornbaum gelehnt, und starrte in die Äste über mir. Das Mondlicht...
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