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Bei der offiziellen Feier zu Astrid Lindgrens 80. Geburtstag ließ man Tauben fliegen, und sogar der Ministerpräsident brachte ein Geschenk. Zu Hause in ihrem Wohnzimmer legte die Jubiliarin in Pippi-Manier die Füße auf den Tisch.
Manche Geräusche sind so alltäglich, dass es leicht wäre, sie zu überhören: »Ah, die Post«, denke ich, als der Briefschlitz in der Wohnungstür klappert und danach mehrere Umschläge vom Teppich gedämpft auf dem Boden landen. Tausendmal gehört, vertraut und bekannt - und doch vollkommen falsch an diesem Ort. So ein Geräusch sollte es in dieser Wohnung gar nicht geben. Denn schon seit 2002 lebt hier niemand mehr, der die Briefe aufheben, öffnen und lesen könnte.
Ich bin zu Gast in der Dalagatan 46 in Stockholm, erster Stock, linke Tür. Eine Wohnung, die seit mehr als zwei Jahrzehnten leer steht.
»A. Lindgren« steht bis heute auf dem schlichten Schild an der Wohnungstür in der Dalagatan.
Auf der schlichten braunen Holztür im Hausflur ein ebenso schlichtes schwarzes Schild mit weißer Schrift: »A Lindgren«. 1941 war hinter dieser Tür Sture Lindgren, der Direktor von Motormännens Riksförbund, Schwedens größtem Autofahrerverband, mit seiner Frau Astrid und den beiden Kindern Lars, genannt Lasse, und Karin eingezogen. Nach und nach verließen die Bewohner die Wohnung wieder, zuerst zog Lasse aus, 1952 starb Sture, sechs Jahre später heiratete Karin. Von 1958 bis zu ihrem Tod im Jahr 2002 lebte Astrid Lindgren allein auf den 140 Quadratmetern - da war sie längst zur weltweit bekannten und geliebten Kinderbuchautorin geworden.
Die Garderobe in Lindgrens Wohnung sieht aus, als sei die Autorin nur kurz aus dem Haus gegangen. Manchen Besuchern, die sich durch die Räume führen lassen, kommen schon hier die Tränen.
Mehr als sechzig Jahre lang war die Wohnung in der Dalagatan Astrid Lindgrens Zuhause, mehr als sechzig Jahre lang erreichten die Briefumschläge aus aller Welt hier die richtige Empfängerin. Doch das ist Geschichte. An diesem Vormittag im Herbst hat Johan Palmberg, einer der Urenkel Astrid Lindgrens, hinter der Wohnungstür auf mich gewartet. Wir sind verabredet, um über seine Urgroßmutter zu sprechen und um den Ort zu besichtigen, der ihr so viele Jahre ein Zuhause war. Johan begrüßt mich auf Socken neben der Garderobe, auch ich ziehe meine Schuhe aus. Vom Flur führt er mich über knarzende Holzdielen zu einem runden Esstisch, auf dem ein Gästebuch liegt.
Hier sitzen wir ins Gespräch vertieft, als plötzlich der Briefschlitz in der Wohnungstür klappert, und nach meinem ersten schnellen »Ah, die Post«-Gedanken muss ich die Stirn gerunzelt und mich zur Tür gedreht haben. Denn Johan sagt: »Ja, sie bekommt immer noch Post.«1
Meistens seien es Reklamezettel oder Werbebroschüren, doch etwa einmal im Monat lande auch ein Kinderbrief hinter der Tür. Es schrieben Mädchen und Jungen, oft aus Frankreich oder Großbritannien, die von der Autorin wissen wollen, wo Pippi Langstrumpf lebt, ob sie wirklich so stark ist und ganz in echt einen Affen als Haustier hat. Dass Astrid Lindgren bereits gestorben ist, als die Eltern dieser Kinder die Pippi-Bücher lasen, haben sie offenbar nicht mitbekommen. Noch immer reiche es aus, »Astrid Lindgren - Schweden« auf einen Umschlag zu kritzeln, der Brief komme an, sagt Johan. Die Empfängerin mag ihre Post nicht mehr lesen können, doch für die Menschen scheint die Autorin unsterblich.
Schon am Tag ihres Todes, am 28. Januar 2002, konnte man sehen, wie viel den Menschen an der alten Dame lag. Innerhalb weniger Stunden nach Bekanntwerden von Astrid Lindgrens Tod häuften sich Blumensträuße auf dem Gehweg vor dem Haus in der Dalagatan, abends erhellte ein Lichtermeer aus Kerzen die Nacht.
Johan erinnert sich noch genau an diesen Tag. Er war damals elf Jahre alt und wurde am Vormittag aus der Schule geholt. Hier in der Wohnung traf er auf seine trauernde Familie. »Alle weinten, das hatte ich zuvor nie gesehen«, erzählt Johan, und dass sich dann jedes Familienmitglied von ihnen einzeln von Astrid verabschiedet habe. Auch er sei vor ihr Bett getreten, allein. Wenn er heute darüber nachdenkt, wundert es ihn selbst. Und er weiß auch nicht mehr, was er gefühlt oder gesagt hat.
Deutlich in Erinnerung geblieben ist ihm, wie seine gerade verstorbene Uroma ihm plötzlich aus dem Fernseher entgegenblickte. »Die Medien wussten ja, dass Astrid am Ende krank war. Sie müssen all die Beiträge vorbereitet haben.« Johan weiß noch, dass das Telefon immer wieder klingelte, aber nicht mehr wer anrief und was gesprochen wurde.
Ein seltsames Gefühl, eine schwer greifbare Stimmung. Dass Astrid in ihrem Zuhause entschlief, war ja eigentlich schön, und auch, dass die Familie beisammen war. Sie ließ sich irgendwann Essen aus dem Restaurant unten im Haus kommen, erzählt Johan, wie auch Astrid es im Alter oft getan hatte. Gegen Mitternacht verließen alle die Wohnung und mussten sich einen Weg durch das Meer aus Blumen und brennenden Kerzen bahnen.
Knapp sechs Wochen später, am 8. März, dem Weltfrauentag, säumten Zehntausende Menschen die Straßen der schwedischen Hauptstadt. Kinder hatten selbst gemalte Plakate dabei, nicht wenige waren zu Tränen gerührt. In der Storkyrkan, dem Stockholmer Dom, wurde Lindgren von ihren Landsleuten offiziell verabschiedet. Und wie!
Königliche Garden eskortierten die Kutsche mit dem weißen Sarg, hinter dem ein einzelner Schimmel ohne Sattel schritt, der plötzlich das Tempo erhöhte und ungestüm den Hügel neben dem königlichen Palast hochtrabte. Vor dem Dom allerdings war die Lage fast dramatisch. Hunderte Menschen hatten vor Beginn des Trauergottesdienstes versucht, in die Kirche zu gelangen. Die Polizei musste eingreifen. Die Plätze im Dom reichten bei Weitem nicht aus.
Dafür übertrug das Schwedische Fernsehen die gesamte Zeremonie. Wer wollte, konnte zumindest vom heimischen Sofa aus in der Storkyrkan dabei sein und hören, dass ein anderes Sofa nun verwaist war. In Anlehnung an Lindgrens Mio, mein Mio-Märchen eröffnete die Journalistin, Lindgren-Biografin und enge Freundin Margareta Strömstedt ihre Rede mit den so schlichten wie berührenden Worten: »Nun sitzt keine Astrid mehr auf dem Sofa in der Dalagatan.«
Astrid mit ihrer Tochter Karin im Jahr 1956 vor dem Kamin im Wohnzimmer in der Dalagatan. Ihr Sohn Lasse war bereits aus-gezogen, ihr Mann Sture vier Jahre zuvor verstorben.
Das Sofa aber, es steht bis heute am alten Platz. Wobei man richtiger im Plural sprechen müsste. Denn Astrid Lindgren besaß viele Sofas.
Zwei stehen in ihrem Arbeitszimmer, eine sehr gerade Couch mit grobem, braunem Stoff und eine mit buntem Blümchenbezug und Volants. Im Wohnzimmer, in dem Astrid Lindgren die »wichtigen Gäste« empfing, wie Johan sagt, Politiker, Verlegerinnen, Journalistinnen, stehen gleich drei ganz unterschiedliche Sofas: ein langes, helles Polstermöbel, mit dem Rücken zum Kamin; manche sagen, dies sei Astrids Lieblingssofa gewesen. Jedenfalls hat sie hier in ihren letzten Jahren oft gesessen. Vor dem langen, halbhohen Bücherregal an der Nordwand steht eine zweite Couch mit rosa-geblümten Überzug, die mir seltsam vertraut vorkommt. Bis ich begreife, dass ich mich an Fotos von Astrid Lindgren erinnere, auf denen sie hier saß. Während man in den weichen Kissen fast versinkt, kann man auf dem dritten Sofa an der gegenüberliegenden Wand nur aufrecht Platz nehmen: eine gepolsterte Bank, geschwungener, dunkler Holzrahmen, dunkler Bezug.
Stilistisch passen all diese Möbel überhaupt nicht zusammen, und genau deshalb verleihen sie dem Raum eine große Behaglichkeit. Hier haben keine Ikea-Einrichter die immer gleichen Module mit maximalem Hygge-Effekt zusammengestellt, in diesen Räumen hat ein Mensch gelebt, der nicht alle paar Jahre die Wände neu gestrichen und das gesamte Inventar ausgetauscht hat.
Sture habe das »rich life« geliebt, erzählt Johan, Astrid hingegen sei sparsam gewesen - was ihre Sofas bezeugen: Dass ein Gast einen Kaffeefleck auf dem Polster hinterlassen hat oder an einer Armlehne der Stoff schon ganz zerschlissen ist, war für die Besitzerin offensichtlich kein Grund, die Möbel rauszuschmeißen.
Gegenstände an sich seien nicht wertvoll, hat Astrid Lindgren einmal gesagt, sie werden es erst durch die Erinnerungen, die man an sie knüpft. Und so erzählt dieses Wohnzimmer auch von einem Menschen, der immer mal wieder ein neues Möbelstück angeschafft, den alten einen neuen Platz zugewiesen und sie alle beseelt hat.
Während des Krieges stand ein Sofa vor dem Kamin, mit dem damals die Wohnung beheizt wurde, erzählt Johan, und Astrid saß mit den Kindern darauf und las Geschichten vor. Nachdem Sture gestorben war, habe sie die Sofas gedreht, sodass man in einer großen Runde zusammensitzen konnte. »Wenn wir als Familie da waren, brauchten wir den Platz«, erzählt Johan. »Mir wurde auch erzählt, dass Astrid gern die Menschen zu sich einlud und Arbeitstreffen hier im Wohnzimmer abhielt.«
Doch was, wenn die Gastgeberin selbst nicht mehr einladen kann? Sollten weiterhin Gäste willkommen sein? Was tun mit Astrids Zuhause? Das fragte sich die Familie nach deren Tod. Lindgren hatte die Wohnung nie besessen, sondern ihr Leben lang Miete gezahlt. Staatsmänner oder Journalisten fragten sie oft, warum sie...
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