Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Im November 2015 traf Piety, 29 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in einem Dorf in Masisi, Nord-Kivu, mit seiner Frau und den drei Kindern, fünf, sechs und neun Jahre alt, in »New Congo Village« ein, einem Viertel der Flüchtlingssiedlung in Nakivale im Südwesten Ugandas. Von der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Masisi ist New Congo 250 Kilometer Luftlinie entfernt, auf der Straße beträgt die Entfernung etwa das Doppelte. Mit einem Allradfahrzeug lässt sich die Strecke in zwei Tagen bewältigen, aber Piety und seine Familie irrten eine Woche lang von Dorf zu Dorf, machten Pläne und verwarfen sie, bis sie schließlich die ugandische Grenze erreichten, und das war erst der halbe Weg. Die Flucht sei kräftezehrend gewesen, erzählte mir Piety, auch gefährlich, weil die Kinder noch so klein gewesen seien. Einen Teil der Strecke sei die Familie gelaufen, einen Teil mit dem Bus gefahren, die Kinder hätten Blasen an den Füßen gehabt und vor Hunger geweint. Es sei ihnen sehr schwergefallen, von zu Hause wegzugehen, aber etwas anderes sei ihnen nicht übriggeblieben. Das, was ich dann zu hören bekam, führte mir das ganze Ausmaß der Probleme vor Augen, mit denen Menschen in der Demokratischen Republik Kongo, kurz Kongo, zu kämpfen haben, wenn sie aus dem einen oder anderen Grund durch gesellschaftliche Raster fallen.
Er komme aus einer geachteten Familie, sagte Piety, aber geachtet nur von seinesgleichen. Sein Vater sei chef coutumier gewesen, der Erste seines Dorfes. Er habe der Volksgruppe der Batwa angehört, seine Mutter komme aus Ruanda und sei nicht Twa. Piety erklärte mir, dass das Phänomen des Tribalismus, das Denken in ethnischen Kategorien, im Kongo noch immer weit verbreitet sei. Die Menschen, die sich den Batwa zurechneten, würden seit jeher diskriminiert, nicht nur in Masisi, sondern überall im Land. Man mache ihnen ihren Lebensraum streitig, den Regenwald, und behandle sie wie Aussätzige. Inmitten einer von Kriegsökonomie bestimmten Gesellschaft sei der Vater für den Frieden und die Rechte der Batwa eingetreten. Dafür habe er mit seinem Leben bezahlt. Auch der Bruder, der die Nachfolge antrat, sei eines gewaltsamen Todes gestorben. Es sei nun an ihm gewesen, die Tradition der Familie fortzuführen.
Piety tat, was er konnte, um sein Dorf aus den kriegerischen Verwicklungen herauszuhalten, die den Menschen in seiner Heimat seit vielen Jahren zusetzen. Eines Tages erfuhr er, dass ein ranghoher Offizier der kongolesischen Armee einer Rebellengruppe Waffen und Munition verkaufte. Darüber unterrichtete er den Menschenrechtskoordinator der örtlichen Société Civile, des Zusammenschlusses der lokalen Nichtregierungsorganisationen, der ihm Vertraulichkeit zusicherte und dann mit der Nachricht an die Öffentlichkeit ging. Als im lokalen Radio von den Waffenverkäufen berichtet wurde, wusste Piety, dass er in Schwierigkeiten war. Man würde herausfinden, dass er gegen die Omertà verstoßen hatte, die Schweigepflicht, die alle trifft, die über die Geschäfte der Armee mit den Rebellen im Bilde sind.
Kurze Zeit später kamen bewaffnete Männer, um ihn zu holen. Ob es sich um Soldaten, Rebellen oder Mitglieder einer kriminellen Bande handelte, wusste Piety nicht zu sagen. Oder vielleicht wollte er es nicht sagen. Die Männer verbanden ihm die Augen, warfen ihn in ein Erdloch und schrien ihn an. Er sei ein Verräter und werde den Tod sterben, den er verdiene. Man schlug und verhöhnte ihn, ließ ihn, wie sich seine Peiniger ausdrückten, »in der Sonne schmoren« und »die Sterne bewundern«, sechs Tage und Nächte lang. Jeden Tag wurde er schwächer. Am siebten Tag holte ihn einer der Männer aus der Grube und ließ ihn laufen. Piety konnte kaum noch aufrecht stehen, aber er wusste, er würde keine zweite Chance bekommen, also raffte er sich auf und schlug sich nach Kishanga durch, etwa 85 Kilometer nordwestlich von Goma. Seine Familie holte er nach. Zwei Wochen später brachen in dem Gebiet Kämpfe aus. Die kongolesische Armee lieferte sich mit den Rebellen der Mayi-Mayi heftige Gefechte, die immer näher kamen. Piety und seine Familie flohen nach Rutshuru, dann weiter nach Bunagana, wo sie die Grenze nach Uganda überquerten.
In Nakivale vergeht kein Tag, ohne dass man jemand trifft, der Neues aus dem Kongo zu berichten weiß. Piety sagte, er verbiete sich den Gedanken an eine Rückkehr und habe jeden Kontakt in die Heimat abgebrochen. Seit seiner Entführung wache er nachts immer wieder auf und wenn er der prallen Sonne ausgesetzt sei, habe er Flashbacks, spüre den Durst, den er in der Grube gelitten, den Schwindel, der ihn erfasst habe. Er bekomme Panikattacken und Schüttelfrost, nehme Beruhigungsmittel, die nicht wirkten. Er wisse, dass er im Kongo dem Tod mit knapper Not entkommen sei, aber auch die Flüchtlingssiedlung, in der wir unser Gespräch führten, sei »kein Ort zum Leben«. Er werde den Gedanken nicht los, dass man noch immer hinter ihm her sei, die leeren Gesichter der Menschen in der Siedlung machten ihn schwermütig und es gebe einfach nichts zu tun.
Piety gab in seiner Erzählung der Vergangenheit Raum, blickte aber auch nach vorn. Er sei als Flüchtling anerkannt, ebenso seine Frau und die Kinder, und UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, habe sie in ihr Schutzprogramm aufgenommen, was bedeutet, dass sie sich Hoffnung für die Aufnahme in ein Umsiedlungsprogramm machen könnten. Piety sagte, er werde alles tun, was in seiner Macht stehe, um seine Familie in Sicherheit zu bringen, »nach Kanada vielleicht, Australien oder Europa«. Eine Nichtregierungsorganisation habe einen Rechtsanwalt beauftragt, um eine Umsiedlung für sie möglich zu machen, aber über die Erfolgsaussichten könne er nichts sagen. Niemand wisse, ob es ihnen gelingen werde, ein Land zu finden, das bereit sei, sie aufzunehmen. Ihr Leben bestehe aus »Hoffen und Warten«.
Piety heißt eigentlich anders. Er hatte mich im Interview nicht ausdrücklich darum gebeten, seinen Namen nicht zu nennen, aber mehrfach erwähnt, dass er sich Sorgen mache, was ihm und seiner Familie passieren könne, wenn er von den Männern, die versucht hatten, ihn umzubringen, in der Siedlung ausfindig gemacht würde. Ihm sei klar, setzte er hinzu, dass er sich mächtige Feinde gemacht habe. Im Laufe der Zeit fiel mir auf, dass fast alle Geflüchteten, die den Mut fanden, mir von ihrem Leben zu erzählen, die Sorge umtrieb, ihnen oder ihrer Familie könne etwas zustoßen, wenn herauskäme, dass sie mit mir gesprochen hatten. Zum Schutz meiner Interviewpartner*innen habe ich mich daher entschieden, keine Klarnamen zu verwenden.1
Mut zeigten auch andere Geflüchtete, die in diesem Buch zu Wort kommen: Amali, die sich zur Wehr setzte, als eine Gruppe von Männern sie vergewaltigen wollte, und der man daraufhin den rechten Arm abhackte, »zur Strafe«; La Maman, die sich in Kampala auf die Suche nach ihrer Nichte Elodie machte, die erst vergewaltigt und dann auf offener Straße entführt worden war; oder Jack, der nach seiner Flucht eine prekäre Existenz in Nairobi führte, was ihn nicht abhielt, seine sterbenskranke Mutter zu sich zu holen, damit sie die bestmögliche medizinische Versorgung bekäme. Aber Mut ist keine Währung, die auf das Konto einer gesicherten Existenz einzahlt. Niemand bleibt an Körper und Seele unversehrt, wenn er oder sie alles aufgeben muss, um woanders neu anzufangen. In einem Land, in dem man keine Luft bekommt, ist Exil der Preis der Freiheit. Allein darüber lohnt es sich zu schreiben, aber da ist noch etwas anderes.
Als Piety floh, hatte kaum jemand in Europa einen Sinn für die sich ständig verschlechternde Lage im Osten des Kongo. Man war mit sich selbst beschäftigt, mit dem »langen Sommer der Migration«, ein Zeitfenster von wenigen Wochen, in dem Geflüchtete, die bisher »geschickt und ohne aufzufallen« Grenzen überwunden hatten, aus dem »Schatten der Irregularität« herausgetreten waren, um sich zu einer »Bewegung der Migration« zusammenzuschließen, die »gegen die europäische Mobilitätsordnung« Front machte.2 Es entstand der Eindruck, Europa sei das Auffangbecken globaler Fluchtbewegungen, der finale Rettungsort, eine Vorstellung, die nicht in Einklang zu bringen ist mit dem Befund, dass die überwiegende Mehrheit der Geflüchteten, wie wir gleich sehen werden, im eigenen Land oder in einem Land der Region Schutz sucht. Und so ist Pietys Geschichte nur eine von vielen, die deutlich machen, dass es an der Zeit ist, mit eingefahrenen Denkmustern zu brechen, scheinbar Randständiges in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Aufmerksamkeit zu rücken und den Schutzgedanken ins Zentrum der Migrationsforschung zu stellen.
Sollte ich jetzt die Erwartung geweckt haben, dass es möglich sei, das Flüchtlingsrecht neu zu denken, wird sich im Laufe der Lektüre Ernüchterung einstellen. Dieses Buch ist nur in Teilen eine Auseinandersetzung mit der Literatur über Fluchtgründe und hat zur Fluchtursachenbekämpfung wenig beizutragen, nicht weil es etwas daran auszusetzen gäbe, Voraussetzungen zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, in ihrer Heimat zu bleiben, sondern weil es, wie ich im letzten Kapitel herausarbeiten werde, kurzfristige Lösungen nicht gibt. Dieses Buch ist auch kein belastbarer Beitrag zur Theorie der Gewaltforschung, weil es im Kern nicht um die Abgrenzung lozierender Gewalt von anderen Gewaltformen geht, sondern um Schutzversprechen, die gegeben, aber nicht gehalten werden. An diesem Punkt entsteht eine analytische Fallhöhe, die Anlass zu Fragen gibt. Wie ist es möglich, dass Krieg und Vertreibung in Afrika in internationalen Medien regelmäßig Schlagzeilen machen, über die Lebenssituation...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.