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Gott die Herrin hatte einen jeglichen Menschen in seiner eigenen Tonart gestimmt, und Kasper konnte sie heraushören. Am besten in den kurzen, ungeschützten Augenblicken, in denen sie schon in seiner Nähe waren, aber noch nicht ahnten, daß er lauschte. Deshalb wartete er am Fenster, auch jetzt.
Es war kalt. So kalt, wie es nur in Dänemark kalt werden konnte, und auch nur im April. Wenn die Leute in geistesverwirrter Verzückung über das Licht die Heizung ausgestellt, den Pelz beim Kürschner abgegeben, die langen Unterhosen vergessen hatten und ausgegangen waren. Und viel zu spät bemerkten, daß die Temperatur auf den Gefrierpunkt gefallen war, die Luftfeuchtigkeit neunzig Prozent betrug, der Wind aus Norden blies und Stoff und Haut durchdrang und sich ums Herz legte und es mit sibirischer Tristesse erfüllte.
Der Regen war kälter als Schnee und fein, dicht und grau wie ein Seidenvorhang. Durch diesen Vorhang rollte ein langer schwarzer Volvo mit getönten Scheiben heran. Dem Auto entstiegen ein Mann, eine Frau und ein Kind. Der Auftakt war verheißungsvoll.
Der Mann war groß und breit und schien gewohnt, seinen Willen durchzusetzen und seinen Mitmenschen, falls er ihn einmal nicht durchsetzen konnte, den Kopf zurechtzurücken. Die Frau war blond wie ein Gletscher, glich einem one million dollar baby und sah aus, als wäre sie clever genug gewesen, die Million selbst verdient zu haben. Das Mädchen trug teure Sachen und hatte Würde. Die Szene ähnelte dem Auszug der heiligen und hochvermögenden Familie.
Als sie etwa die Mitte des Hofs erreicht hatten, gewann Kasper einen ersten Eindruck von ihrer Tonart. Es war ein d-Moll in seiner schlimmsten Form. Wie in der Toccata und Fuge in d-Moll. Mächtige, schicksalsschwangere Säulen aus Musik.
Dann erkannte er das Mädchen. Zeitgleich mit dem Wiedererkennen trat die Stille ein.
Sie währte kurz, vielleicht eine Sekunde, vielleicht nicht einmal das. Aber während sie andauerte, riß sie die Mauern der Wirklichkeit nieder. Sie beseitigte den Hof, die Übungsmanege, Daffys Büro, das Fenster. Das schlechte Wetter. Den April. Dänemark. Die Gegenwart.
Dann war sie vorbei. Als hätte es sie nie gegeben.
Er hatte sich am Türrahmen festgehalten. Es mußte sich eine natürliche Erklärung finden lassen. Unwohlsein hatte ihn ergriffen. Ein Blackout. Ein vorübergehender Blutpfropf. Niemand verbringt ungestraft zwei Nächte hintereinander von zehn Uhr abends bis acht Uhr morgens am Kartentisch. Oder war es ein Beben gewesen? Die ersten großen Erdbeben hatte man sogar hier draußen spüren können.
Vorsichtig blickte er sich um. Daffy saß hinter ihm am Schreibtisch, als wäre nichts geschehen. Auf dem Hof kämpften die drei Menschen gegen den Wind an. Die Erde hatte nicht gebebt. Es war etwas anderes gewesen.
Talent ist die Fähigkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Aussondern hatte er 25 Jahre Erfahrung. Ein Wort, und Daffy würde seine Anwesenheit leugnen.
Er öffnete die Tür und streckte ihnen die Hand entgegen.
»Avanti«, sagte er. »Kasper Krone. Herzlich willkommen!«
In dem Moment, in dem die Frau seine Hand ergriff, begegnete er dem Blick des Mädchens. Ganz schwach, nur für ihn wahrnehmbar, schüttelte es den Kopf.
Er begleitete sie in den Übungssaal, sie blieben stehen und sahen sich um. Ihre Sonnenbrillen waren ausdruckslos, aber ihr Klang war angespannt. Sie hatten mehr Finesse erwartet. Etwas in der Art des Großen Saals, in dem das Königliche Ballett repetiert. Etwas wie die Empfangsräume im Schloß Amalienborg. Mit Merbauholz und sanften Farben und vergoldeten Paneelen.
»Sie heißt KlaraMaria«, sagte die Frau. »Sie ist nervös. Sie ist angespannt. Sie wurden uns vom Bispebjerg Krankenhaus empfohlen. Von der Kinderpsychiatrie.«
Selbst im System eines geübten Lügners ruft die Lüge ein feines Schnarren hervor. Auch bei ihr. Das Mädchen blickte zu Boden.
»Es kostet zehntausend pro Sitzung«, sagte er.
Das war die Eröffnung. Protestierten sie, käme ein Dialog in Gang. Und er hätte die Möglichkeit, sich tiefer in ihre Systeme hineinzuhorchen.
Sie protestierten nicht. Der Mann zog eine Brieftasche hervor. Sie entfaltete sich wie der Balg eines Akkordeons. Kasper hatte solche Brieftaschen bei den Roßhändlern gesehen, als er noch auf Märkten auftrat. In dieser hier hätte jedenfalls ein kleines Pferd Platz finden können, sagen wir ein Fallabella. Ihr entstiegen zehn steife, druckfrische Tausendkronenscheine.
»Ich muß Sie leider um zwei Sitzungshonorare im voraus bitten«, sagte er. »Auf Anweisung meines Finanzberaters.«
Zehn weitere Scheine wurden zutage gefördert.
Er zog eine seiner alten Visitenkarten aus der Tasche, in Stahlstichdruck, und den Füllfederhalter.
»Übrigens hat gerade jemand abgesagt«, sagte er, »zufälligerweise. Ich könnte sie dazwischenschieben. Ich muß sowieso erst den Muskeltonus und den Körperrhythmus untersuchen. Das dauert keine zwanzig Minuten.«
»In den nächsten Tagen«, sagte die Frau.
Er schrieb seine Telefonnummer auf die Karte.
»Und ich muß dabeisein«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid. Nicht, wenn man so intensiv mit den Kindern arbeitet.«
Es geschah etwas im Raum, die Temperatur fiel, die Anzahl der Schwingungen sank, alles erstarrte.
Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, nach fünfzehn Sekunden, lagen die Banknoten noch da. Er nahm sie an sich, ehe es zu spät war.
Sie drehten sich um. Gingen durch das Büro hinaus. Daffy hielt ihnen die Eingangstür auf. Sie überquerten den Hof, ohne zurückzublicken. Setzten sich in den Wagen. Der Wagen rollte in den Regen hinaus und verschwand.
Er lehnte seine Stirn an die kalte Scheibe. Er wollte den Füller in die Tasche stecken, in die warme Tasche zu dem Geld. Es war weg.
Vom Schreibtisch her kam ein Geräusch. Ein Rischeln. Wie wenn man ein neues Kartenspiel von Piaget mischt. Vor Daffy, auf der Tischplatte, lag der niedrige, mahagonibraune Stapel frischer Banknoten.
»In deiner rechten Außentasche«, sagte der Verwalter, »stecken noch zweihundert Kronen. Für eine Rasur. Und eine warme Mahlzeit. Eine Nachricht ist auch noch drin.«
Die Nachricht war auf einer Spielkarte notiert, der Pikzwei. Auf der Rückseite stand, mit seinem eigenen Füller geschrieben: »Reichskrankenhaus. Aufgang 52.03. Nach Vivian fragen. Daffy.«
In dieser Nacht schlief er im Stall.
Es waren einige zwanzig Tiere dageblieben, Pferde und ein Kamel, die meisten waren alt oder wertlos. Der Rest war noch für die Wintersaison bei französischen oder süddeutschen Zirkussen.
Er hatte seine Geige dabei. Er legte das Laken und die Bettdecke in die Box zu Roselil, halb Berber, halb Araber. Sie war hiergeblieben, weil sie ausschließlich ihrem Kunstreiter gehorchte. Und nicht einmal ihm richtig.
Er spielte die Partita in a-Moll. Eine einsame Birne an der Decke warf ein weiches, goldenes Licht auf die lauschenden Tiere. Die spirituellsten Menschen stehen den Tieren am nächsten, hatte er bei Martin Buber gelesen. Ebenso bei Meister Eckhart. In Das Reich Gottes ist nahe. Gott soll man bei den Tieren suchen. Er dachte an das Mädchen.
Im Alter von etwa neunzehn Jahren, in der Zeit seines endgültigen Durchbruchs, hatte er entdeckt, daß mit der Fähigkeit, einen Zugang zur akustischen Essenz der Menschen zu finden, Geld zu machen war - besonders, wenn es sich um Kinder handelte. Er hatte sofort Kapital daraus geschlagen. Nach zwei Jahren hatte er zehn Privatschüler am Tag, genauso viele wie Bach in Leipzig.
Es waren Tausende von Kindern gewesen. Spontane Kinder, zerstörte Kinder, Wunderkinder, katastrophale Kinder.
Am Schluß kam das Mädchen.
Er legte die Violine in den Kasten, den er in seine Arme schloß wie eine stillende Mutter ihr Kind. Das Instrument kam aus Cremona, eine Guarneri, das letzte, was ihm aus den großen Jahren geblieben war.
Er verrichtete sein Abendgebet. Die Nähe der Tiere hatte ihm einen großen Teil der Angst genommen. Er lauschte der Müdigkeit, sie strebte aus allen Richtungen gleichzeitig heran. In dem Augenblick, in dem er ihre Tonart bestimmen wollte, kristallisierte sie und ging in Schlaf über.
Er erwachte viel zu früh. Die Tiere bewegten sich. Die Glühbirne brannte noch. Aber das Morgengrauen hatte sie verblassen lassen. Vor der Box stand so etwas wie ein Kardinal und sein Ministrant. In langen schwarzen...
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