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Hanna Ahrens hasste Entscheidungen. Sie stand mit ihrem Zweitschlüssel vor dem Haus am Morningside Park. Es war ein Uhr nachts. Im dritten Stock wohnte der Mann, den sie liebte. Und er schlief mit einer anderen Frau. Er war nicht ihr Mann. Das hätte die Situation klarer gemacht, die Entscheidung leichter. Aber sie war nur die Affäre, die nun wiederum zur Betrogenen geworden war. Sie hatte keinen Anspruch auf seine Treue. Weder rechtlich noch moralisch. Sie hatte in seinem Leben - genau wie in diesem Land - nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht. Das, ähnlich wie ihr H1-B-Arbeitsvisum, demnächst abzulaufen drohte.
Im Nachhinein schien die Entwicklung, die Abfolge der Dinge immer klar zu sein. In der Geschichte wie im Leben. Eine Republik geriet in die Krise, es folgte eine Diktatur, Krieg, möglicherweise Frieden. Geriet eine Beziehung in die Krise, folgten Streit, Trennung, Neuorientierung. Aus Zukunft wurde Gegenwart, Vergangenheit. Aus Unsicherheit Gewissheit. Vielleicht, dachte Hanna, hatte sie deshalb Geschichte studiert. Weil sie es so sehr hasste, Entscheidungen zu treffen. Und weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass die nächste Entwicklung schon hinter ihr lag und Gewissheit war. Erwiesen.
Sie drehte den Hausschlüssel in ihrer Hand und überlegte. Konfrontation oder Rückzug? Entschärfung oder Eskalation? Während sie verschiedene Szenarien in ihrem Kopf durchspielte, versuchte sie, sich damit zu beruhigen, dass es im Grunde egal war, wie sie entschied. Der Schmerz würde bleiben. So oder so. Und letztlich wurde Geschichte, auch die Geschichte jedes Einzelnen, von enorm vielen Faktoren beeinflusst. Es war immer eine Verkettung von Umständen, die eine historische Veränderung hervorbrachte, beschleunigte oder bremste. Umstände wie eine Inflation, eine Naturkatastrophe, ein instabiles Parlament, eine Terrorgruppe. Oder wie das Smartphone, das jetzt klingelte: +49. Call from Germany.
»Oma Tilde ist gestürzt. Sie liegt im Sterben.«
Trixies hohe Mädchenstimme klang brüchig, sie rang um Fassung. Hanna hatte seit Monaten nicht mit ihrer Schwester gesprochen. Und Trixie wusste, dass es bei ihr in New York mitten in der Nacht war. Hanna wandte den Blick vom Fenster ab. Es gab keinen Zweifel: Ihre Großmutter, bei der sie aufgewachsen war, die sie unendlich liebte und von der sie in standhaft kindlicher Unvernunft gehofft hatte, dass sie unsterblich sein würde, war es eben nicht. Während Trixie ihr mit medizinischer Genauigkeit die schweren Verletzungen schilderte, hastete Hanna bereits zur nächsten Subway Station. Ihre Entscheidung war gefallen.
Wenige Stunden später lief sie, ihren Rollkoffer hinter sich herziehend, durch die endlosen mit Teppich ausgelegten Gänge des John-F.-Kennedy-Flughafens.
»Han-na Ah-rens! This is your last call!«, klang es blechern aus dem Lautsprecher.
»Your flight to Frankfurt is now closing. Last call for passenger Hanna Ahrens.«
Hanna rannte nun. Der Aufruf begleitete ihren Sprint wie die jubelnden Rufe der Zuschauer die Läufer beim New York Marathon. Letztes Jahr hatte sie David angefeuert. Drei Stunden sechsundvierzig. Eine beachtliche Zeit für einen Mann über fünfzig. Hanna hasste Joggen. Aber mit David war sie immer gelaufen. Durch den Central Park, Runde um Runde um das Jackie O. Reservoir. So verknallt, dass ihr der anschließende Muskelkater völlig egal war.
»Seriously? Your name is Hannah Arendt?«, hatte David ungläubig gefragt, als sie einander vorgestellt worden waren.
»Like THE Hannah Arendt?«
Er war nicht der Erste, der sie das fragte. In der linken New Yorker Kulturszene war Hannah Arendt eine Ikone, ihr umstrittenes Buch über Eichmanns Prozess in Jerusalem legendär.
»Ahren-s«, berichtigte Hanna. »With an S, not a T.«
David sah sie an und lachte dann.
»Well, I've always liked asses better than teas.«
David J. Abrams war einer jener Amerikaner, die durch ihre Feingeistigkeit und Selbstironie das Klischee einer gesamten Nation ausgleichen zu wollen schienen. Er war Intendant und Managing Director eines Off-Broadway-Theaters, trug hauptsächlich Schwarz und rauchte Gitanes ohne Filter. Das dichte graue Haar fiel ihm in die Stirn, und wenn er - was er häufig tat - beim Reden sein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen zerknautschte, sah er ein bisschen aus wie Sean Penn. David gehörte zu der Sorte Männer, die grundsätzlich jeder Frau das Gefühl geben, etwas ganz Besonderes zu sein. Nicht aus Berechnung. Sondern aufgrund der Begabung, in jedem Menschen das zu sehen, was ihn einzigartig machte. Special. Jeder, der in Davids Dunstkreis trat, durfte sich ein wenig special fühlen. Wie weit dieser Dunstkreis reichte und wie viele, besonders weibliche, Menschen special waren, begriff Hanna erst, als es längst zu spät war. Tildes Warnungen, dass David ihr eines Tages sehr wehtun werde, hatte Hanna nicht hören wollen. Jetzt zahlte sie den Preis dafür.
Die Turbinen heulten auf, als Hanna sich völlig außer Atem auf ihren Platz fallen ließ. Das Flugzeug war voll. Sie hatte Businessclass buchen müssen. Ein schwerer Schlag für ihr Bankkonto, aber der Champagner tat gut. Und der Stapel deutscher Zeitungen, den die Stewardess ihr anbot, würde sie von ihrer Sorge um Tilde ablenken. Hanna nahm sich die Süddeutsche, die Welt und das Handelsblatt. Ein bisschen lesen, dann ein bisschen schlafen, das war der Plan. Doch als sie den ersten Politikteil aufschlug, verschluckte sie sich am Champagner. Auf der Doppelseite prangte das Konterfei ihres Schwagers. WIR SIND HEIMAT! - Anmaßung oder Realität? lautete die Schlagzeile. Und darunter: Felix von Altdorff - die neue deutsche Hoffnung?
Felix, der Mann ihrer Schwester Trixie, hatte vor drei Jahren überraschend das Direktmandat seines Wahlkreises für die CDU gewonnen und war seitdem Bundestagsabgeordneter. Hanna hatte mitbekommen, dass er sich inzwischen mit seiner Fraktion überworfen und eine wertkonservative Abspaltung, die BürgerUnion, gegründet hatte. Sie war ein willkommenes Auffangbecken für den rechten Flügel der Post-Merkel-CDU und erhielt großen Zulauf von ehemaligen Parteimitgliedern der AfD, die nach einer heftigen Kollision mit dem Verfassungsschutz und einer horrenden Strafzahlung wegen Verstoßes gegen das Parteiengesetz praktisch implodiert war. Mit der seltsam entrückten Distanziertheit einer Deutschen, die seit Jahren im Ausland lebte, hatte Hanna in den letzten Monaten das Scheitern der Regierungskoalition verfolgt. Die riesige Flüchtlingswelle, von der die Bundesrepublik nach einem heftigen Zerwürfnis mit der Türkei überrollt worden war. Die missglückte Vertrauensfrage. Es standen Neuwahlen an. Und Europa, das gerade erst begonnen hatte, sich langsam von den Nachwirkungen einer mehrjährigen weltweiten Pandemie zu erholen, glich einem Pulverfass. Was Hanna unterschätzt hatte, war die offenbar exponentiell gestiegene Beliebtheit der BürgerUnion. Es schien tatsächlich so zu sein, dass ihr Schwager Felix, den Hanna für einen blasierten, reaktionären Schaumschläger hielt, im Begriff stand, ein ernst zu nehmender Kanzlerkandidat zu werden.
Das Interview war lang, Hanna las es aufmerksam, auch wenn ihr vieles bekannt war. Felix' Werdegang, sein Jurastudium, der harte Kampf um den Erhalt des Renaissanceschlosses - seit Jahrhunderten im Familienbesitz - und sein Weg in die Politik. Sie war überrascht, wie geschickt ihr Schwager seine Ansichten als klare und moderne Antworten auf die »Bedürfnisse der Bürger« verkaufte. Und sich selbst als Identifikationsfigur. Als jungen, aufstrebenden Bundespolitiker, der aneckte, weil er »die Deutschen ernst nahm« und »das Chaos beim Namen« nannte. Als Charakterkopf, der sich nicht hinter Parteipolitik verschanzte, sondern mit großer Klarheit und Standhaftigkeit für seine Überzeugungen eintrat. Hinzu kam natürlich der Glamourfaktor. Die gräfliche Familie. Niedliche Kinder in blauen Steppjacken vor der historischen Schlosskulisse. WIR SIND HEIMAT, der Wahlkampfslogan der BürgerUnion, fand ein Zuhause in diesen Bildern. Eine junge Familie vor alten Mauern. Trixie, schmal und blond, mit rosa Halstuch und Kugelbauch. Erst Anfang dreißig - und erwartete ihr viertes Kind. Tradition und Moderne. Das Narrativ und die Fotos waren wie gemacht für die Titelseiten von Hochglanzmagazinen. Felix selbst gab sich bodenständig: »Sie machen sich keine Vorstellung, was so ein vierhundert Jahre alter Sandsteinbau monatlich kostet. Geldsorgen sind in meiner Familie altbekannt. Von Tradition und Ehre allein kann man nicht leben.«
Als Hanna mit dem Artikel fertig war, hatte die Maschine bereits ihre Reiseflughöhe erreicht und die Stewardess kam mit einem weiteren Glas Champagner.
»Guter Typ«, bemerkte sie mit Blick auf Felix' Riesenporträt. Erst da wurde Hanna bewusst, wie lange sie die Doppelseite schon anstarrte. Eilig legte sie die Zeitung zusammen, nur um sie gleich wieder aufzuschlagen. Es stimmte. Auf dem Foto war er wirklich gut getroffen. Felix trug die Haare kürzer als früher, weniger Gel, weniger Seitenscheitel. Die Schläfen waren etwas angegraut, die Fältchen um die Augen tiefer geworden, seit sie ihn vor zwei Jahren bei der Taufe seiner jüngsten Tochter Roxana zum letzten Mal gesehen hatte. Aber insgesamt wirkte er mit seinen sechsundvierzig Jahren immer noch...
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