Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Phantásien ist das Reich der Mythen und ?Märchen, das Reich, aus dem alle ?Geschichten kommen, aber auch der Drang, sie zu erzählen und sie anzuhören. Die Reise durch dieses Reich heißt nicht umsonst Die unendliche Geschichte. Denn wie die menschliche ?Phantasie ist Phantásien grenzenlos:
»In dieser Welt gibt es keine messbare äußere Entfernung, und so haben die Worte >nah< und >weit< eine andere Bedeutung. Alle diese Dinge hängen ab vom Seelenzustand und vom Willen dessen, der einen bestimmten Weg zurücklegt. Da Phantásien grenzenlos ist, kann sein Mittelpunkt überall sein - oder besser gesagt, er ist von überallher gleich nah oder fern. Es hängt ganz von demjenigen ab, der zum Mittelpunkt kommen will. Und dieses innerste Zentrum Phantásiens ist eben der Elfenbeinturm.«5
Zwar ist auch in Phantásien bisweilen von Himmelsrichtungen die Rede (Südliches Orakel, ?Windriesen), doch haben diese keine absolute Gültigkeit, sondern ändern sich je nachdem, wo man gerade steht. Wie auf Grundfesten ruht Phantásien außerdem auf den vergessenen Träumen der Menschen, die im ?Bergwerk der Bilder abgelagert sind. Doch sollte man auch diese nicht räumlich verstehen - in einem Reich ohne Grenzen kann es kein »oben« und »unten« geben.
Auch die Zeit ist in Phantásien unendlich: Alles, was geschieht, schreibt der ?Alte vom Wandernden Berge auf. Doch geschieht es, weil er es aufschreibt, oder schreibt er es auf, weil es geschieht? Die Uralte ?Morla sagt von der ?Kindlichen Kaiserin, ihr Dasein bemesse sich nicht nach Dauer, sondern nach ?Namen. Sie muss immer wieder von einem Menschenwesen einen neuen Namen erhalten, sonst stirbt sie - die verkörperte Phantasie (vgl. S. 68*). Insofern hat Phantásien auch keine Geschichte, die sich chronologisch, fein säuberlich nach Datum und Ort geordnet, erzählen ließe.
Wie soll man sich nun in solch einem Reich zurechtfinden? Wir Menschen leben in beiden Welten: in der äußeren Welt, die Michael Ende die »Außenwelt« nannte, und in der Welt der Träume und Wünsche, aber auch der Ängste und Albträume: »Phantásien«. Vieles ist dort anders als in der Welt der Menschen.
In Phantásien wird nämlich nicht unterschieden zwischen ?Gut und Böse: Alle Wesen sind gleich wichtig. Führt man sich Endes poetisches Konzept vor Augen, wird verständlich, warum das so ist: ?Kunst ist wie ein ?Traum. Sie belehrt nicht, sondern stellt dar. Was wäre Shakespeares Othello ohne Jago, was Macbeth ohne die böse Lady? Träume kann man nicht moralisch werten. Die Darstellung des Bösen ist nicht böse, die des Heiligen nicht heilig.6
Die Bewohner Phantásiens sind also so unterschiedlich und bunt wie die Phantasie, aus der sie stammen. Immer wieder trifft man auch auf Gestalten, die man aus anderen ?Büchern kennt. Denn sie tummeln sich gemeinsam mit seinen eigenen Erfindungen in ?Bastians Kopf. Die Verfasser der großen Meisterwerke in Literatur, Kunst und Musik sind zu allen Zeiten eifrige Phantásienreisende gewesen.
Aber wie will man eine Welt betreten oder verlassen, die keine Grenzen hat? Für die Reise finden sich immer wieder magische Durchgänge: versteckte Türen, geheime Korridore oder unsichtbare Bahngleise . Bastian findet den Eingang beim Lesen auf dem Speicher seines Schulhauses. Dieser Eingang liegt aber nicht im Speicher selbst, der Teil der Außenwelt ist. Er liegt auch nicht im Buch. Nur durch den Prozess des Lesens selbst gelangt Bastian nach Phantásien:
»Michael Ende, der aufmerksame Empfänger schärfster Reflexionen, begibt sich auf das größte aller Abenteuer, das eines Buchspiegels, in dem die Realitäten sorgfältig aufeinander angepasst werden: Die Welt des Lesers und die des Buches vereinen sich, ohne sich gegenseitig auszulöschen, und so bilden sie eine dritte Größe ohne Namen. Es ist diese dritte Größe, die im Roman die wichtigste Rolle spielt, es ist die Geschichte dieser dritten Größe, die das Buch erzählt.«7
Der Prozess des Lesens aber ist eine ungemein persönliche, ja, intime Angelegenheit. Und so sieht Phantásien auch für jeden Reisenden anders aus. »Jede wirkliche Geschichte ist eine unendliche Geschichte [.]. Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien [.]« (S. 474).
Der Einzelne zählt, nicht das Kollektiv. Die subjektive Imagination ist der Weg nach Phantásien, es gibt also kein Patentrezept. Michael Ende hegte Misstrauen gegenüber allen Ideologien. Die Vorstellung, die Gesellschaft erzeuge das Bewusstsein, war ihm zutiefst suspekt. In keinem Punkt war er weiter von Brecht und der bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts dominierenden literature engagée entfernt als in diesem: Nur ein neues Bewusstsein, so Ende, schaffe gesellschaftliche Veränderungen. Und entsprechend kann auch Bastian nichts anfangen mit Büchern, in denen man »zu irgendwas gekriegt werden sollte« (S. 29). Denn nach Phantásien findet man mit ihnen nicht.
Das spricht einen der zentralen Punkte in Michael Endes Gedankenwelt an: Alles Wesentliche trage seinen Sinn in sich selbst - so auch die Kunst. Sie erkläre die Welt nicht, sondern stelle dar.8 Deshalb müsse sie sich auch nicht mit einer ?Botschaft rechtfertigen. Ein Künstler betrachtet »Erkenntnis-Ideen (also z. B. eine Botschaft, Anm. d. Verf.) nicht als sein Ziel, sondern als Teil seines Materials«9. »Gedankenpaläste kann man bewundern - doch Künstler sind fahrendes Volk: Haben sie eine Weltanschauung ausgeschöpft, ziehen sie weiter.10
Aber was ist Phantásien? Eine Gegenwelt, eine Projektionsfläche der Sehnsucht nach Frieden und heiler Welt? Ein Ort, an dem kleine, dicke, dumme Jungen wie Bastian Balthasar Bux plötzlich schöne, starke, mutige Helden werden? Keineswegs. Das Heldentum Bastians ist keines, das nur von schönen, guten und edlen Entscheidungen bestimmt wird. Er fällt auf die Ränke der Zauberin ?Xayíde herein, erhebt sogar das Zauberschwert gegen seinen Freund ?Atréju und entgeht nur knapp der ?Alte-Kaiser-Stadt, die bedrückend an ein Irrenhaus erinnert. In Phantásien selbst lauern tödliche Sümpfe, gleichgültige Riesenschildkröten, gefährliche Monster wie das spinnenähnliche Wesen ?Ygramul oder der ?Werwolf ?Gmork. Und im Gegensatz zur Fantasyliteratur dienen diese Wesen nicht nur dazu, vom Helden besiegt zu werden. Atréju tötet weder Ygramul, noch Gmork. Nicht sie sind die Gefahr für Phantásien, es gibt keinen Grund, sie zu beseitigen.
Die Flucht aus der Welt der Menschen in ein besseres Phantásien, die ihm im Rahmen der Eskapismus-Debatte immer wieder vorgeworfen wurde, war nicht Endes Anliegen: Denn das ?Nichts, das Phantásien bedroht, jene banale, bedeutungslose Welt, in der die Phantasie geleugnet oder als Produkt von Spinnern und Mondkälbern verlacht wird - dieses Nichts hat sein Spiegelbild in der ebenso sinnlosen und banalen Welt der Alte-Kaiser-Stadt, wo diejenigen enden, die nicht mehr aus Phantásien herausfinden. Das Nichts und die Alte-Kaiser-Stadt, Banalität und Kreativität sind ihr jeweiliges Spiegelbild. Denn aus dem Nichts erwächst zugleich der Wille zum kreativen Schaffen.
Phantásien und die Welt der Menschen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, Innen und Außen, die ohne einander nicht existieren können. Das Reich der Kindlichen Kaiserin ist kein transzendentes, sondern Teil des Diesseits. Phantasie ist eben nicht nur Gefühl, sondern ein Ganzes, das auch den Intellekt und die Sinne umfasst. Diese Interaktion beschreibt ?Karl Konrad Koreander: »Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen [.] und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund« (S. 473).
Nicht nur nach Phantásien hineinzukommen ist eine Aufgabe, sondern auch, es wieder zu verlassen. Denn die eigentliche Bewegkraft in Phantásien ist der Wille. ?»Tu, was du willst« steht auf der Rückseite...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.