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Wie endete das Ende der Geschichte, und warum begann die Geschichte nicht von neuem? Was bedeutet das überhaupt: Die Geschichte endet? Da die Zeit unumkehrbar ist, wie kann die Geschichte enden?
In unserer heutigen Zeit geht die Ausformung der politischen und sozialen Geschichte in eine kohärente Erzählstruktur - die einen Anfang, eine Mitte und vor allem ein Ende haben könnte - auf das Ende des Kalten Krieges zurück. 1989 behauptete Francis Fukuyama, ein beamteter Akademiker und Politikwissenschaftler des US-Sicherheitsstaates, dass der Sieg des Westens im Kalten Krieg nicht nur den Endpunkt einer bestimmten Periode der internationalen Geschichte darstellen würde, sondern auch das Ende der Erzählung selbst. Fukuyamas seltsame und verblüffende These - wiederum von der Philosophie des deutschen Idealismus inspiriert, wie sie von G. W. F. Hegel entwickelt wurde, der sie im Anschluss an die Napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert verfasste - wurde sofort von allen Seiten in Frage gestellt, kritisiert und zurückgewiesen. Fukuyama selbst sträubte sich zuerst gegen die Kritik, verlor dann die Nerven und zog sich schließlich als Reaktion auf die zahlreichen intellektuellen Angriffe, denen er ausgesetzt war, von bestimmten Aspekten seiner Argumentation zurück.
Fukuyama relativierte seine These im Gefolge der katastrophalen Invasion im Irak zu Beginn des 21. Jahrhunderts und modifizierte sie dann weiter als Reaktion auf das britische Votum für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) im Jahr 2016 und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im selben Jahr. Selbst als die Geschichte eine dramatische neue Wendung zu nehmen schien, war niemand - nicht einmal Fukuyama selbst - bereit, die Behauptung aufrechtzuerhalten, dass die Geschichte erkennbare und sinnvolle Muster aufwies, die dem Fluss der Ereignisse eine zugrunde liegende Form geben - trotz der eindeutigen Beweise, durch die Fukuyamas These immer wieder bestätigt wurde.
Was bedeutete es also, dass die Geschichte mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Auflösung der UdSSR 1991 endete? Als Fukuyama 1989 in seinem Artikel in der Zeitschrift The National Interest erklärte, die Geschichte sei zu Ende, war dies mehr als eine Verherrlichung des gottgewollten amerikanischen Sieges über die UdSSR in einem jahrzehntelangen Kampf.21 Vielmehr wollte Fukuyama damit zum Ausdruck bringen, dass es im Kalten Krieg um weit mehr ging als um ein Gleichgewicht der Kräfte, diplomatische Strategien, konkurrierende Bündnissysteme oder wer die meisten Atomraketen und Panzer besaß. Indem er das Ende der Geschichte ausrief, meinte Fukuyama, der Kalte Krieg sei letztlich das, was er zu sein schien: ein Kampf zwischen konkurrierenden ideologischen Systemen darüber, welche Mittel zur Organisation der menschlichen Gesellschaft in der Zukunft angewendet werden sollten. Mit anderen Worten: Die konkurrierenden Ideologien des Kalten Krieges waren nicht nur eine Tarnung für die Interessen der Staatsmacht, sondern standen im Mittelpunkt des Konflikts selbst. Wenn wir Fukuyamas These ernst nehmen, würde das bedeuten, dass hinter der Heuchelei, der Bösartigkeit und den gebrochenen Versprechen der »freien Welt« und den noch mehr gescheiterten Hoffnungen, die der Sowjetkommunismus verkörperte, ein echter Kampf um die beste Art und Weise zur Organisation der Gesellschaft stand.
Wie bereits angedeutet, war Fukuyamas Idee nicht seine eigene - er übernahm sie von dem europäischen Planer und französisch-russischen emigrierten Philosophen Alexandre Kojève, der sie wiederum von Hegels postnapoleonischer politischer Philosophie abgekupfert hatte. Wie übertrug nun Fukuyama eine These aus dem Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts auf das Europa der Nachkriegszeit und anschließend auf die Welt nach dem Kalten Krieg? Fukuyamas hegelianische Schnörkel wurden weithin als Besiegelung des amerikanischen Sieges, als Rechtfertigung der amerikanischen Regierung und des amerikanischen Systems und letztlich als Rechtfertigung des amerikanischen Imperiums selbst angesehen - und verliehen den amerikanischen Demokratisierungsbemühungen eine historische Unvermeidlichkeit und Endgültigkeit. Diese These stellte eindeutig und unerschütterlich fest, der Sieg der USA im Kalten Krieg habe die grundlegenden Fragen der menschlichen Regierung gelöst.
Der Kalte Krieg war immer ein globaler Konflikt gewesen. Das bedeutete, dass praktisch jedes Land, jede politische Partei, jede Regierung und jede Rebellengruppe - egal wie unbedeutend und welcher ideologischen Richtung sie angehörte - sich entscheiden musste, wie sie sich zu dem amerikanisch-sowjetischen Konflikt verhielt, und sei es auch nur, um sich aus ihm herauszuhalten. Auf diese Weise trugen sie alle dazu bei, den Kalten Krieg zu verfestigen und zu globalisieren.22 Wer waren deine Verbündeten und Feinde? Wer sollte dich mit Waffen versorgen - Washington, Moskau oder Peking? Wie würde dein soziales und wirtschaftliches Programm aussehen, sobald du an der Macht kamst? Wer würde dich bei den Vereinten Nationen und in der Weltdiplomatie unterstützen? Wer würde deine wirtschaftliche Entwicklung finanzieren? Mit wem würdest du Handel treiben? Dies waren grundlegende politische Fragen, die in einer von starkem Wettbewerb geprägten Welt entschieden werden mussten.
In dem von Fukuyama entwickelten Geschichtsverständnis ging es also nicht nur um geopolitischen oder gar parteipolitischen Wettbewerb, sondern um einen Wettbewerb um grundlegende Prinzipien der Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Was etwa das nukleare Wettrüsten weltgeschichtlich machte, war nicht nur die ungeheure Zerstörungskraft oder die damit verbundene geopolitische Rivalität, sondern dass es der bewaffnete Ausdruck eines Wettstreits um die beste Idee zur Organisation des menschlichen Lebens war.
Um diesen Begriff der Geschichte geht es in diesen Debatten, um Geschichte als einen Prozess der Institutionalisierung verschiedener Arten kollektiven Lebens, die auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Mitteln organisiert werden, um die menschliche Teilhabe in die Gesellschaften einzubetten. Damit verbunden war die Vorstellung, dass universelle Muster der Herausbildung einer Ordnung im historischen Prozess erkennbar und sinnvoll sind, auch wenn sie unabhängig vom Willen eines bestimmten Akteurs entstehen. Für Fukuyama erschöpften sich diese partizipatorischen Strukturen und die Anerkennung der individuellen Bedürfnisse in der westlichen liberalen Demokratie. Und wenn er behauptete, die USA hätten letztlich gewonnen, bedeutete das nicht einfach, einen Pol im bipolaren Wettbewerb der Ära des Kalten Krieges zu rechtfertigen, sondern darauf hinzuweisen, dass der amerikanische Sieg von globaler Tragweite und in historischer Hinsicht episch war - seine Auswirkungen würden überall zu spüren sein, und er würde rückwirkend das Verständnis der Abfolge der Ereignisse, die zur Auflösung der UdSSR 1991 führten, verändern. Wenn man davon ausgeht, dass diese Fragen geklärt sind und dass die Formel für die menschliche Regierung im Kern des internationalen Systems gelöst ist, dann hat dies zwangsläufig überall Konsequenzen für die Regierungsstrukturen und die kollektive Entscheidungsfindung.
Fukuyamas grandiose und kühne Thesen zogen eine Menge Zorn auf sich, der größtenteils auf Missverständnissen beruhte. Die Leute interpretierten Fukuyama falsch, als ob er behauptet hätte, die Uhren seien stehen geblieben oder es würde nie wieder etwas passieren, oder sogar, er würde die USA gegenüber anderen westlichen Ländern bevorzugen. Fukuyamas Behauptung war grundlegender: nicht, dass es keine Neuerungen mehr geben würde - künstliche Intelligenz, neue Städte, Genmanipulation -, sondern vielmehr, dass es keine grundlegenden Verbesserungen oder Änderungen an den großen Entwürfen der Politik und der sozialen Struktur geben werde. Fukuyamas eigene Sympathien gelten eher der Sozialdemokratie als der freien Marktwirtschaft - der dänische Wohlfahrtskapitalismus fasziniert ihn mehr als der US-amerikanische23 -, aber das ändert nichts an der Gültigkeit seiner grundlegenden Behauptung. Es mag zwar Unterschiede bei den Steuersätzen und der Höhe der öffentlichen Ausgaben zwischen Dänemark und den USA geben, ganz zu schweigen von allen möglichen unterschiedlichen Institutionen und Praktiken, aber die grundlegenden Strukturen sind im Wesentlichen dieselben: liberale Demokratie und liberaler Marktkapitalismus.
Fukuyama ging in einem Buch, das er einige Jahre später zum selben Thema veröffentlichte, über die große und überhebliche Geste seiner ursprünglichen These hinaus.24 In einer gemäßigteren Art und Weise machte er deutlich, dass das Ende der Geschichte entnervend und nicht belebend ausfallen würde. Ohne den großen Wettbewerb um politische Prinzipien, so Fukuyama, würden sich privatisierter Konsum, Hedonismus und sogar Nihilismus als vorherrschende Stimmungen durchsetzen. Alle vermeintlichen Anfechtungen der These vom Ende der Geschichte - z. B. die neuen Ideologien in einer Welt nach dem Kalten Krieg wie der islamistische Dschihadismus und der Ökologismus - bestätigten Fukuyamas zentrale Behauptung. Die Ausbreitung dieser Ideologien nach dem Ende des amerikanisch-sowjetischen Konflikts war nur Beispiel für verschiedene...
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