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Die Stimme war höflich, der Ton gemäßigt. Der Akzent klang nach jemandem, der nicht aus Appalachia stammte. Der Anruf ging an einem Morgen Anfang April 2017 ein, als die roten und weißen Knospen der Bergmammutbäume und des Blütenhartriegels allmählich um Pikeville, Kentucky, ein Fenster zum Frühling öffneten.
Das Telefon hatte im Büro des Stadtdirektors von Pikeville, Donovan Blackburn, geklingelt. »Meine Assistentin steckte den Kopf zu meiner Bürotür herein und fragte mich, was wir mit einer Anfrage machen sollten, eine Demonstration auf unserer Hauptstraße zu genehmigen. Der Name war Matthew Heimbach.« Blackburn, ein großer, schlanker Mann um die vierzig mit wachen blauen Augen, grau-blondem Haar und unerschütterlichen Manieren, erzählte mir später: »Also googelten wir Heimbach und stellten fest, dass er ein Neonazi war.« Donovan sagt häufig »wir«, wenn er von seinem wachsenden Team spricht, das später weithin für seine Belastbarkeit im Umgang mit allem, was passierte, gelobt wurde.
»Wo immer Heimbach auftaucht, hinterlässt er eine Spur der Gewalt«, erzählte Donovan. Tatsächlich hatte der Mann mit der höflichen Stimme erst neun Monate zuvor eine Demonstration weißer Nationalisten in Sacramento, Kalifornien, mit angeführt, bei der Menschen geschlagen, getreten und herumgestoßen und zehn mit Stichwunden ins Krankenhaus eingeliefert worden waren.1
Pikeville kauert am Fuß eines Berges in Kentuckys 5. Kongresswahlbezirk (KY-5), dem zweitärmsten der 435 Wahlbezirke und dem mit dem höchsten weißen Bevölkerungsanteil.2 Einst war der Ort das Zentrum eines florierenden Kohlereviers. »Wir haben dafür gesorgt, dass im ganzen Land das Licht brannte!«, hörte ich. »Wir haben den Brennstoff für den Zweiten Weltkrieg geliefert!« Tatsächlich waren früher viele Züge zischend und kreischend auf einer Bahntrasse mitten durch die Stadt gefahren und hatten das in den umliegenden Bergen abgebaute schwarze Gold in die offenen Schlünde des industriellen Amerika transportiert. Aber mittlerweile war die Kohleindustrie im Niedergang, Drogen hatten Einzug gehalten und die Region hatte zu kämpfen. »Die Leute kennen hier eigentlich keine schweren Zeiten«, erklärte mir jemand, »oder sie geben uns die Schuld daran«. In den letzten Jahren gehörte Pike County, dessen Wählerschaft früher für Demokraten wie Roosevelt, Kennedy und Bill Clinton gestimmt hatte, zu einem der fünf Wahlbezirke der USA, die am schnellsten zu den Republikanern gewechselt hatten.3
An vielen Orten in den USA war es zu Protesten weißer Nationalisten gekommen. In den drei Monaten vor jenem Anruf 2017 hatten solche Gruppen in Seattle, Washington und Lake Oswego, Oregon, demonstriert.4 In Minneapolis erschoss ein weißer Mann fünf Demonstranten der Black-Lives-Matter-Bewegung.5 In Harrison, Arkansas, veranstaltete die Knights Party, eine Vereinigung weißer Suprematisten, eine Kundgebung unter dem Motto: Love Your Heritage.6 In Berkeley, Kalifornien, kam es zu Zusammenstößen zwischen Anhängern des schillernden Alt-Right-Redners Milo Yiannopoulos und tausend Gegendemonstrantinnen.7 In Kalifornien ist es verboten, ohne entsprechende Genehmigung Schusswaffen in der Öffentlichkeit zu tragen, aber die staatliche Universität konnte Einwohnern, die nicht dort studierten, nicht den Zugang zum Campus untersagen und so zeigten Videoaufnahmen maskierte, schwarz gekleidete Demonstranten, die Fensterscheiben einwarfen, Brände legten und Schäden in Höhe von 800000 US-Dollar anrichteten.8
Registrierte das Southern Poverty Law Center im Jahr 2000 noch 599 Hassgruppen, so war deren Zahl zur Zeit von Heimbachs Anruf 2017 auf 954 gestiegen.9 Elf von ihnen hatten ihre Zentrale in Kentucky.10 Extremistische Medien wie Alt-Right TV, White Pride Radio und White Resistance News waren ebenfalls auf dem Vormarsch, berichteten über ihre Veranstaltungen und suchten Anhänger.
Unterdessen hatte sich Pike County wie nahezu alle 120 Countys Kentuckys zu einem Schutzgebiet für den zweiten Verfassungszusatz erklärt, in dem einschränkende Waffengesetze nicht galten.11 Heimbachs weiße Nationalisten und ihre Gegner durften also, sofern sie über 21 Jahre alt waren, bei Demonstrationen ohne weitere Hintergrundüberprüfungen oder Genehmigung unverhohlen geladene Schusswaffen tragen, auch Sturmgewehre ohne Beschränkung der Magazingröße.12 Als »Stand-your-ground«-Bundesstaat erlaubt Kentucky es Waffenbesitzerinnen zudem, zur Selbstverteidigung oder mutmaßlichen Verteidigung anderer zurückzuschießen.13 Seit 2010 ist die Zahl der durch Schusswaffengebrauch Getöteten in Kentucky gestiegen.14
Donovan Blackburn erklärte mir: »Ich glaube nicht an weißen Nationalismus. Ich bin hier in der Nähe in Greasy Creek aufgewachsen. Meine Vorfahren haben schon hier gelebt. Meine Familie lebt jetzt noch hier. Ich bin hier zur Schule gegangen. Meine Leute glauben an das Recht, zu leben, an den zweiten Verfassungszusatz und an menschlichen Anstand. Wenn jemand in deine Gemeinde kommt, begegnest du ihm mit Liebe, Würde und Respekt. Wir haben Minderheiten - Schwarze, Juden, Muslime - und sie verdienen es, sich genauso sicher zu fühlen wie alle anderen. Wir tun, was wir können, sie zu schützen. Aber wir sind ein freies Land. Wir achten die Meinungsfreiheit. Wir sind hier gute Menschen.«
Als ich nach Pikeville fuhr, war ich erfüllt von wachsender Sorge über die zunehmende politische Spaltung im Land und brachte großes Interesse an einem unbekannten Ort sowie eine gewisse Vorstellung von den Emotionen in der Politik mit, die meiner Ansicht nach den sich zusammenbrauenden Sturm erhellen konnte. In meinem letzten Buch, Fremd in ihrem Land, hatte ich mich an die Bayous und in die Umgebung der petrochemischen Industrieanlagen im Süden Louisianas begeben und mir Zeit genommen, Menschen auf der konservativen Seite jener Kluft kennenzulernen. Dort war ich auf eine halb vergrabene Geschichte - eine »Tiefengeschichte« - gestoßen und hatte festgestellt, dass viele das Gefühl hatten, Schlange zu stehen und darauf zu warten, dass sie dem amerikanischen Traum näher rückten. In dieser Schlange herrschte jedoch Stillstand, weil sich - nach ihrem Eindruck - Frauen, Afroamerikaner, Einwanderer und Geflüchtete »vordrängelten«. Um dieser wahrgenommenen Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten, wandten sich die Leute in der Schlange rechten politischen Kräften zu.
Damals ahnte ich nicht, dass die Wut auf »die andere Seite« kontinuierlich zu Hass und Gerede über »Rache« eskalieren würde.15 Ein Geschäftsmann aus dem Pike County und glühender Trump-Anhänger sagte voraus: »Bei der Wahl 2024 wird es Gewalt geben. Wir waren schon früher polarisiert, aber jetzt haben wir aufgehört, miteinander zu reden. Es ist wie 1861. Wir treiben auf einen Bürgerkrieg zu.« In ihrer Forschung zu Preppern - Amerikanern und Amerikanerinnen, die für eine eventuelle Katastrophe vorsorgen - stellte Kirstin Krusell fest, dass das Interesse an solchen Vorbereitungen jeweils nach den letzten Präsidentschaftswahlen anstieg, und zwar sowohl, als Barack Obama 2008 gewann, als auch nach Donald Trumps Sieg 2016.16 Ich wollte die Wut zurückverfolgen zu den Erfahrungen und Umständen, die sie schürten.
Eine Vorstellung hatte die amerikanische Rechte mit Macht erfasst und spaltete die Nation:17 die Vorstellung, die Wahlen 2020 seien »gestohlen« worden. Sechzig Prozent aller Amerikanerinnen und Amerikaner - und neunzig Prozent der Demokraten und 23 Prozent der Republikaner - glaubten, die Wahl sei fair gewonnen worden. Aber Trump erklärte sie für »gestohlen« und versprach Vergeltung.18
Ich wollte mein Augenmerk vom tiefen Süden nach Appalachia mit Schwerpunkt Ostkentucky verlagern.19 Jede Region hat ihre eigene politische Tradition, Geschichte, Wirtschaft und Folklore. Für Louisiana war es die der großen Plantagen; für Appalachia war es die der isolierten Siedlungen in einer zerklüfteten Berglandschaft. Dieser jeweilige Hintergrund sorgte dafür, dass diese »elektrisierende« Vorstellung etwas anders aufgenommen wurde.20
Louisiana war schon lange republikanisch - offenbar ein stabiles Zentrum der Rechten. Kentucky war gemäßigter, aber in letzter Zeit nach rechts gerückt. Laut einer Analyse des Cook Political Report von 2023 war der Kongresswahlbezirk KY-5 1996 beinahe genau in der politischen Mitte der USA angesiedelt, wobei 235 als liberaler und 200 als konservativer eingestuft wurden.21 Aber bis 2023 hatte er sich im Vergleich zu allen anderen der 435 Kongresswahlbezirke zum zweitkonservativsten entwickelt. Zusammen mit dem 2. Kongresswahlbezirk Oklahomas gewann Donald Trump dort sowohl 2016 als auch 2020 »mit einem Vorsprung, der zu den fünf größten auf lokaler Ebene...
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