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Neun Wochen später, an einem kühlen Tag Mitte März, ratterte Franzi in ihrem vollgepackten alten Passat Kombi, der auf den Namen Leopold hörte, gen Norden. Sie ließ Nürnberg ohne Wehmut hinter sich. Wirklich wohlgefühlt hatte sie sich dort nie; sie war einfach keine Stadtpflanze. Natürlich tat es ihr leid, dass sie ihre Freunde nun nicht mehr spontan sehen konnte, aber alle hatten versprochen, sie bald zu besuchen. Die Aussicht, Urlaub an der Nordsee zu machen, war für Süddeutsche unwiderstehlich.
Franzi trödelte, mied die Autobahnen und ließ sich stattdessen über Landstraßen durch das aus dem Winterschlaf erwachende Deutschland treiben. Sie hatte es nicht eilig, und Janis und Jim hatten auch nichts gegen das Autofahren einzuwenden. Unbeeindruckt vom Gerumpel, schliefen sie selig mit unters Gefieder gesteckten Köpfen. Franzi warf einen Blick zur Rückbank, wo die Entenkiste eingezwängt zwischen Koffern und Taschen stand. Ob sie ahnten, dass es nach Hause ging?
Irgendwo in der Nähe von Kassel stieg sie in einem hübschen Landgasthof ab, in dem auch Janis und Jim willkommen waren. Nach einem üppigen Abendbrot fiel sie ins Bett und schlief sofort ein. Schon um sieben Uhr am nächsten Morgen war sie wieder unterwegs und erreichte Westersum gegen Mittag. Am Anfang der Mühlenstraße, in der ihr neues Haus lag, fand sie einen Parkplatz. Janis und Jim wurden unruhig. Franzi ließ sie aus dem Wagen. Die Enten schüttelten sich, sahen sich um, und noch bevor Franzi das Auto abgeschlossen hatte, watschelten sie zielstrebig die Straße hinunter. Franzi hatte ihre liebe Mühe, die beiden einzuholen; kaum nahm sie ihre Umgebung wahr. Laut quakend strebten Janis und Jim nach ein paar Minuten auf ein eher kleines Haus zu. Sie flatterten aufgeregt mit den Flügeln und postierten sich schließlich vor der geschlossenen Ladentür.
Franzi blieb in der Mitte der Straße stehen, unfähig, sich zu rühren. Fassungslos starrte sie auf das Haus. Das sollte es sein? Sie blinzelte. Hatten die Enten sich geirrt? Aber nein, da war das Ladenschild, verblasst und kaum leserlich baumelte das bemalte Holzbrett an einem schmiedeeisernen Galgen: Gerlindes Wunderkiste.
Eine Wunderkiste war es tatsächlich. Eine charmante und ziemlich heruntergekommene Wunderkiste. Die Farbe blätterte von den ehemals weiß gestrichenen Fächern des Fachwerks ab, und auch die eigentlich hübschen Sprossenfenster benötigten dringend einen Anstrich. In der Vorderfront befanden sich zwei Türen; eine führte vermutlich in den Laden, die andere, an der ein vertrockneter Blumenkranz hing, in die Wohnung.
Kahle Clematiszweige umrankten das Gebäude. Und bewahrten es damit wahrscheinlich vorm Einsturz, dachte Franzi mit sinkendem Herzen, während sie das an einigen Stellen bemooste Dach betrachtete. Sie verstand nichts von Reetdächern, hatte aber die Befürchtung, dass Moos zwar malerisch, dem Haus aber nicht zuträglich war. Dafür besaß es eine halbrunde, von einem Reetpelz beschützte Dachgaube, die ihr zuzuzwinkern schien. Bevor Franzi wusste, was sie tat, hatte sie schon die Hand gehoben und zu dem Fenster hochgewinkt. Eine Erinnerung schoss durch ihren Kopf; dort oben hatte sie schon mal gestanden, in einer hübschen, blau und weiß gekachelten Küche mit altmodischen Möbeln und Armaturen. Ob die Küche noch immer so aussah?
Seufzend ging sie die letzten Schritte auf das Haus zu und ließ sich auf der Bank nieder, die zwischen den beiden Türen stand und prompt ein gequältes Knarzen von sich gab. Franzi musste erst ihren Mut sammeln, bevor sie das Haus betrat. Neugierig inspizierte sie die Nachbarschaft.
Die Mühlenstraße lag am Rande der Altstadt und wirkte ein wenig vernachlässigt. Die Häuser entlang der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße bildeten kein einheitliches Bild, sondern bestanden aus einem Sammelsurium von unterschiedlichen Stilen. Gerlindes Haus gehörte zu den ältesten; Franzi konnte von ihrem Platz aus nur noch zwei weitere Fachwerkhäuser erspähen, eines davon in ähnlich schlechtem Zustand wie die Wunderkiste. Einige Häuser waren aus dem für Ostfriesland typischen roten Backstein erbaut, wieder andere stammten aus den 1960ern oder 1970ern, mit hässlichen Verkleidungen und großen Ladenfenstern, die selbst aus der Entfernung talentlos dekoriert wirkten. Die Mühlenstraße war definitiv nicht der Prachtboulevard von Westersum, auch wenn sich in fast jedem Haus ein Geschäft befand.
Franzi erhob sich. Einen gewissen Charme besaß die Straße trotzdem. Es musste ja nicht immer alles auf Hochglanz poliert sein. Ihr Blick blieb an einem riesigen SUV hängen, der schräg gegenüber parkte. Die Autos störten allerdings kolossal, verdeckten sogar die Schaufenster. Alle Geschäfte waren geschlossen, die Straße war menschenleer, dafür zog der Geruch von Sonntagsbraten durch die Luft. Westersum war also nicht evakuiert worden. Am morgigen Montag würde es hier bestimmt ganz anders aussehen, dachte sie hoffnungsfroh.
Im nächsten Moment zog eine Bewegung Franzis Aufmerksamkeit auf sich. Aus einer Seitengasse tauchte eine bunt gefleckte Katze auf und witterte aufmerksam in alle Richtungen. Dann hob sie den Kopf, ihre Ohren zuckten, ehe sie sich in Bewegung setzte und direkt auf Janis und Jim zusprintete. Franzi stieß einen Schreckensruf aus. Die Katze schaute irritiert auf, rannte aber trotzdem weiter. Mit einem Satz stürzte sie sich auf die Enten. Franzi machte eine hektische Bewegung, bereit, Janis und Jim zu verteidigen, dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie traute ihren Augen nicht: Laut quakend begrüßten ihre Schützlinge die Katze, die ihrerseits ihre Nase am Gefieder der Vögel rieb. Alle drei waren offensichtlich ziemlich aus dem Häuschen über das unerwartete Wiedersehen.
Leise in sich hineinlachend, überließ Franzi die Tiere ihrer Freude und schlenderte hinüber zum Herrenausstatter Hinrichsen. Ein kurzer Blick in das bisher von dem Monster-SUV verdeckte Schaufenster belehrte sie, dass man in Westersum für modische Experimente nicht zu haben war. Dann drehte sie sich um und nahm die Häuserzeile auf ihrer Seite in Augenschein.
Links von Gerlindes Wunderkiste befand sich ein Fachwerkhaus, nicht unähnlich ihrem eigenen, aber in einem wesentlich besseren Zustand, das einen Friseursalon namens Haarige Zeiten beherbergte. Die beiden Häuser lagen etwa drei Meter von der Straße zurückgesetzt, die Flächen vor den Häusern waren mit alten Kopfsteinen gepflastert. Zur Rechten stand ein kombiniertes Laden- und Wohnhaus aus den Fünfzigern. Allerdings schien der Miederwarenladen, auf den die verblichenen Buchstabenschatten an der Hauswand hinwiesen, wohl schon vor vielen Jahren aufgegeben worden zu sein; das Schaufenster gähnte leer und dunkel. Franzi schauderte. Plötzlich hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, und tatsächlich wurde einen Augenblick später im oberen Stock eine Gardine zugezogen. Sie lachte unsicher, um die Beklemmung loszuwerden. Daran war nun wirklich nichts Ungewöhnliches. Ihre neuen Nachbarn hatten zufällig gesehen, wie sie das Haus anstarrte, und ihrerseits zurückgestarrt. Trotzdem, das Haus gefiel ihr ganz und gar nicht.
Während sie noch hinübersah, stahl sich ein Sonnenstrahl durch die wattige Wolkendecke und tauchte die Mühlenstraße in goldenes Licht. Es gelang der Sonne zwar nicht, das ehemalige Miederwarengeschäft schöner zu machen, aber die düstere Atmosphäre war schlagartig verschwunden. Gerlindes Wunderkiste und Haarige Zeiten wirkten sogar heimelig und einladend. Jetzt bemerkte sie auch, dass der Friseur als Einziger seinen Laden herausgeputzt hatte. Seine Kunstfertigkeit mit der Schere bewies er mit zwei Buchsbäumen, die in die Form von springenden Fischen geschnitten waren und, in großen Kübeln stehend, den Eingang flankierten. Das Ladenschild war ähnlich wie das der Wunderkiste handgemalt, und über dem Eingang baumelte ein bezauberndes Mobile aus Treibholz, geschnitzten Holzfischen, Strandgut und Muscheln. Franzi schüttelte unwillkürlich ihre Locken. Ihr siebter Sinn sagte ihr, dass man jemandem, der so viel Sinn für Schönes hatte, auch seine Haare anvertrauen durfte. Der Friseursalon zeigte ihr außerdem, wie viel Potenzial in ihrem eigenen Haus steckte. Sie musste nur die Ärmel hochkrempeln.
Beschwingt überquerte sie erneut die Straße. Die Enten blickten ihr erwartungsvoll entgegen und watschelten, kaum stand die Haustür eine Handbreit auf, ins Innere. Die Katze folgte wie der Blitz. Nun habe ich schon drei Mitbewohner, dachte Franzi. Ob noch mehr Überraschungen warteten? Ein Pferd im Flur? Eine Kuh im Schlafzimmer? Sie stieß die Haustür weit auf und trat in die dämmrige Diele. Rechts befand sich eine Tür, wahrscheinlich der direkte Zugang zum Laden, am Ende eine steile Treppe. Gerade noch erhaschte sie einen Blick auf den Katzenschwanz auf dem oberen Treppenabsatz. Janis und Jim schnatterten aufgeregt. Sie suchte den Lichtschalter, fand ihn nicht und tastete sich vorsichtig ins obere Stockwerk. Dort schloss sie die Tür auf und betrat die Wohnung im Kielwasser der Tiere, die zielstrebig in den Raum gleich rechts vom Eingang abbogen. Franzi spähte hinein. Natürlich, es handelte sich um die Küche.
Es hatte sich nichts verändert - oder zumindest nur so wenig, dass sie es nicht wahrnahm. Noch immer zierten wunderschöne Kacheln mit handgemalten blau-weißen Friesland-Motiven die Wände, das Mobiliar wirkte abgenutzt, aber handfest. Eine altmodische Küchenanrichte, der lediglich ein wenig Farbe fehlte, nahm die rechte Wand ein, während an der gegenüberliegenden Seite ein Herd und eine Spüle...
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