Schweitzer Fachinformationen
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Anna
Das ist das letzte Mal, dass ich von vorne anfange.
Zumindest rede ich mir das ein. Ich meine es jedes Mal ernst. Aber dann, jedes Mal, passiert irgendetwas - ich mache einen Fehler, ich weiß, dass ich es besser kann, oder ich höre in meinem Kopf, was die Leute sagen werden.
Also stoppe ich und fange wieder von vorne an, um es diesmal richtig hinzubekommen. Und diesmal ist es wirklich das letzte Mal.
Nur ist es das nicht.
Ich habe die letzten sechs Monate damit verbracht, immer wieder dieselben Takte durchzuspielen, wie ein Nashorn im Tierpark, das endlos hin und her läuft. Diese Noten ergeben nicht einmal mehr einen Sinn für mich. Aber ich versuche es weiter. Bis mir die Finger wehtun und mein Rücken schmerzt und mein Handgelenk bei jedem Streichen des Bogens über die Saiten pocht. Ich ignoriere es und gebe der Musik alles, was ich habe. Erst als der Alarm sich meldet, nehme ich meine Violine vom Kinn.
Mir schwirrt der Kopf, und ich bin vor Durst völlig ausgetrocknet. Ich muss meine Erinnerung fürs Mittagessen ausgeschaltet und deshalb das Essen vergessen haben. Das kommt viel öfter vor, als ich zugeben will. Wenn die zigtausend Alarme auf meinem Handy nicht wären, hätte ich mich womöglich aus Versehen schon umgebracht. Respekt vor dem Leben ist der Grund, warum ich keine Topfpflanzen habe. Allerdings habe ich ein Haustier. Es ist ein Stein. Sein Name ist - sehr kreativ - Stein.
Die Benachrichtigung auf meinem Handy lautet THERAPIE, und ich verziehe das Gesicht, als ich den Alarm abstelle. Manche Leute gehen gern zur Therapie. Sie gibt ihnen Bestätigung und ein Ventil. Für mich ist sie anstrengende Arbeit. Es macht die Sache auch nicht besser, dass ich glaube, meine Therapeutin kann mich insgeheim nicht leiden.
Trotzdem schleppe ich mich ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Mich allein durchzuwursteln hat nicht funktioniert, also bin ich fest entschlossen, es mit dieser Therapie zu versuchen. Wenn meine Eltern davon wüssten, wären sie empört über die Geldverschwendung, aber ich bin verzweifelt, und sie können nicht um ausgegebene Dollars trauern, von denen sie nichts wissen. Ich ziehe den Pyjama aus, den ich immer noch trage, und schlüpfe in Sportklamotten, in denen ich nicht vorhabe, Sport zu machen. Aus irgendeinem Grund sind die in der Öffentlichkeit akzeptabler als mein Pyjama, obwohl sie freizügiger sind. Ich hinterfrage nicht, warum die Leute etwas tun. Ich beobachte nur und kopiere. So kommt man in dieser Welt zurecht.
Draußen riecht die Luft nach Autoabgasen und Essen aus Restaurants, und überall sind Leute unterwegs, fahren Rad, gehen shoppen, genehmigen sich in den Cafés ein spätes Mittagessen. Ich gehe durch die steilen Straßen und schlängle mich zwischen den Fußgängern hindurch, dabei frage ich mich, ob irgendjemand von diesen Leuten heute Abend ins Konzert geht. Sie spielen Vivaldi, meinen Lieblingskomponisten. Ohne mich.
Ich habe mich freistellen lassen, weil ich nicht auftreten kann, wenn ich beim Spielen ständig in Dauerschleifen feststecke. Das habe ich meiner Familie nicht erzählt, weil ich weiß, dass sie es nicht verstehen würden. Sie würden mir sagen, ich solle mich nicht so anstellen und mich zusammenreißen. Bei uns löst man Probleme mit liebevoller Härte.
Aber hart zu mir zu sein funktioniert nicht. Ich kann mich nicht noch mehr anstrengen, als ich es schon tue.
Als ich das bescheidene kleine Gebäude erreiche, in dem neben meiner Therapeutin auch noch andere Ärzte ihre Praxen haben, tippe ich den Code 222 ein, öffne die Tür und gehe durch das muffige Treppenhaus hoch in den ersten Stock. Es gibt keine Rezeption oder ein Wartezimmer, deshalb gehe ich direkt zu Zimmer 2A. Ich hebe die Faust zur Tür, zögere jedoch, bevor ich klopfe. Ein rascher Blick auf mein Handy zeigt, es ist 13:58 Uhr. Ja, ich bin zwei Minuten zu früh dran.
Unsicher, was ich tun soll, trete ich von einem Fuß auf den andern. Jeder weiß, dass Zuspätkommen nicht gut ist, aber zu früh ist auch nicht toll. Einmal, als ich zu früh zu einer Party gekommen bin, habe ich den Gastgeber buchstäblich mit heruntergelassener Hose erwischt. Und dem Gesicht seiner Freundin in seinem Schritt. Das war für keinen von uns lustig.
Natürlich ist die beste Zeit, irgendwo anzukommen, genau pünktlich.
Also stehe ich hier, von Unentschlossenheit geplagt. Soll ich klopfen, oder soll ich warten? Was, wenn ich zu früh klopfe und ihr irgendwie Unannehmlichkeiten mache und sie sich über mich ärgert? Andererseits, wenn ich warte und sie aufsteht, um zum Beispiel zum Klo zu gehen, erwischt sie mich, wie ich hier draußen gruselig grinsend vor ihrer Tür stehe. Ich habe nicht genug Informationen, aber ich versuche, mir vorzustellen, was sie denken wird, und mein Handeln entsprechend abzustimmen. Ich möchte die «korrekte» Entscheidung treffen.
Immer wieder sehe ich auf mein Handy, und als das Display 14:00 Uhr anzeigt, atme ich erleichtert aus und klopfe. Dreimal kräftig, als wäre ich entschlossen.
Meine Therapeutin öffnet die Tür und begrüßt mich mit einem Lächeln und ohne Händeschütteln. Es gibt nie ein Händeschütteln. Das hat mich anfangs verwirrt, aber jetzt, wo ich weiß, was ich zu erwarten habe, gefällt es mir.
«Es ist so schön, Sie zu sehen, Anna. Kommen Sie herein. Machen Sie es sich bequem.» Sie bedeutet mir einzutreten und zeigt dann auf die Tassen und den Wasserkocher auf dem Tresen. «Tee? Wasser?»
Ich hole mir einen Tee, weil es das zu sein scheint, was sie möchte, und stelle ihn zum Ziehen auf den Beistelltisch, bevor ich mich in die Mitte des Sofas setze, das ihrem Armsessel gegenübersteht. Ihr Name ist übrigens Jennifer Aniston. Nein, sie ist nicht die Jennifer Aniston. Ich glaube nicht, dass sie je im Fernsehen oder mit Brad Pitt zusammen war, aber sie ist groß und, wie ich finde, attraktiv. Sie ist meiner Schätzung nach Mitte fünfzig, eher dünn und trägt immer Mokassins und handgemachten Schmuck. Ihr langes Haar ist sandbraun, von Grau durchzogen, und ihre Augen . Ich kann mich nicht erinnern, welche Farbe sie haben, obwohl ich sie gerade angesehen habe. Das kommt daher, dass ich den Blick zwischen die Augen der Leute richte. Blickkontakt bringt mein Hirn so durcheinander, dass ich nicht mehr denken kann, und das ist ein praktischer Trick, um es so aussehen zu lassen, als würde ich das tun, was ich tun sollte. Wie ihre Mokassins aussehen, weiß ich genau.
«Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen», sage ich, weil ich mich dankbar verhalten soll. Die Tatsache, dass ich tatsächlich dankbar bin, tut nichts zur Sache, trotzdem ist es die Wahrheit. Um es noch zusätzlich zu betonen, lächle ich mein wärmstes Lächeln, wobei ich darauf achte, dass sich Fältchen um meine Augenwinkel bilden. Das habe ich im Spiegel oft genug geübt, um sicher zu sein, dass es richtig aussieht. Ihr Lächeln als Antwort bestätigt das.
«Natürlich», sagt sie, dabei legt sie eine Hand auf ihr Herz, um zu zeigen, wie gerührt sie ist.
Ich frage mich, ob sie genauso schauspielert wie ich. Wie viel von dem, was die Leute sagen, ist ehrlich, und wie viel ist Höflichkeit? Lebt irgendjemand wirklich sein Leben, oder lesen wir alle nur Text aus einem gewaltigen Drehbuch ab, das andere Leute geschrieben haben?
Dann geht es los mit der Zusammenfassung meiner Woche, wie es mir ging, ob ich irgendeinen Durchbruch bei meiner Arbeit hatte. Ich erkläre in neutralen Begriffen, dass sich nichts geändert hat. In dieser Woche war alles wie in der Woche zuvor, genau wie in der Woche zuvor alles wie in der Woche davor war. Meine Tage sind im Wesentlichen identisch. Ich wache auf, frühstücke Kaffee und einen halben Bagel und übe Violine, bis die verschiedenen Alarme auf meinem Handy mir sagen, dass ich aufhören soll. Eine Stunde für Tonleitern und vier für Musik. Jeden Tag. Aber ich mache keine Fortschritte. Ich komme bis zur vierten Seite dieses Stücks von Max Richter - wenn ich Glück habe - und fange wieder von vorne an. Und wieder. Und wieder. Immer und immer wieder.
Es ist eine Herausforderung für mich, mit Jennifer über diese Dinge zu sprechen, besonders ohne meine Frustration durchsickern zu lassen. Sie ist meine Therapeutin, was meiner Meinung nach bedeutet, dass sie mir helfen soll. Und das konnte sie bisher nicht, soweit ich das sagen kann. Aber ich möchte nicht, dass sie sich schlecht fühlt. Die Leute mögen mich mehr, wenn ich dafür sorge, dass sie sich gut fühlen. Also schätze ich ständig Jennifers Reaktion ein und wähle meine Worte so, dass sie ihr gefallen.
Als der glanzlose Bericht meiner vergangenen Woche ein tiefes Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht entstehen lässt, gerate ich in Panik und sage: «Ich glaube, ich bin kurz davor, mich besser zu fühlen.» Das ist glatt gelogen, aber für einen guten Zweck, denn ihre Miene hellt sich augenblicklich auf.
«Freut mich, das zu hören», sagt Jennifer.
Ich lächle sie an, fühle mich aber ein wenig mulmig dabei. Ich lüge nicht gern. Aber ich tue es andauernd. Die harmlosen kleinen Notlügen, die dafür sorgen, dass Leute sich gut fühlen. Sie sind essenziell, um in der Gesellschaft zurechtzukommen.
«Können Sie versuchen, zur Mitte des Stücks zu springen, mit dem Sie Probleme haben?», fragt...
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